Pronominale Neurosen
Das Fundament ist
gelegt. Ich muss funktionieren. Der materielle Modus meiner Existenz widerlegt mein kontraproduktives Sträuben gegen
den Wahnsinn der Sozietät. Ich lese französische Philosophie, um drei Formen
von Freiheit zu begreifen und verifiziere gerade die komplizierteste durch praktisches
Handeln. Seit der Pragmatismus zur subjektiv gesehen freundlichsten Ausführung
des Selbsterhaltungstriebs in der Ersten Welt aufstieg, sanken Religion und
Transzendenz. Es hat zum Beispiel keinen praktischen Wert, mit abgeschnittenen
Köpfen sudanesischer Kleinkinder Basketball zu spielen. Andernfalls lohnt sich
Enthauptung.
Und Stella sitzt,
während ich im Bett liege und über das Universum nachdenke, in einer bläulichen
Bistrosituation herum (nimm endlich deine rosa schielende Muschi aus meinem
Blick!) und schwadroniert bei alkoholischer Beliebigkeit über den unheilbaren
Sozialstaat, wobei sie sich an der intellektuellen Geilheit meiner Worte mehr
berauscht als den Gedanken.
Symbolisch sage ich in diesem Augenblick dem
Pragmatismus adieu und spiele mit Basketballköpfen. Ich schaue meinem Denken
zu, wie es sich verbiegt in meinen schläfrigen Intentionen und ich erhöhe die
Berliner Mauer mit Butterpaketen um fünf Zentimeter, weil ich eine Bühne für Sarah Kanes Psychose 4.48 will. Aber
ich bin keine soziologische Forschungsgruppe und habe keine Begründung. Ich
habe nichts, an das ich glauben kann. Ich habe nichts, an das ich nichtglauben kann.
Ich brauche Zeit
wie Sand am Meer und eine Formel, die mich erklärt.
Bald bin ich alt.
Das Gute am Altsein: Dass man Narrenfreiheit hat und nicht mehr lernen muss zu
leben. Das Schlechte ist alles andere, wirklich.
Erlösungsgelaber.
Warum nur ich die
vollkommene Schönheit des stirnlosen Himmels erschaue.
Das will ich
erzählen. Stella und ich haben uns selbst geschaffen. Wir haben gefickt und
geatmet und wissen, wie man von Luft und Liebe lebt. Wir haben alle Clichés
erfüllt, die das Leben bereit hält an den Abenden am Tanzbrunnen. Die Clichés
sind wahrer als alle diese Verfremdungsverrenkungen, die heute vom Regietheater
ins Hirn intellektueller Klimmzügler gepumpt werden. Das letzte, unsere Chronik
vollendende Cliché war die Abschiedsmail:
Dark night! – I’m lost. Klick dich jetzt raus
aus meinem Universum! ... Der Wind peitscht mein Fenster. Der Rhein schäumt
mir ins Aug. Ich will fort, sagst du, es wird Zeit, und wenn es bedeuten sollte
auf ewig, ich würde es nicht aushalten, dachte ich. Ich gehe in die Allee
hinaus, ich weine, strecke meine Arme aus... Hallo,
sagtest du, als wir uns noch täuschten, und das war eine wunderbare Stelle in
meinem Leben, die hell aufleuchtete plötzlich und alles in ein unglaublich
warmes Licht tauchte. Du lächelst, ich weiß. Das war nur so eine Phase. Ich
werd bestimmt mal erwachsen.
Aneurisma: Ich
schmeiße das Handy auf den Boden und schneide mir ein Kreuz in die Stirn. Der
Tod ist das prägnanteste Heilsversprechen, garantiert für jeden. Du musst nur
gern sterben wollen. Wir leben ja nur,
weil wir so dumm sind und Erlösung suchen. Ich mochte dich sehr. Aber ich habe
dich nicht geliebt. Ich bin allein auf der Welt und kann tanzen und alle
Ärgernisse sind irrelevant auf einmal – heute Abend treffe ich die Sternfrau.
Eine Amsel kippt
vom Baum, während ich denke: Du musst dein Chaos streicheln, um tanzende Sterne
zu gebären. Ich renne durch den Schnee, an Autos vorbei und so weiter und
Passanten mit Mützen und Schuhen und lachenden Mundwinkeln. Das Atmen tut weh
im Hals. Ich muss mich an der Mülltonne abstützen, fliege fast hin und das Ziel
wird verschwommener bei jedem Meter. Ich muss mich hinsetzen um zu überleben.
Im Kopf natürlich.
(Ulrich Bergmann)