Die schöne Polin
Erlösung
Jüngst traf ich beim Einkauf auf dem Markt meine Friseurin, eine Polin im besten
Alter, sie inspizierte mein Haupt, das war ihr Kommentar ohne Worte. Ich: „Wenn
Sie Ihren Salon wieder öffnen, dann machen Sie mir eine Dauerwelle und färben
mir die Haare blond.“ Sie: „Tja, wenn dann mein Salon noch existiert.“ - Ich:
„Ich komm zu Ihnen auch gern privat.“ – „Schau an, junger Mann“, sagte sie, „so
eitel sind Sie?“ – „Nun ja, das will ich nicht abstreiten“, sagte ich, „und ich
liebe elegante Lösungen, hier können wir doch zwei Fliegen mit einer Klappe
schlagen.“ - Sie sagte: „Sie sind mir vielleicht einer! Da denken Sie nur an
Ihren eigenen Vorteil.“ – „Weit gefehlt“, sagte ich, „der Vorteil liegt ganz bei
Ihnen!“ – „So so“, sagte sie, „Ihre Eitelkeit ist ja unschlagbar!“ – „Ich hätte
nichts dagegen“, sagte ich, „wenn Sie meine Eitelkeit noch überbieten!“ –
„Träumen Sie weiter, mein Herr!“, sagte sie, und ich dachte, sie wende sich nun
von mir ab, als sie nach einer Pause hinzufügte: „Verstehen Sie mich nicht
falsch, ich habe nichts gegen Träume.“ – „Sagen Sie das jetzt, um mich zu
trösten?“ – „Nein nein“, sagte sie, „es kommt auf Ihre Träume an.“ - Da kam ich
fast ins Stottern: „Madame, ah, meine Träume sind kühn – und oft zerreißt es
mich in solchen wilden Traumnächten.“ – „Davon kann ich Sie erlösen“, sagte sie,
die Friseurin, die Frau, die ihre höchste Schönheit gerade im Beginn ihres
Absturzes in die Jahre erreicht. Völlig verwirrt ich: „Wie meinen Sie das, Sie
reden doppeldeutig.“ - Da antwortete die Abstürzende: „Ich erlöse Sie in jedem
Fall!“ - Und mit diesen Worten winkte sie mir mit den Fingern Abschied, grinste
sanft-freundlich, drehte sich um und ging und ließ mich erlöst stehen.
Weichselflieder
Endlich öffnete der Friseursalon wieder, der wegen der
Corona-Seuche sieben lange Wochen geschlossen war, und ich sah sie wieder: die
Frau Meisterin, die schöne Polin. „Kommen Sie“, sagte sie, „setzen Sie sich auf
den Waschstuhl!“ Ich setzte mich. Sie zog die Rückenlehne fast in die
Horizontale, duschte meine Löwenmähne, gab eine leicht parfümierte Flüssigkeit
dazu – es duftete nach dem Flieder an den Ufern der Weichsel – dann griff sie
mit beiden Händen beherzt in meine wilde Haarpracht und wusch mir den Kopf. Mir
war, als würde sie nicht nur mein Haar waschen, sondern ... „Halten Sie bitte
Ihren Mund-und-Nasenschutz mit beiden Händen fest!“, befahl sie. Aber der
Fliederduft blieb stärker als die Beschränkung auf die rein profane Waschung,
und mein zarter Gedankenflug schwang sich wieder hinauf in höhere Zonen, ohne
dass die tieferen dabei unberührt blieben. „So“, sagte die Meisterin nach dem
Fönen, „wir gehen jetzt hinüber zum Frisierstuhl.“
Als die schöne Meisterin
begann, mir die Haare zu schneiden, sah ich ihre Augen im Spiegel, wieder stieg
mir der Duft der Fliederblüten zu Kopf, und ich fragte sie – mir fiel in meiner
besonderen Gestimmtheit nichts Besseres ein –, ob der Flieder an der Weichsel
blau sei oder weiß. „Junger Mann“, sagte sie, „in ganz Polen wächst nur weißer
und roter Flieder!“ Nun wusste ich: ich musste subtiler vorgehen beim nächsten
Mal, wenn sie mich in der Haardusche krault, und in mir wuchs schon eine Idee.
Kopfwäsche
Ich lag fast flach im Waschstuhl mit wachsender Erwartung. Die Polin griff in
mein Haar und kraulte es durch. „Sie waren doch erst vor drei Wochen bei mir“,
sagte sie. „Da sehen Sie“, hauchte ich durch die Corona-Maske, „was Sie mit mir
angerichtet haben.“ – „Mon Dieu“, sagte sie, „war ich so schlecht?“ – „Nein
nein, im Gegenteil.“ – „Sie scheinen mir ja ein Meister der Ironie zu sein, gut,
ich schere Ihnen Ihr Denkerhaupt gleich mal fast kahl.“
Auf dem Frisierstuhl
schaute ich ihr in die aufregend bewimperten Augen und fragte sie: „Was lesen
Sie so?“ „Kommt darauf an. Und Sie?“ „Ich lese gerade die Venus im Pelz
...“
„Was? Sie lesen Porno?“, unterbrach sie mich. „Haben Sie’s auch gelesen?“ „Nö“,
sagte sie, „nur den Film von Polanski.“ „Und?“ „Geht so.“
„Sie müssen das
Buch lesen!“, sagte ich, „die Sprache macht mit Ihnen, was sie will.“ „Umgekehrt
ist es mir lieber“, sagte sie. „Dann lesen Sie doch mal was von
Elfriede
Jelinek“, schlug ich vor. „Nein, ich lese lieber die Geschichten von Ferdinand
von Schirach. Jelineks ludistische Beliebigkeit ist mir etwas zu prätentiös.
Schirachs zerebrale Magie gibt mir mehr.“
Irgendwie ging es auch heute
wieder schief. Tant pis – Übung macht den Meister, sage ich mir, und damit meine
ich mich.
Die Tolle
Die drei Wochen bis zu meinem nächsten Besuch im Salon der schönen Polin
wurden eine lange Eiszeit, deren Ende ich entgegenfieberte. Es war, als wollte
mich die Zeit auf die Folter spannen. Täglich prüfte ich im Spiegel das Wachstum
meiner Haare – bis mir endlich die Tolle wieder über die Stirn fiel. „Ihre Haare
wachsen ja immer schneller, immer stärker“, wunderte sich die Meisterin. „Das
liegt an Ihrer Zauberkraft“, sagte ich, „you put a spell on me.“ – „Ich tu, was
ich kann.“ – „Seit Sie mir das Haar schneiden, wächst es immer wilder, immer
schneller und stärker.“ – „Dann kommen Sie ja bald schon in zwei Wochen wieder
zu mir“, sagte sie. – „Ich hätte nichts dagegen“, sagte ich, „wenn sich die
Zeitabstände noch weiter verkürzen.“ – „Nicht dass Sie noch wie Samson enden“,
sagte sie und ging mit der elektrischen Schere über meine Augenbrauen ... Ich
streckte beide Arme hoch: „Seien Sie vorsichtig ... geblendet haben sie mich ja
schon längst.“ – Ich hatte Glück, ein biblisches Ende blieb mir erspart. Und ich
gewann die Gewissheit, meinem eigentlichen Ziel nicht einen Schritt näher
gekommen zu sein.
(Ulrich Bergmann)