Natascha
Die Nachricht stand auf der Titelseite der Zeitung und war über Mutter und
Tochter, deren Leichen drei Monate lang im Haus gelegen hatten, ohne dass
Verwandte, Freunde oder Nachbarn sie vermissten. Es tat mir Leid, aber
vielleicht hätte ich dieser Nachricht nicht soviel Aufmerksamkeit geschenkt,
wenn sie nichts mit Elmshorn zu tun gehabt hätte, wo wir einige Jahre unseres
Lebens verbracht hatten.
Elmshorn ist eine kleine Stadt in
Norddeutschland, in der sozusagen die ganze Welt beisammen ist. Im Norden
befindet sich der Nordpol und im Süden der Südpol. Das ist nicht alles. Ein
Stadtteil trägt sogar den Namen Sibirien. Aber wir ahnten davon nichts, als wir
dort ein Haus erwerben wollten. Noch wussten wir, dass wir so schnell von dieser
Stadt genug haben werden. Uns hatte lediglich der Umstand dorthin gebracht, dass
wir in der näheren Umgebung von Hamburg kein besseres und vor allen Dingen kein
günstigeres Haus erwerben konnten. Einen Hauskauf in Hamburg, wo wir seit
einiger Zeit wohnten, konnten wir uns damals gar nicht vorstellen. Die
Häuserpreise waren für uns einfach unerschwinglich. Ich hatte gerade eine Stelle
angetreten und wir besaßen nicht genügend Eigenkapital, um einen Kredit für den
Kauf eines Hauses bekommen zu können. Wir wohnten in einer kleinen Wohnung in
einem achtstöckigen Haus, die für uns beide ausreichte. Uns ging es gut. Die
Nachbarn waren nett, aber man begegnete sich wie Fremde, deren Kommunikation
über „Guten Tag“ und „Guten Abend“ nicht hinaus reichte. Wenn wir allerdings in
Urlaub fuhren, gaben wir die Wohnungsschlüssel an Nachbarn, damit sie während
unserer Abwesenheit die Pflanzen auf dem Balkon und im Wohnzimmer begießen
konnten. Noch wichtiger war aber, dass jemand täglich den Postkasten leerte;
wenn sich nämlich Post ansammelt und aus dem Postkasten herausschaut, wissen
Diebe Bescheid, dass die Wohnungsinhaber nicht anwesend sind.
Obwohl es
mir nicht behagte, in einem achtstöckigen Haus zu wohnen, in dem ich mich wie in
einen Käfig eingesperrt fühlte, war es eigentlich Uta, der die Enge der Wohnung
sehr zusetzte. Sie wollte seit jeher ein eigenes Haus mit einem Grundstück
besitzen, wo sie Gartenarbeit machen könnte. Das sah man sogar auf den von ihr
gezeichneten Bildern aus der Schulzeit, die sie sorgsam aufbewahrt hatte. Fast
auf allen Bildern stand ein Haus inmitten eines Gartens mit Blumenbeeten und
Rabatten an den Rändern des Grundstücks. Das Haus, das wir dann in Elmshorn
kauften, sah zwar nicht ganz so aus wie auf Utas Bildern, hatte aber einen
kleinen Garten mit einem Kirschbaum und diversen Blumenbeeten.
Die
Wohnkolonie bestand aus Reihenhäusern in jeweils Zehnerketten. Unser Haus lag
ganz hinten, so dass wir an den Nachbarhäusern vorbeigehen mussten. Es war wohl
ein Zufall, dass wir am Besichtigungstag niemandem begegneten. Sogar nachdem
wir das Haus gekauft hatten, wussten wir über die Nachbarn fast nichts. Am
ersten Wochenende stellten wir enttäuscht fest, dass unsere Anrainer fast nur
aus alten Leuten bestanden. Jedenfalls waren sie erheblich älter als wir. Kinder
sahen wir nicht. Waren wir vielleicht in einer Rentnerkolonie gelandet? Die
bewohner schienen allesamt Arbeiter und Handwerker zu sein. Akademiker außer uns
hatten sich nicht dorthin verirrt.
Als ich am zweiten oder dritten Tag
von der Arbeit nach Hause kam, begrüßte mich Uta mit der Nachricht, dass in
unserer Reihe ein fünf- oder sechsjähriges Mädchen wohnt, mit dem sie gesprochen
hatte. Uta wollte früh am Morgen zum Einkaufen gehen und sah die Kleine vor
einer Haustür sitzen. Uta grüßte sie und fragte nach ihrem Namen. Sie hieß
Natascha und wollte sogleich wissen, ob wir neu hinzugezogen sind. Einige Male
hatte sie uns vorbeigehen sehen. Dann fragte sie: „Wie heißt Dein Mann und aus
welchem Land kommt er?“ Als Uta ihr meinen Namen nannte, erwiderte sie: „Es ist
ein schöner Name“ und in bezug auf Pakistan sagte sie: „Ich werde das Land
ausfindig machen.“ Uta wunderte sich und fragte: „Du gehst doch noch nicht zur
Schule?“ Natascha antwortete: „Ich habe einen Atlas mit Landkarten von allen
Staaten der Erde, auf denen ich mit meinem Zeigefinger spazierengehe.“
Eines Tages sahen wir Natascha zusammen mit einer alten Dame - wohl
ihrer Großmutter - an der Bushaltestelle. Natascha begrüßte Uta und sagte:
„Willst du mich nicht mit Munir bekannt machen? Pakistan habe ich im Atlas
gefunden. Es liegt westlich von Indien. Im Norden befindet sich das Himalaja
Gebirge, wo ganzjährig Schnee und Eis liegen. Pakistans Flüsse kommen von dort.
Der längste Fluss ist der Indus“.
„Du bist ja ein gescheites Mädchen.
Kannst Du lesen oder hilft Dir jemand dabei?“
Natascha antwortete: „Pakistan
habe ich allein gefunden. Meine Mutter unterrichtet mich und ich kann bereits so
dicke Bücher lesen.“ Sie spreizte die Finger, um die Dicke der Bücher zu
deutlich zu machen. Dann wies sie auf die alte Dame hin und sagte: „Das ist
meine Oma, die für mich die Bücher auswählt und sie aus dem Schrank holt.“
Die Großmutter blickte mit entschuldigenden Augen zu uns und erklärte:
„Meine Enkelin spricht einfach fremde Leute auf der Straße an und belästigt sie.
Bitte nehmen sie es nicht übel. Sie kann ganz wenig lesen. Den ganzen Tag
streitet sie mit ihrer Mutter und möchte zur Schule geschickt werden. Sonst,
sagt sie, würde sie von zu Haus weglaufen.“
„Geht Natascha nicht zum
Kindergarten?“, fragte Uta.
Aber bevor eine Antwort gegeben werden
konnte, kam der Bus und Großmutter und Enkelin verschwanden im hinteren Teil des
Wagens. Wir bekamen Sitzplätze direkt hinter dem Fahrer.
Danach sahen
wir Natascha tagelang nicht. Ich hatte vom Institut Urlaub genommen. Uta und ich
wollten die Hauswände tapezieren. Leider waren wir ungeübt und vergeudeten daher
viel Zeit. So verging der ganze Urlaub mit Tapezier- und Malerarbeiten. Eine
Urlaubsreise konnten wir nicht unternehmen, obwohl wir bis dahin jährlich drei
bis vier Wochen in irgendeinem südeuropäischen Land zu verbringen pflegten.
Eines Tages klingelte Natascha an unserer Haustür. Uta machte auf und
Natascha fragte sogleich, ob sie mit ihr zum Spielplatz gehen würde. Die Oma war
mit irgendetwas beschäftigt und die Mutter war krank. Natascha durfte aber nicht
allein zum Spielplatz gehen. Darum hatte Oma ihr gesagt, sie möge bei Uta
nachfragen. Sie hätte nichts dagegen, wenn diese mit ihr gehen würde. Ich war
der Meinung, dass Uta sie begleiten sollte. Mit der Arbeit, sagte ich, würde ich
allein fertig werden.
Nach zwei oder drei Stunden kam Uta zurück. Sie
sagte: „Diese Natascha ist einfach verrückt. Jedes Kleinkind, das sich in ihre
Nähe wagte, wurde von ihr abgeknutscht. Die Kinder bekamen Angst und weinten
bitterlich. Sie ließ aber nicht locker und tröstete sie wie ein altes
Mütterlein. Natascha verstand einfach nicht, dass ihre Liebkosungen den Kindern
nicht gefielen.“
Dazu meinte ich: “Sie ist ein Einzelkind und verbringt
die ganze Zeit nur mit der Mutter und Oma. Vermutlich eifert sie ihnen nach.“
Uta antwortete: „ Sie singt den Kindern Wiegenlieder vor und tröstet
sie, als ob sie Babys wären und sie als Mami für sie alles machen kann. Ein
Mädchen fiel von der Schaukel und zog sich eine winzig kleine Verletzung am Arm
zu. Natascha lief sofort zu ihr und sagte, nachdem sie wie eine ausgebildete
Krankenschwester die Wunde inspiziert hatte: ‚Es ist ein harmloser Kratzer. Zur
Aufregung gibt es keinen Grund.‘ Dann holte sie aus ihrer Tasche ein Pflaster
und klebte es an den Arm des Mädchens.“
Auf dem Weg erzählte sie, dass
ihre Mutter von Beruf Ärztin sei und früher im Krankenhaus gearbeitet hatte.
Jetzt kann sie wegen ihrer Krankheit nicht arbeiten. Uta fragte nach ihrem
Vater, seinem Beruf und danach, wo er wohnt. Darauf antwortete Natascha nicht.
Vielleicht durfte sie sich dazu nicht äußern. Es war ja auch möglich, dass ihre
Mutter geschieden war. Uta hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass Natascha
die Tochter einer alleinerziehenden Mutter sein könnte. Allerdings gab es
damals nicht viele ledige Mütter. Gegenwärtig ist sehr verbreitet, dass viele
Kinder außerhalb der Ehe geboren werden. Und die wenigen Paare, die noch
heiraten, tun dies oft nach der Geburt der Kinder.
Wir hatten Nataschas
Mutter nicht gesehen. Die Fenster ihres Hauses blieben ständig verschlossen. Im
Garten stand der Rasen kniehoch. Die Nachbargärten waren sehr gepflegt, so sehr,
als ob alle Grashalme mit einer Nagelschere geschnitten worden wären. Nur der
Rasen von Nataschas Garten war mit Wildwuchs bedeckt. Uta meinte, vielleicht
hätten sie keinen Rasenmäher. Sie wollte Nataschas Großmutter vorschlagen, dass
sie, wenn sie wollte, unseren Rasenmäher ausleihen könnte. Aber ich war dagegen.
Es war ja möglich, dass die Großmutter unser Angebot als Kritik gegen sich
auffassen könnte. Ohnehin war der Rasen so hoch, dass man eine Sense gebraucht
hätte. Ein Rasenmäher hätte nichts ausrichten können.
Natascha hatte Uta
erzählt, dass ihre Mutter das Haus nur nachts in der Dunkelheit verlässt.
Tagsüber bleibt sie im Haus bei geschlossenen Fenstern und Türen und zugezogenen
Vorhängen. Großmutter besorgt die Küche und kauft für die Familie auf dem Markt
ein. Natascha hilft ihr dabei und macht sich auch in der Küche nützlich. Uta
glaubte das nicht und war der Meinung, dass statt zu helfen, sie der Großmutter
nur im Weg stehen dürfte.
Die Küchen der Häuser in unserer Reihe waren
sehr klein. Aber in manchen Küchen hatte man einen kleinen Tisch an die Wand
gestellt, an dem man die Bewohner des Hauses beim Essen sehen konnte. Unser
Esstisch stand im Wohnzimmer. Auch ich wollte in der Küche einen Klapptisch
installieren und zwei Stühle dazu stellen, um zu vermeiden, dass morgens in der
Eile das Frühstück aus der Küche und später das Geschirr zurück in die Küche
gebracht werden musste. Klapptische gab es damals in Deutschland nicht zu
kaufen, weshalb ich selbst einen solchen Tisch erfinden musste, worauf ich dann
sehr stolz war. So kam es, dass auch wir anfingen, in der Küche zu frühstücken.
Eines Tages kam Natascha zu uns und Uta wollte ihr Eiscreme spendieren.
So machte sie zwei Schalen fertig und stellte sie auf den Klapptisch in der
Küche zu den beiden Stühlen. Aber Natascha wollte Eiscreme nicht in der Küche
essen und sagte, vornehme Leute würden dies nicht tun. Und das war noch nicht
alles. Natascha kannte alle erdenklichen Etiketten des Essens, Trinkens, Gehens,
Sitzens und überhaupt. Oma hatte ihr die Regeln der eigenen Kindheit
beigebracht. Natascha schien daher nicht aus unserer Zeit zu stammen, sondern
wirkte wie eine Greisin, die aus dem neunzehnten Jahrhundert übriggeblieben war.
Oma war auf Natascha sehr stolz und lobte sie wegen ihres Verstandes.
Uta war der Meinung, man sollte Natascha in einen Kindergarten schicken, damit
sie mit anderen Kindern zusammen spielt und lernt, wie man Konflikte
untereinander beilegen kann. Aber Oma wollte davon nichts wissen. Mehr als um
Natascha war sie um die Zukunft ihrer Tochter besorgt. Da sie mit uns darüber
nicht offen reden wollte, konnten wir ihr keine Ratschläge geben. Wir wunderten
uns nur, dass wir bereits über ein Jahr dort lebten, während dessen uns Natascha
regelmäßig und Oma hin und wieder besuchten, wir aber Nataschas Mutter kein
einziges Mal zu Gesicht bekommen hatten. Uta hegte sogar den Verdacht, dass
Nataschas Mutter überhaupt nicht existiert und dass Oma und Natascha uns
Theater vorspielten.
Oma kam eines Abends zu uns und fragte, nachdem sie
über dieses und jenes gesprochen hatte, ob sie am nächsten Tag Natascha für
einige Stunden bei Uta lassen dürfte. Uta war zu der Zeit mit ihrer Dissertation
beschäftigt und arbeitete meistens zu Hause. Oma sagte, Natascha wird Papier und
Buntstifte mitbringen und die ganze Zeit mit Bildermalen verbringen. Ich
fürchtete, dass Uta damit Zeit verlieren würde. Aber Uta wollte Oma helfen und
willigte ein, Natascha zu beaufsichtigen.
Als ich dann abends vom
Institut nach Hause kam, war Natascha bereits gegangen. Uta erzählte mir, was
tagsüber alles vorgefallen war. Sie hatte durch Natascha erfahren, dass an dem
Tag ein Behördenvertreter zu ihnen kommen sollte und ihre Mutter nicht wollte,
dass er Natascha zu Hause antrifft. Natascha wusste nicht, was der Beamte bei
ihnen zu tun hatte.
Oma löste das Geheimnis nach einigen Tagen selbst
auf. Der Behördenvertreter war gekommen, weil sie Natascha nicht zur Schule
schickten. In Deutschland gilt Schulpflicht und die Behörde achtet darauf, dass
alle Kinder zur Schule gehen. Oma meinte, dass ihre Enkelin anderen Kindern
gegenüber weit überlegen war. Deshalb befürchtete sie, dass Natascha, wenn sie
zur Schule gehen muss, sich den ganzen Tag langweilen würde. Uta entgegnete. sie
sollte unbedingt zur Schule gehen und wenn sie mehr Kenntnisse hat als die
anderen Kinder, könnte sie ja in die zweite oder dritte Klasse eingeschult
werden. Es stellte sich heraus, dass Nataschas Mutter ihre Tochter selbst zu
Hause unterrichten und sie um keinen Preis zur Schule schicken wollte.
Einige Monate später musste ich wegen einer Krankheit einen örtlichen
Arzt konsultieren. Er las auf dem Krankenschein meine Adresse und wollte wissen,
ob unser Haus in der gleichen Reihe ist, wo Natascha wohnt. Während unserer
Unterhaltung kam zur Sprache, dass wir nunmehr seit zwei Jahren dort wohnten,
aber nie die Mutter von Natascha gesehen hatten. Die Fenster des Hauses blieben
immer verschlossen. Der Arzt erzählte, dass Nataschas Mutter an einer
Sonnenallergie leidet, die zur Bildung von Bläschen auf der Haut führt, die sehr
schmerzhaft sind. Daher geht sie am Tage nicht aus dem Haus.
„Ist sie
Ihre Patientin?“, fragte ich.
„Ja, man kann es so nennen, obwohl sie
sich von mir nicht mehr behandeln lässt“, antwortete der Arzt.
Einige
Tage später erwähnte ich vor Nataschas Oma meinen Besuch bei Dr. Müller. Sie
wollte wissen, warum ich zu dem Quacksalber gehe. Es war seine Behandlung, die
das Leben ihrer Tochter zur Hölle gemacht hatte. Er gab ihr viel zuviel
Penicillin, das auf ihrer Haut eine Reaktion zeigte, die sich inzwischen in eine
Sonnenallergie entwickelt hat.
„Ich habe gehört, dass Ihre Tochter
selbst Medizinerin ist. Wusste sie nicht, dass Penicillin auf ihrer Haut eine
Reaktion zeigen würde?“
„Das wusste niemand. Manchmal auch Mediziner
nicht“, sagte Oma.
„Ist diese Allergie unheilbar?“, wollte ich
wissen.
„Meine Tochter sagt, dass die Medizin dagegen bisher kein Mittel
kennt“. Oma hatte Tränen der Verzweiflung in den Augen. „Meine Tochter hat Dr.
Müller auf Entschädigung verklagt. Wir glauben, dass Dr. Müller die Behandlung
auf Geheiß des früheren Ehemannes meiner Tochter gemacht hat. Der will sich
rächen, weil meine Tochter gegen seinen Willen die Scheidung durchgesetzt hat.
Er versucht nun alles, um zu erreichen, dass die Erziehung von Natascha ihm
zugesprochen wird. Bei Gericht hat er ausgesagt, dass meine Tochter wegen ihrer
Krankheit nicht in der Lage ist, Natascha zu erziehen. Nun hat er die
Schulbehörde auf uns gehetzt, damit Natascha eingeschult wird. Und wenn dem
nicht nachgekommen wird, will das Vormundschaftsgericht Natascha uns wegnehmen
und in ein Waisenhaus stecken. Das alles ist die Machenschaft meines ehemaligen
Schwiegersohns.“
Omas Sorge war nicht unbegründet. Auf der einen Seite
drohte die Behörde und auf der anderen Seite beharrte ihre Tochter auf ihrer
Meinung. Wir erfuhren, dass diese Angelegenheit schon seit geraumer Zeit im
Gange war. Nataschas Mutter war wegen ihrer Krankheit im Haus gefangen, aber
keinesfalls bereit, sich geschlagen zu geben. Oma bat, dass wir in dieser Sache
helfen sollten. Aber uns war klar, dass wir keinen Einfluss hatten..
Wir
hatten ohnehin von Elmshorn mehr als genug. Mit der Bahn dauerte die Fahrt hin
und zurück nach Hamburg täglich mindestens drei Stunden. Und mit einem
Theaterbesuch am Abend oder anderen Unternehmungen ging noch mehr Zeit verloren.
Oft kehrten wir erst nach Mitternacht zurück. Daher hatten wir beschlossen, in
einem näher an Hamburg liegenden Dorf ein Haus zu suchen. Es war nicht leicht,
ein geeignetes Grundstück zu finden. Letztlich entschieden wir uns zugunsten des
gegenwärtigen Hauses, das wir wider Erwarten sofort bekommen konnten, nachdem
wir zuvor siebzehn Häuser besichtigt hatten. Das Haus in Elmshorn wurde binnen
zehn Tagen verkauft und wir konnten sofort umziehen..
Davon erfuhr
Nataschas Oma erst, als die Möbelpacker unsere Sachen in Umzugswagen aufluden.
Sie kam extra zu uns, um zu sagen, wie sehr sie, ihre Tochter und Natascha
unseren Weggang bedauerten. Sie hatten außer mit uns in der ganzen Kolonie
keine anderen Kontakte. Die Nachbarn redeten nicht einmal mit ihnen. Sie
ärgerten sich darüber, dass der Rasen auf ihrem Grundstück nicht gemäht wird und
dass ihre Fenster den ganzen Tag verschlossen bleiben. Niemand hatte je
versucht, zu erfahren, was der eigentliche Grund dafür war. Außerdem hatte
niemand außer uns sich für Natascha interessiert.
Wenige Tage nach
unserem Umzug ließ die Stadtverwaltung dem Gerichtsentscheid gemäß Natascha aus
der Familie herausholen und in ein Waisenhaus bringen. Mutter und Großmutter
bekamen ein Besuchsrecht, waren aber nicht befugt, in bezug auf sie irgendwelche
Entscheidungen zu treffen. Dies teilte uns Oma am Telefon mit und sagte, dass
ihre Tochter so leicht nicht kapitulieren wird. Sie wird Revision gegen das
Gerichtsurteil einlegen. Und sollte es notwendig sein, wird sie die Sache bis
zum höchsten Gericht des Landes bringen.
Danach brach unser Kontakt mit
ihnen ab. Als wir nach Jahren den Bericht über den Selbstmord von Mutter und
Tochter in der Zeitung lasen, deren Leichen drei Monate im Haus gelegen hatten,
ohne dass Verwandten, Freunden oder Nachbarn deren Verschwinden aufgefallen war,
dachte ich sofort an die Mutter und Oma von Natascha. Die Bestätigung lieferte
der Lokalreporter der Zeitung, der seinen Bericht mit Hilfe der Nachbarn
verfasst hatte, in dem aber mit keiner Silbe Natascha erwähnt wurde.
.
(von Munir D. Ahmed)