Mami Sarah



Es regnete drei Tage lang ununterbrochen. Es war, als ob die Deiche am Himmel gebrochen wären. Das halbe Dorf stand unter Wasser. Am ersten Tag krachten die Lehmhäuser zusammen, dann gaben die Dächer von halbfesten Häusern nach. Am dritten Tag brach das Dach der Moschee von Großvater. Und damit fiel Großvaters Lebenswerk buchstäblich ins Wasser. Er hatte sein Leben mit Büchersammeln, -lesen und -schreiben verbracht. Seine Bücher standen in der Moschee, und obwohl seit seinem Tode viele Jahre vergangen waren, war in seiner Moschee alles genauso wie zu seinen Lebzeiten. Sein Schreibpult stand noch immer in der Gebetsnische, deren Fenster zur Gasse allerdings verschlossen blieb. Die Bücherschränke standen entlang der Wände, und als die Dachtäger nachgaben, wurden sie ebenfalls zu Boden gerissen. Es war nicht leicht, die Bücher aus Wasser und Schlamm zu retten. Ein ganzes Bataillon von Großvaters Enkeln beteiligte sich daran. Meine Aufgabe war es, die geretteten Bücher im nicht beschädigten Teil des Hauses aufzustellen. Meine Cousins, die älter waren als ich, standen bis zu den Knien im Wasser und Schlamm und versuchten, die Dachtäger zu heben und die Bücher aus den Schränken zu bergen. Trotz aller Bemühungen konnten nur wenige Bücher gerettet werden.

Als ich die Seiten eines Buches zum Trocknen aufschlagen wollte, fiel ein Brief heraus. Es war ungeöffnet und an Tante Sarah adressiert. Ich wunderte mich, warum man ihn nicht an sie weitergeleitet hatte und weshalb er seit so vielen Jahren im Buch lag. Meine Entdeckung teilte ich niemandem mit und steckte den Brief in meine Tasche. Schließlich war er an meine Tante gerichtet, mit der meine Cousins nichts zu tun hatten.

Tante Sarah war eine liebe Person. Nach uns Kindern war sie richtig verrückt. Ihr Mann, Mutters Bruder, war ein einfacher Bauer. Es interessierte ihn außer seiner Landwirtschaft nichts. Der Haushalt und alles andere lag in Tante Sarahs Hand. Sie hatte keine Kinder, kümmerte sich aber um die beiden Buben ihres Schwagers, dessen Frau vor langer Zeit verstorben war. Somit hatte sie in ihrem Haushalt außer ihrem Mann auch ihren Schwager und dessen Jungen zu versorgen. Ihr Haus befand sich in einiger Entfernung in einem anderen Dorf. Die beiden Onkel hatten einen bescheidenen Hof mit einem Lehmhaus, dessen zwei Stuben zum Wohnen dienten; ein Zimmer wurde als Futterlager für die Tiere und ein weiteres als Stall benutzt. Auf dem Hof befand sich ein Verschlag aus Kikerzweigen, hinter dem man die Ziegen und Schafe hielt.

Wir wohnten in der Stadt, verbrachten aber die Schulferien meistens im Dorf, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit liefen wir zu Tante Sarahs Haus im benachbarten Dorf hinüber. Machmal blieben wir auch über Nacht dort, worüber sich der ältere Bruder meines Vaters ärgerte. Er konnte nicht verstehen, was uns im Haus des ungebildeten Onkels so sehr gefiel und warum wir dessen Lehmhütte unserem großen Hof mit dem Wasserbrunnen vorzogen. Wie sollte man ihm beibringen, daß uns eigentlich Tante Sarah dorthin zog?

Sicherlich mußte Tante Sarah in ihrer Jugend eine hübsche Frau gewesen sein. Als ich heranwuchs, hatte sie die Mitte des Lebens bereits überschritten. Sie hatte noch immer eine gute Figur und ein hübsches Gesicht, war aber sehr dunkel. Am Kinn und an den Wangen befanden sich Tätowierungen, die bei uns nicht üblich sind. Deshalb wollte ich den Grund für die Tätowierungen wissen.

Sie lächelte, kniff mich in die Backe und sagte, daß ich frech sei. "Warum fragst du nicht direkt heraus, ob ich eine Sikh-Frau bin?"

Mein Mund blieb offen. Ich hatte keine Ahnung, daß Tante Sarah eine Sikh-Frau war. Nun, wo sie es selber gesagt hatte, konnte man sie ja danach fragen.

"Wenn du eine Sikh-Frau bist, warum hast du Onkel geheiratet?"

"Dein Onkel gefiel mir, deshalb zog ich zu ihm".

"Haben deine Brüder dich nicht zurückhalten wollen?"

"Wenn jemand das Recht dazu gehabt hätte, dann mein erster Ehemann. Aber ich war ihm gleichgültig. Er interessierte sich nur für das Geld zum Saufen und für das Glückspiel. Er verjubelte das Haus, die Felder, und auch mich verlor er im Spiel. Gott möge es eurem Onkel vergelten, daß er mich freikaufte. Sonst wäre ich wer weiß in welchem Bordell gelandet".

"Hatte Onkel dich gekauft?"

"Nein, ganz so war das nicht. Er berührte mich nicht einmal und sagte: Radschni, du kannst gehen, wohin du möchtest. Aber zu deinem Mann solltest du nicht zurückkehren. Er ist ein schamloser Mensch. Kein anständiger Mann verliert seine Braut im Spiel. Ich erwiderte, daß ich nirgendwo hingehen, sondern mich zu seinen Füßen setzten werde".

Dies geschah in Malirkotla, wo Onkel bei der Palastgarde diente. Er war jung, gut gebaut und hochgewachsen und man sagt, daß er, wenn er seinen Turban aufsetzte, sehr imposant aussah. Die Leute blieben auf der Sraße stehen, um ihn zu bestaunen. Radschni arbeitete im Fürstenhaushalt. Den Lohn jagte ihr der Ehemann ab, und Radschni mußte ihre Kinder durch Betteleien ernähren. Ihr Sohn war in meinem Alter und die Tochter war zwei Jahre jünger.

"Vermißt du deine Kinder nicht?" wollte ich wissen.

"Ich habe aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen. Außerdem seid ihr doch auch meine Kinder".

Ich wußte, daß Tante Sarah nicht so stark war, wie sie mir gegenüber tat. Ich hatte sie in einsamen Momenten weinen gesehen und in der Nacht die Tränen herunterschlucken gehört. Als ich sie eines Tages besuchte, kam sie gerade vom Dorfbrunnen mit zwei Wasserkrügen auf dem Kopf zurück. Aus ihren Augen liefen Tränen. Ich wollte den Grund wissen. Anfänglich versuchte sie auszuweichen, mußte aber vor meiner Hartnäckigkeit nachgeben. Sie erzählte, daß sie auf der Straße einen Sikh-Jungen gesehen hatte, der genauso aussah, wie ihr Sohn. Sie wollte hinlaufen und ihn auf den Schoß nehem. Aber das hätte niemand im Dorf verstanden. Dort wußte keiner, daß Sarah aus erster Ehe zwei Kinder hatte, die bei dem ersten Mann geblieben waren. Auch wußte niemand, daß sie vor der Ehe mit dem Onkel eine Sikh-Frau gewesen war.

Zum Islam trat sie erst über, als sie auf Onkels Geheiß den Dienst im Fürstenhaushalt von Malirkotla aufgab und mit ihm zusammen in sein Dorf übersiedelte und sich von einem muslimischen Geistlichen trauen ließ. Onkel hatte ihr die Gebetsformeln beigebracht. Sie verrichtete die fünf täglichen Gebete regelmäßig. Aber die Potohari-Sprache lernte sie nie richtig. Auch konnte sie ihre Aussprache aus Malirkotla nicht ablegen. Sie redete ein Mischmasch aus Potohari und Pandschabi, der von uns Kindern nachgemacht wurde. Sie nahm uns das nicht übel, sondern lachte darüber mit uns zusammen aus vollem Herzen.

Ich weiß nicht, wie sich ihr Leben früher im Fürtenhaushalt in Malirkotla gestaltete. Im Dorf brachte ihnen die Landwirtschaft nur soviel ein, daß sie zweimal am Tage zu essen hatten. Die notwendigen Dinge des Lebens konnten sie im Tausch gegen Getreide vom Dorfladen erwerben. Der jüngere Onkel hatte etwas für den Handel übrig, seitdem er in seiner Jugend in einem Laden ausgeholfen hatte. Er verkaufte jedes Jahr auf dem Jahrmarkt das eine oder andere Kalb. Er verdiente auch ein bißchen durch den Verkauf der Ziegenwolle oder eines Opfertieres zum Id-Fest. Trotzdem litt Tante Sarah immer unter Geldmangel.

Mit der Unabhängigkeit Indiens und der Teilung des Landes 1947 änderte sich alles. Unsere Großmutter, eine Tante und Mutters jüngster Bruder lebten in einem Ort in Ost-Pandschab, wo Großvater sich in den zwanziger Jahren nidergelassen hatte. Er hatte das Dorf seiner Vorfahren, seinen Hof und die Landwirtschaft, die seine große Familie nicht ernähren konnte, einfach aufgegeben. Seither kehrte er nicht ins Dorf zurück und ließ auch die Felder nicht bebauen. Als Onkel den Dienst in Malirkotla quittierte und ins Dorf zurückkehren wollte, hatte Großvater nichts dagegen einzuwenden. Onkel richtete das Familienhaus zusammen mit Tante Sarah ein und machte mit Hilfe seines jüngeren Bruders die Felder wieder bebaubar.

Wenige Tage nach der Unabhängigkeit erhielten wir ein Telegramm mit der Nachricht, daß unsere Verwandten nach ihrer Flucht aus Ost-Pandschab in Lahore angekommen waren. Vater ging zu einem Getreidehändler aus Rawalpindi, wo wir damals lebten, und wollte von ihm einen Lastwagen mieten, um die Verwandten von Lahore ins Dorf zu bringen. Der Händler stellte sofort einen Laster bereit und sagte, daß es sein Wunsch sei, den muslimischen Aussiedlern einen Dienst zu erweisen. Deshalb wolle er nicht nur keine Miete nehmen, sondern die Fahrtkosten nach Lahore und zurück selber tragen. Am nächsten Tag fuhr Vater mit dem Laster nach Lahore. Dort stellte sich heraus, daß unsere Verwandten bereits mit der Eisenbahn abgefahren waren. Im Aussiedlerlager traf er eine ander große Familie. Diese sprach Vater an und wollte nach Rawalpindi mitgenommen werden. Somit kehrte Vater am dritten Tag mit dieser Familie zurück und besorgte ihr nach vielen Laufereien ein im Obstmarkt gelegenes Großes Haus. Die Mitglieder dieser Familie fingen bald an Obst zu verkaufen und eröffneten später mehrere Läden im Obstmarkt.

Im Dorf wurden Großmutter, Mutters Schwester und deren Mann und die Frau ihres jüngsten Bruders enthusiastisch empfangen. Großvater war vor der Teilung des Landes gestorben und Mutters jüngsten Bruder hatte die Polizei in Ost-Pandschab verhaftet und hielt ihn im Gefängnis von Ludhiana fest. Er wurde beschuldigt, zur Verteidigung der Ortschaft eine freiwillige Bürgerwehr von Muslimen aufgestellt und sie mit Waffen ausgestattet zu haben. Aus Freude über die Rückkehr der Emigrantenfamilie in die Heimat luden sie Verwandte und Freunde im Dorf zum Essen ein. Hühner wurden geschlachtet und Reisgerichte gekocht. Es gab aber vor einer Wahrheit kein Entrinnen. In Tante Sarahs Lehmhaus waren weitere acht Personen eingezogen. Und am wichtigsten war die Tatsache, daß Tante Sarah die Führungsrolle im Haus, die bisdahin unbestritten in ihrer Hand lag, verlor. Großmutter konnte zwar nicht laufen, aber ihre Zunge ging wie eine Schere. Seit dreißig Jahren hatte sie sich im Dorf nicht blicken lassen und nun kaum zurückgekehrt, übernahm sie die Führung im Haus und degradierte Tante Sarah zu einer Dienstmagd, die von morgen bis abend zu dienen hatte. Sie hatte keine Zeit mehr, auch nur zwei Worte mit uns Kindern zu wechseln oder einen Scherz zu machen. Sie stand in der Morgendämmerung vor allen anderen auf und abends fiel sie todmüde ins Bett, wenn die ganze Familie schon schlief. Trortzdem war Großmutter nicht mit ihr zufrieden. Sie mochte Tante Sarah einfach nicht.

Die Jahresvorräte an Getreide, die bis zum Frühjahr hatten ausreichen sollen, gingen im Dezember zu Ende. Großmutter gab dafür Tante Sarah die Schuld, die angeblich, zu gott weiß wem heimlich Getreide fortgeschleppt haben sollte. Ab sofort erweckte jede Bewegung von Tante Sarah Mißtrauen.

Einstmal war sie die absolute Herrin im Haus gewesen und nun fürchtete sie, einen Fuß aus dem Haus zu setzen aus Angst davor, man könnte es mißdeuten. Großmutter machte Tante Sarah Tag und Nacht schlecht. Eines Tages hörte ich sie jemandem sagen, daß, wenn diese Schwarze nicht gewesen wäre, sie den Onkel mit ihrer Nichte verheiratet hätte. Sie hatte schon alles arrangiert und die Mitgift und die Hochzeitskleider vorbereitet, als die Nachricht kam, daß Radschni von zu Hause weggelaufen war und Onkel seinen Dienst quittiert hatte. Dann hörte man, daß sie Malirkotla verlassen hätten, ins Dorf zurückgekehrt waren und dort geheiratet hatten. Ohnehin mißtraute Großmutter Tante Sarahs Bekehrung zum Islam. Wer weiß was für einen Unsinn sie beim Gebet verzapft! Sie hätte keine Ahnung von rituellen Waschungen, geschweige, daß sie die Regeln der Reinigung von Genitalien kannte.

Onkel war wie ein Ochse. Er hatte nur eines gelernt, daß alles, was die Eltern sagen, als Befehl zu gelten habe. Es war zwecklos, von ihm zu erwarten, daß er in den schwierigen Zeiten für Tante Sarah eine Stütze sein würde. Sie sagte ihm immer wieder, daß man so nicht leben könne. Aber er hörte nicht auf sie. Es war, als ob er nicht gelernt hatte, den Mund aufzumachen. Er schwieg über alle Ungerechtigkeiten gegen Tante Sarah. Schließlich verließ sie eines Tages verärgert das Haus. Sie fand bei einer anderen Familie im Dort Unterschlupf.

Großmutter konnte nun nach Herzenslust schimpfen. Sie wollte nicht, daß Onkel Tante Sarah zurückholen ging. In ein paar Tagen würde sie von selbst wie eine nasse Katze gekrochen kommen. Die fremden Leute würden sie doch nicht auf ewig bei sich sitzen haben wollen. Tante Sarah auf der anderen Seite glaubte, daß Onkel kommen würde, um sie zurückzuholen. Und sie würde ihn dann bitten, seinen Anteil am Grundbesitz zu nehmen und ein eigenes Haus zu bauen. Aber es kam nicht dazu. Eines Morgens schickte man ihr ein Scheidungsschreiben. Großmutter hatte gesagt, daß Sarah keinen Fuß ins Haus setzen werde, solange sie lebe. Und der Onkel werde entscheiden müssen, ob er die Segnungen seiner Mutter haben oder mit seiner Sikh-Frau zusammen leben wolle.

Tante Sarah kam angelaufen, fiel Onkel zu Füßen und bat ihn um Verzeihung. Aber Onkel verhielt sich wie ein Ziegenbock, den keine Macht der Erde von der Stelle bewegen konnte. Verwandte, Dorfvorsteher und andere Leute bemühten sich unzählige Male darum, den Frieden wiederherzustellen. Aber Onkel hörte auf niemanden. Wie sollte er darauf hören, wenn zu Hause Großmutter ihn Tag und Nacht unter Druck setzte, obwohl ihre Nichte längst verheiratet und inzwischen Mutter von Söhnen war und Enkelkinder hatte? Großmutter redete nur davon, daß sie für ihren Sohn eine nette Frau aus der Sippe holen wollte.

Tante Sarah habe ich seither nicht mehr gesehen. Ich hörte, daß sie einige Tage im Dorf blieb, dann stellte sie jemand in einem anderen Ort im Haushalt ein. Beim Weggang hatte sie bei unseren Verwandten einen Koffer untergestellt, von dem es heißt, daß er immer noch dort steht. Einmal kam sie ins Dorf zurück, ging aber wieder, ohne sich zu melden. Bis heute weiß ich nicht, wohin sie gegangen war und wie der Rest ihren Lebens verlief.

Kurz danach traf Mutters jüngster Bruder nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis in Pakistan ein. Da er sein ganzes Leben in der Stadt gelebt hatte, nahm er in der Stadt ein Haus und holte aus dem Dorf Großmutter, seine Frau, Kinder Tante und deren Mann dorthin. Im Dorf blieben die beiden Onkel und die Söhne des mittleren Onkels zurück. Ohne Tante Sarah war aber der Haushalt auseinandergeraten. Es gab eben keine Frau, die das Haus hätte betreuen können.

Eines Tages ging ich zum Obstmarkt von Rawalpindi. Der Händler sagte, daß er mit mir nicht um den Preis feilschen wollte, weil ich der Sohn seines Wohltäters sei. Und ob ich ihn kenne oder nicht, sagte er, er und die anderen aus seiner Familie würden mich und meine Geschwister gut kennen. Dann erzählte er, wie Vater seine Familie aus Lahore im Lastwagen nach Rawalpindi brachte und ihnen auch ein Haus zum Wohnen besorgte.

Inzwischen wurde Tee aus dem benachbarten Teestube gebracht, und er ließ mich neben sich Platz nehmen. Während der Unterhaltung erwähnte ich, daß Großmutter und die anderen Familienmitglieder, die nach der Teilung Indiens nach Pakistan gekommen waren, inzwischen von ihrem Dorf Tschanga-Bangial in eine Stadt umgezogen waren. Als mein Gastgeber den Dorfnamen hörte, horchte er auf und sagte, daß er diesen Namen von früher her kennt. Denn damals lief das Dienstmädchen Radschni aus dem Haushalt der Fürsten von Malirkotla mit einem Muslim aus eben diesen Tschanga-Bangial, der bei der Palastwache tätig war, weg. Ich spitzte meine Ohren und stellte Fragen auf Fragen nach Radschni. Mein Gastgeber kannte Radschni und Onkel gut, weil er zu jener Zeit, als die Sache ereignete, in Malirkotla ein Geschäft führte. Er bestätigte, daß Radschni früher mit einem Sikh verheiratet war, der übermäßig Alkohol tank und ein Glückspieler war. Sie hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Die Sache um Radschnis Entführung wurde damals allgemein bekannt, und fast wäre daraus ein bewaffneter Muslim-Sikh-Streit geworden.

Eigentlich hatte ein junger Mann aus der Fürstenfamilie Radschni vergewaltigt. Die Sache wurde publik, aber Radschnis Mann ließ gegen Bezahlung alles auf sich beruhen. Radschni war darüber sehr erbost und beschimpfte ihren Mann vor allen Leuten auf dem Marktplatz. Er stürzte auf sie los, um sie zu verprügeln. Aber ein Muslimangestellter aus der Palastwache kam dazwischen und versetzte Radschnis Mann einen Hieb, daß er gegen die Wand flog und sich am Kopf verletzte.

Die Sache kam vor dem Gericht, wo Radschni alles offenlegte. Sie nannte den Namen des jungen Mannes aus der Fürstenfamilie und sagte, daß er sie vergewaltigt und daß ihr Mann gegen Bezahlung alles unter den Teppich gekehrt hatte. Und wenn der muslimische Angestellte nicht zu ihrem Schutz dazwischen gekommen wäre, hätte ihr Mann sie umgebracht. Nach Radschnis Aussage wurde der Prozeß eingestellt.

Seit diesem Tag kehrte Radschni nicht mehr zum Hause zurück. Sie verließ ihre Kinder und lief mit ihrem muslimischen Beschützer aus Malirkotla weg. Später wurde in der Zeitung berichtet, daß der Mann aus Tschanga-Bangial stammte und dorthin zurückgekehrt war und Radschni mitgenommen hatte. Der Geschäftsmann blieb bis zur Teilung des Landes in Malirkotla und war bis zuletzt mit Radschnis ehemaligen Mann in Kontakt. Nach dieser Sache hatte er sich total verändert und war davon überzeugt, daß Radschni eines Tages zu ihm zurückkehren würde. Er ließ vom Geschäftsmann auch einen Brief schreiben. Aber leider kam darauf keine antwort.

Als mir einige Jahre später bei der Rettung der Bücher aus Großvaters Bibliothek ein Brief in die Hände fiel, wußte ich, daß der Geschäftsmann die Wahrheit gesagt hatte. Im Brief hatte Radschnis ehemaliger Mann sich entschuldigt und geschrieben, daß er sein Leben lang auf ihre Rückkehr warten würde. Sie könnte jeder Zeit zu ihm und zu ihren Kindern zurcükkehren.

Aber ich konnte den Brief nicht an Tante Sarah weiterleiten. Sie hatte das Dorf verlassen und niemand wußte, wo sie eine Stellung genommen hatte. Vom Brief erzählte ich Onkel auch nicht. Sein Leben war ohnehin ruieniert worden, und ich wollte seine Trauer nicht noch verschlimmern, indem ich ihn an Tante Sarah erinnerte.

In den letzten Jahren seines Lebens hatten ihn seine Augen in Stich gelassen. Die beiden Söhne seines Bruders waren in die Stadt gezogen. Im Dorf war niemand mehr, der sich um Onkel hätte kümmern können. Eines Tages fragte ich ihn, warum er sich auf Großmutters Geheiß von Tante Sarah getrennt hatte. Onkel sagte, daß man der Mutter gegenüber zum Gehorsam verpflichtet sei, weil das Paradies unter ihren Füßen liege. Meinem Munde entfuhr, daß das Paradies vielleicht im Jenseits unter den Füßen der Mutter liegt, aber die Hölle manchmal im Diesseits.
.


(vom Autor aus dem Urdu)