(...) Der
Zutritt, hörte er, sei anständigen Fremden wohl gestattet und die
Familie überdies heut ausgefahren.
Er ging und hatte bald den kurzen Weg bis zu dem offenen Gattertor
zurückgelegt, dann langsam einen hohen alten Lindengang
durchmessen, an dessen Ende linker Hand er in geringer Entfernung das
Schloß von seiner Fronte auf einmal vor sich hatte. Es war von
italienischer Bauart, hell getüncht, mit weit vorliegender Doppeltreppe;
das Schieferdach verzierten einige Statuen in üblicher Manier, Götter
und Göttinnen, samt einer Balustrade.
Von der Mitte zweier großen, noch reichlich blühenden Blumenparterre
ging unser Meister nach den buschigen Teilen der Anlagen zu, berührte
ein paar schöne dunkle Piniengruppen und lenkte seine Schritte auf
vielfach gewundenen Pfaden, indem er sich allmählich den lichteren
Partien wieder näherte, dem lebhaften Rauschen eines Springbrunnens
nach, den er sofort erreichte.
Das ansehnlich weite, ovale Bassin war rings von einer sorgfältig
gehaltenen Orangerie in Kübeln, abwechselnd mit Lorbeeren und Oleandern, umstellt; ein
weicher Sandweg, gegen den sich eine schmale Gitterlaube öffnete, lief
rund umher. Die Laube bot das angenehmste Ruheplätzchen dar; ein kleiner
Tisch stand vor der Bank, und Mozart ließ sich vorn am Eingang nieder.
Das Ohr behaglich dem Geplätscher des Wassers hingegeben, das Aug auf
einen Pomeranzenbaum von mittlerer Größe geheftet, der außerhalb der
Reihe, einzeln, ganz dicht an seiner Seite auf dem Boden stand und voll
der schönsten Früchte hing, ward unser Freund durch diese Anschauung des
Südens alsbald auf eine liebliche Erinnerung aus seiner Knabenzeit
geführt. Nachdenklich lächelnd reicht er hinüber nach der nächsten
Frucht, als wie um ihre herrliche Ründe, ihre saftige Kühle in hohler
Hand zu fühlen. Ganz im Zusammenhang mit jener Jugendszene aber, die
wieder vor ihm aufgetaucht, stand eine längst vermischte musikalische
Reminiszenz, auf deren unbestimmter Spur er sich ein Weilchen
träumerisch erging. Jetzt glänzen seine Blicke, sie irren da und dort
umher, er ist von einem Gedanken ergriffen, den er sogleich eifrig
verfolgt. Zerstreut hat er zum zweiten Mal die Pomeranze angefaßt, sie
geht vom Zweige los und bleibt ihm in der Hand. Er sieht und sieht es
nicht; ja so weit geht die künstlerische Geistesabwesenheit, daß er, die
duftige Frucht beständig unter der Nase hin und her wirbelnd und bald
den Anfang, bald die Mitte einer Weise unhörbar zwischen den Lippen
bewegend, zuletzt instinktmäßig ein emalliertes Etui aus der
Seitentasche des Rocks hervorbringt, ein kleines Messer mit silbernem
Heft daraus nimmt und die gelbe kugelige Masse von oben nach unten
langsam durchschneidet. Es mochte ihn dabei entfernt ein dunkles
Durstgefühl geleitet haben, jedoch begnügten sich die angeregten Sinne
mit Einatmung des köstlichen Geruchs. Er starrt minutenlang die beiden
innern Flächen an, fügt sie sachte wieder zusammen, ganz sachte, trennt
und vereinigt sie wieder.
Da hört er Tritte in der Nähe, er erschrickt, und das Bewußtsein, wo er
ist, was er getan, stellt sich urplötzlich bei ihm ein. Schon im
Begriff, die Pomeranze zu verbergen, hält er doch gleich damit inne, sei
es aus Stolz, sei's, weil es zu spät dazu war. Ein großer,
breitschulteriger Mann in Livree, der Gärtner des Hauses, stand vor ihm.
Derselbe hatte wohl die letzte verdächtige Bewegung noch gesehen und
schwieg betroffen einige Sekunden. Mozart, gleichfalls sprachlos, auf
seinem Sitz wie angenagelt, schaute ihm halb lachend, unter sichtbarem
Erröten, doch gewissermaßen keck und groß mit seinen blauen Augen ins
Gesicht; dann setzte - er für einen Dritten wäre es höchst komisch
anzusehn gewesen - die scheinbar unverletzte Pomeranze mit einer Art von
trotzig couragiertem Nachdruck in die Mitte des Tisches.
»Um Vergebung«, fing jetzt der Gärtner, nachdem er den wenig
versprechenden Anzug des Fremden gemustert, mit unterdrücktem Unwillen
an: »ich weiß nicht, wen ich hier...«
»Kapellmeister Mozart aus Wien.«
»Sind ohne Zweifel bekannt im Schloß?«
»Ich bin hier fremd und auf der Durchreise. Ist der Herr Graf anwesend?«
»Nein.«
»Seine Gemahlin?«
»Sind beschäftigt und schwerlich zu sprechen.«
Mozart stand auf und machte Miene zu gehen.
»Mit Erlaubnis, mein Herr - wie kommen Sie dazu, an diesem Ort auf
solche Weise zuzugreifen?«
»Was?« rief Mozart, »zugreifen? Zum Teufel, glaubt Er denn, ich wollte
stehlen und das Ding da fressen?«
»Mein Herr, ich glaube, was ich sehe. Diese Früchte sind gezählt, ich
bin dafür verantwortlich. Der Baum ist vom Herrn Grafen zu einem Fest bestimmt, soeben soll er weggebracht
werden. Ich lasse Sie nicht fort, ehbevor ich die Sache gemeldet und Sie
mir selbst bezeugten, wie das da zugegangen ist.«
»Sei's drum. Ich werde hier so lange warten. Verlaß Er sich darauf!«
Der Gärtner sah sich zögernd um, und Mozart, in der Meinung, es sei
vielleicht nur auf ein Trinkgeld abgesehn, griff in die Tasche, allein
er hatte das geringste nicht bei sich.
Zwei Gartenknechte kamen nun wirklich herbei, luden den Baum auf eine
Bahre und trugen ihn hinweg. Inzwischen hatte unser Meister seine
Brieftasche gezogen, ein weißes Blatt herausgenommen und, während daß
der Gärtner nicht von der Stelle wich, mit Bleistift angefangen zu
schreiben:
›Gnädigste Frau! Hier sitze ich Unseliger in Ihrem Paradiese, wie weiland Adam,
nachdem er den Apfel gekostet. Das Unglück ist geschehen, und ich kann
nicht einmal die Schuld auf eine gute Eva schieben, die eben jetzt, von
Grazien und Amoretten eines Himmelbetts umgaukelt, im Gasthof sich des
unschuldigsten Schlafes erfreut. Befehlen Sie, und ich stehe persönlich
Ihro Gnaden Rede über meinen mir selbst unfaßlichen Frevel. Mit
aufrichtiger Beschämung
Hochdero untertänigster Diener W. A. Mozart, auf dem Wege nach Prag.‹
Er übergab das Billett, ziemlich ungeschickt zusammengefaltet, dem
peinlich wartenden Diener mit der nötigen Weisung. Der Unhold hatte sich
nicht sobald entfernt, als man an der hinteren Seite des Schlosses ein
Gefährt in den Hof rollen hörte. Es war der Graf, der eine Nichte und
ihren Bräutigam, einen jungen, reichen Baron, vom benachbarten Gut
herüberbrachte. Da die Mutter des letztern seit Jahren das Haus nicht
mehr verließ, war die Verlobung heute bei ihr gehalten worden; nun
sollte dieses Fest in einer fröhlichen Nachfeier mit einigen Verwandten
auch hier begangen werden, wo Eugenie gleich einer eigenen Tochter seit
ihrer Kindheit eine zweite Heimat fand. Die Gräfin war mit ihrem Sohne
Max, dem Leutnant, etwas früher nach Hause gefahren, um noch
verschiedene Anordnungen zu treffen. Nun sah man in dem Schlosse alles,
auf Gängen und Treppen, in voller Bewegung, und nur mit Mühe gelang es
dem Gärtner, im Vorzimmer endlich den Zettel der Frau Gräfin
einzuhändigen, die ihn jedoch nicht auf der Stelle öffnete, sondern,
ohne genau auf die Worte des Überbringers zu achten, geschäftig
weitereilte. Er wartete und wartete, sie kam nicht wieder. Eins um das
andere von der Dienerschaft, Aufwärter, Zofe, Kammerdiener, rannte an
ihm vorbei; er fragte nach dem Herrn - der kleidete sich um; er suchte
nun und fand den Grafen Max auf seinem Zimmer, der aber unterhielt sich
angelegentlich mit dem Baron und schnitt ihm, wie in Sorge, er wolle
etwas melden oder fragen, wovon noch nichts verlauten sollte, das Wort
vom Munde ab: »Ich komme schon - geht nur!- Es stand noch eine gute
Weile an, bis endlich Vater und Sohn zugleich herauskamen und die fatale
Nachricht empfingen.
»Das wär ja höllenmäßig!« rief der dicke, gutmütige, doch etwas jähe
Mann; »das geht ja über alle Begriffe! Ein Wiener Musikus, sagt Ihr?
Vermutlich irgend solch ein Lump, der um ein Viatikum läuft und
mitnimmt, was er findet?«
»Verzeihen Euer Gnaden, darnach sieht er gerad nicht aus. Er deucht mir
nicht richtig im Kopf; auch ist er sehr hochmütig. Moser nennt er sich.
Er wartet unten auf Bescheid; ich hieß den Franz um den Weg bleiben und
ein Aug auf ihn haben.«
»Was hilft es hintendrein, zum Henker? Wenn ich den Narren
auch einstecken lasse, der Schaden ist nicht mehr zu reparieren! Ich
sagt Euch tausendmal, das vordere Tor soll allezeit geschlossen bleiben.
Der Streich wär aber jedenfalls verhütet worden, hättet Ihr zur rechten
Zeit Eure Zurüstungen gemacht.«
Hier trat die Gräfin hastig und mit freudiger Aufregung, das offene
Billett in der Hand, aus dem anstoßenden Kabinett. »Wißt ihr«, rief sie,
»wer unten ist? Um Gottes willen, lest den Brief - Mozart aus Wien, der
Komponist! Man muß gleich gehen, ihn heraufzubitten - ich fürchte nur,
er ist schon fort! Was wird er von mir denken! Ihr, Velten, seid ihm
doch höflich begegnet? Was ist denn eigentlich geschehen?«
»Geschehn?« versetzte der Gemahl, dem die Aussicht auf den Besuch eines
berühmten Mannes unmöglich allen Ärger auf der Stelle niederschlagen
konnte: »der tolle Mensch hat von dem Baum, den ich Eugenien bestimmte,
eine der neun Orangen abgerissen, hm! das Ungeheuer! Somit ist unserm Spaß geradezu
die Spitze abgebrochen, und Max mag sein Gedicht nur gleich kassieren.«
»O nicht doch!« sagte die dringende Dame. »Die Lücke läßt sich leicht
ausfüllen, überlaßt es nur mir. Geht beide jetzt, erlöst, empfangt den
guten Mann, so freundlich und so schmeichelhaft ihr immer könnt. Er
soll, wenn wir ihn irgend halten können, heut nicht weiter. Trefft ihr
ihn nicht im Garten mehr, sucht ihn im Wirtshaus auf und bringet ihn mit
seiner Frau. Ein größeres Geschenk, eine schönere Überraschung für
Eugenien hätte der Zufall uns an diesem Tag nicht machen können.«