Der betörende Gesang des Zaubervogels
Diese ostafrikanische Geschichte über die Unschuld und die Kraft von Kindern wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Benaland, Tanganjika (heute zu Tansania gehörend) von Pastor Julius Oelke von der Berliner Kirchenmission aufgezeichnet.
Eines Tages kam
ein seltsamer Vogel in ein kleines, zwischen Hügeln eingebettetes Dorf.
Von diesem Augenblick an war nichts mehr sicher. Alles, was die
Dorfbewohner auf den Feldern anpflanzten, verschwand über Nacht. Jeden
Morgen gab es weniger Schafe, Ziegen und Hühner. Selbst tagsüber,
während die Leute auf dem Land arbeiteten, kam der Riesenvogel, brach
ihre Lagerhäuser und Kornspeicher auf und stahl ihnen ihre
Wintervorräte.
Die Dorfbewohner waren am Boden zerstört. Überall herrschte Not –
allenthalben waren Klagelaute und Zähneknirschen zu hören. Niemand –
nicht einmal der tapferste Held des Dorfs – konnte des Vogels habhaft
werden. Er war einfach zu schnell für die Menschen. Kaum, dass sie ihn
einmal sahen: Sie hörten nur das Rauschen seiner mächtigen Schwingen,
wenn er sich in der Krone der uralten Steineibe unter dichtem Laubwerk
niederließ.
Der Dorfvorsteher riss sich die Haare aus vor Verzweiflung. Eines Tages,
nachdem der Vogel auch ihm das Vieh und die Wintervorräte geplündert
hatte, befahl er den älteren Männern, ihre Beile und Buschmesser zu
schärfen und geschlossen gegen den Vogel vorzugehen. „Fällt den Baum –
das ist das einzige, was hilft“, sagte er.
Mit blank gewetzten Beilen und Buschmessern bewaffnet, näherten sich die
älteren Männer dem Baum. Die ersten Schläge waren wuchtig und trafen den
Stamm tief ins Mark. Der Baum erzitterte, und aus dem dichten Laub
seiner Krone tauchte der seltsame, geheimnisvolle Vogel auf. Ein
honigsüßes Lied entströmte seiner Kehle. Es drang den Männern ins Herz
und erzählte von fabelhaften, fernen Dingen, die nie wiederkehren
würden. So betörend war der Klang, dass die Männer, einer nach dem
anderen, ihre Beile und Buschmesser fallen ließen. Sie sanken auf die
Knie und starrten mit sehnsüchtigen, wehmutsvollen Blicken hinauf zu dem
Vogel, der da in seiner ganzen farbenfrohen Pracht für sie sang.
Den Männern wurden die Hände schwach. Ihre Herzen wurden weich. Nein,
dachten sie, ein so schöner Vogel könnte nie soviel Schaden und
Zerstörung anrichten! Und als die Sonne rot im Westen unterging, wankten
sie wie Nachtwandler zurück zum Dorfvorsteher und sagten ihm, nichts,
aber auch gar nichts könne sie dazu bewegen, dem Vogel irgendein Leid
anzutun. Der Vorsteher wurde sehr ärgerlich. „Dann müssen mir eben die
jungen Männer des Stammes helfen“, sagte er. „Die jungen Burschen sollen
die Macht des Vogels brechen.“
Am nächsten Morgen nahmen die jungen Männer ihre glänzenden Beile und
Buschmesser und machten sich auf den Weg zum Baum. Die ersten Schläge
waren wieder wuchtig und trafen den Stamm tief ins Mark. Und genau wie
zuvor öffnete sich das grüne Laubdach des Baums, und der seltsame Vogel
erschien in all seiner vielfarbigen Pracht. Wieder schallte eine höchst
wundersame Weise durch die Hügel. Betört lauschten die jungen Männer dem
Lied, das ihnen von Liebe und Tapferkeit und den heldenhaften Taten
sprach, die ihrer harrten. Dieser Vogel kann nicht schlecht sein,
dachten sie. Dieser Vogel kann nicht bösartig sein. Den jungen Männern
wurden die Arme schwach, die Beile und Buschmesser entglitten ihren
Händen, und sie knieten nieder wie vor ihnen die älteren Männer, um dem
Gesang des Vogels wie in Verzückung zu lauschen.
Als die Nacht hereinbrach, taumelten sie verwirrt zum Vorsteher zurück.
In den Ohren klang ihnen noch immer der betörende Gesang des
geheimnisvollen Vogels. „Es ist unmöglich“, sagte der Anführer der
Gruppe. „Niemand vermag der Zauberkraft dieses Vogels zu widerstehen.“
Der Vorsteher war wütend. „Jetzt bleiben nur noch die Kinder“, sagte er.
„Kinder hören genau, und ihr Blick ist klar. Ich werde mit den Kindern
gegen den Vogel losziehen.“
Am nächsten Morgen gingen die Kinder des Stammes unter der Führung des
Dorfvorstehers zu dem Baum, auf dem der seltsame Vogel saß. Sobald sie
auf den Stamm einhackten, öffnete sich das Laubdach und der Vogel
erschien wie schon zuvor – in all seiner berückenden Schönheit. Doch die
Kinder schauten nicht nach oben. Ihre Blicke blieben auf die Beile und
die Buschmesser in ihren Händen gerichtet. Und sie hackten, hackten,
hackten zum Rhythmus ihrer eigenen Musik.
Der Vogel begann zu singen. Der Vorsteher hörte wohl, dass sein Gesang
von einzigartiger Schönheit war, und er merkte, wie ihm die Hände
schwach wurden. Doch die Ohren der Kinder vernahmen nichts als die
eintönigen, regelmäßigen Schläge ihrer Beile und Buschmesser. Und wie
betörend der Vogel auch singen mochte, die Kinder hackten, hackten und
hackten immer weiter.
Schließlich ächzte der Stamm und zerbarst. Der Baum stürzte zu Boden und
mit ihm fiel der seltsame, geheimnisvolle Vogel. Der Vorsteher fand den
Vogel auf dem Boden liegen, erschlagen vom Gewicht der Äste.
Von überall her kamen die Menschen herbeigeeilt. Die kampferprobten
älteren Männer und die starken jungen Männer konnten nicht glauben, was
die Kinder mit ihren dünnen Ärmchen vollbracht hatten!
An diesem Abend ließ der Dorfvorsteher ein großes Fest feiern, um die
Kinder für ihre glanzvolle Tat zu belohnen. „Ihr seid die einzigen, die
genau hören und einen klaren Blick haben“, sagte er. „Ihr seid die Augen
und Ohren unseres Stammes.“
aus "Meine
afrikanischen Lieblingsmärchen" von Nelson Mandela
Nelson Mandela hat für dieses Buch die schönsten afrikanischen
Märchen ausgewählt. Die Geschichten bezaubern durch ihre poetische
und farbenfrohe Sprache, die dem Leser die Welt Afrikas plastisch vor
Augen führt. Zahlreiche phantasievolle Farbillustrationen von
verschiedenen afrikanischen Künstlern bieten einen zusätzlichen,
besonderen Reiz.
Nelson Mandelas Lieblingsmärchen, die er aus den verschiedenen Ländern
Afrikas zusammengetragen hat, geben Einblick in eine exotische, oftmals
mythische Welt. Die Geschichten erzählen von dem fliegenden Hasen
Mmutla, von dem Jäger
Mthiyane, der in eine Schlange mit sieben Köpfen verwandelt wird, und
von dem lockenden Zaubergesang eines prächtigen Vogels, dem nur die
Kinder widerstehen können. Bei einigen Erzählungen handelt es sich um Schöpfungsmythen,
in denen man erfährt, wie der Mond entstand, weshalb die Tiere Hörner
und Schwänze bekamen und warum die Katze ein zahmes Haustier wurde.
Dieser reich illustrierte Märchenschatz spricht sowohl alte als auch
junge Leser an und lädt zu einer faszinierenden Reise durch den
afrikanischen Kontinent ein. (C. H. Beck)
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