Leseprobe aus "Gustav Mahler 'Verehrter
Herr College!'
Briefe an Komponisten, Dirigenten, Intendanten"
herausgegeben von Franz Willnauer
Einleitung
Der vorliegende Band versammelt 237 Briefe, Briefkarten, Telegramme und
offizielle Schriftstücke, die Gustav Mahler von seinem 20. Lebensjahr an
(1880)
bis kurz vor seinem Tod 1911 in beruflichen Angelegenheiten oder aus
"geschäftlichem" Anlaß geschrieben oder diktiert hat. Die hier erstmals
zusammengefaßte beruflich veranlaßte Korrespondenz Mahlers stellt eine
Auswahl
aus mehreren tausend über die halbe Welt verstreuten Schriftstücken dar,
die
Mahlers Unterschrift tragen. Von ihrem Umfang her steht Mahlers
Schreibleistung
nahezu einzigartig in der Musikgeschichte der Neuzeit da, allein Hans
von Bülow
übertrifft mit rund 30 000 Briefen Mahler noch bei weitem. Unter den
schöpferischen Musikern des 19. und 20. Jahrhunderts jedoch, die sich
aus
öffentlichen Ämtern heraus über ihr Tun und ihr Werk in Briefen geäußert
haben, nimmt Mahler eine Sonderstellung ein. Richard
Wagner als Gründer und
Leiter der Bayreuther Festspiele, Robert
Schumann als rheinischer Musikdirektor
und Herausgeber einer Musikzeitschrift, Johannes
Brahms als Konzertdirektor der
Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, Richard Strauss als Münchner und
Berliner
Hofkapellmeister: Für sie alle ist ihr kompositorisches Werk
überwiegender
Anlaß und zentraler Inhalt der Korrespondenz, die sie mit ihren
Zeitgenossen
führen. In Mahlers Briefen dagegen spiegelt sich die Dreiteilung, die
seine
gesamte Musikerexistenz kennzeichnet: Komponist, Interpret und Manager.
Die in diesem Band zusammengetragenen Briefe erstrecken sich über einen
Zeitraum von dreißig Jahren, der weltgeschichtlich etwa von der Gründung
des
Deutschen Reiches bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs reicht und
biographisch
gleichbedeutend ist mit Mahlers dreifachem Wirken als Kapellmeister und
- später berühmter
- Dirigent, als Leiter musikalischer "Großbetriebe"
(Erster Kapellmeister in Hamburg, Operndirektor in Budapest und Wien,
Chefdirigent in New York) und als Komponist. Parallel zu Mahlers eigenem
Weg
durch die Theaterprovinz bis in die Spitzenpositionen läßt sich darin
der
seines Werks von der wenig erfolgreichen Uraufführung der Ersten bis zur
triumphalen Uraufführung der Achten Symphonie verfolgen. Mit seiner
beruflichen
Korrespondenz hat Mahler ein Netz über die Musik- und Theaterlandschaft
ganz
Mitteleuropas gespannt, mit der k. u. k. Doppelmonarchie und dem
Deutschen Reich
als Mittelpunkt, aber auch ausgreifend nach England, Frankreich,
Holland,
Italien und Rußland. Beeindruckend die Vielfalt der Kontakte, die er zu
knüpfen und, wo in beruflicher Hinsicht nützlich, zu pflegen wußte,
schier
unüberschaubar die Zahl der Briefpartner, mit denen er kollegial
verkehrte und
die er darum gern mit "Verehrter Herr College!" anredete. Deshalb trägt
auch
die vorliegende Briefauswahl diesen Titel.
So wie sich Komponist, Dirigent und Theaterleiter in Mahlers
Persönlichkeit zu
einem einzigartigen "Gesamtkünstler" verschränken, so umfassen die
nicht-privaten Briefe Mahlers das ganze Spektrum von beruflichen
Kontakten aus
der Musik-, Theater- und Opernwelt. Die Auswahl konzentriert sich auf
Briefe an
Komponisten, Dirigenten, Intendanten, Agenten und - soweit sie selbst
schöpferische oder ausübende Musiker waren - Kritiker. Adressaten sind
Komponisten wie Anton
Bruckner, Antonín Dvořák, Richard Strauss, Leoš
Janáček und Arnold Schönberg, Dirigenten wie Hans von Bülow, Hans
Richter, Felix Mottl, Franz Schalk, Felix Weingartner und Bruno Walter,
Zelebritäten wie Cosima
Wagner und Ferenc Erkel, so gut wie alle bedeutenden
Opernintendanten der Zeit von Angelo Neumann bis Bernhard Pollini, von
Max
Staegemann bis Andreas Dippel, und nicht zuletzt die wichtigsten
Theateragenten
des beginnenden 20. Jahrhunderts. Großen Wert hat der Herausgeber darauf
gelegt, auch unbekannte oder heute vergessene Persönlichkeiten des
damaligen
Musiklebens einzubeziehen, mit denen Mahler - manchmal auch nur
kurzzeitig - in Verbindung stand: Komponisten wie Alfred Bruneau und
Wilhelm Kienzl,
Dirigenten wie Oscar Fried, Sylvain Dupuis, Kálmán Feld und Alfred
Hertz.
Dabei sei nicht verschwiegen, daß auch manch interessanter Brief, etwa
an
Ferdinand Löwe, Gerhard Schjelderup oder Max von Schillings, der
unumgänglichen Beschränkung des Umfangs geopfert werden mußte.
Mit der Beschränkung auf Komponisten, Dirigenten, Theaterleiter und
Agenten
verzichtet die Briefauswahl - ebenso vorsätzlich wie notgedrungen - auf
Mahlers Korrespondenz mit den Briefpartnern aus den vielen anderen
einschlägigen "Metiers" eines Theatermannes und Komponisten, also mit
Sängern und Sängerinnen, mit Instrumentalisten, mit seinen Verlegern,
mit den
Musikkritikern, die sich intensiv mit seinem Werk beschäftigten oder
gleich als
dessen Propagandisten in Erscheinung traten. Gerade die Musikkritiker
der
Mahler-Zeit waren vielfach selbst kompositorisch tätig (August Beer, Max
Marschalk, Otto Lessmann, Richard Heuberger), sodaß sich Mahler auch
hier oft
an den "Kollegen" wenden konnte und nur nebenbei den Kritiker in
Anspruch
nehmen mußte. Eine strikte Trennung in berufliche und private
Korrespondenz
läßt sich freilich im Falle Mahlers überhaupt nicht bewerkstelligen:
Vielfach
fließen in seine Berufspost persönliche Empfindungen, Bekundungen der
Freundschaft und oft privateste Bekenntnisse ein, und die privaten
Briefe
wiederum sind kaum jemals frei von beruflichen Nachrichten, Reflexen aus
seinen
öffentlichen Positionen und, vor allem, Äußerungen zum kompositorischen
Werk.
Diese Besonderheit auch bei der vorliegenden Briefauswahl zu
respektieren und
die Briefinhalte unverändert und ungekürzt zu präsentieren, war eine
Selbstverständlichkeit.
Die Zahl der von Gustav Mahler in seinem Leben geschriebenen Briefe kann
nur
geschätzt werden, da viele durch Krieg, Vertreibung und Emigration der
Briefempfänger in Privatbesitz geraten, in Bibliotheken, Archiven und
Nachlässen über die ganze Welt verstreut oder gar verloren gegangen
sind.
Insgesamt dürften es zwischen vier- und fünftausend Briefe sein, von
denen
heute gerade einmal rund die Hälfte erschlossen und publiziert ist.
Davon
entfällt wohl ein gutes Drittel auf die private Korrespondenz: mit den
Familienangehörigen, mit den Freunden und Freundinnen der Studienjahre
(später
sind nur wenige hinzugekommen), und den Frauen "vor Alma" wie Natalie
Bauer-Lechner, Anna von Mildenburg und Selma Kurz, und schließlich mit
seiner
Braut und späteren Frau Alma
Maria Schindler. Der große Rest umfaßt die
geschäftliche Korrespondenz, die sich in ihrer zahlenmäßigen wie
thematischen
Fülle jedem Ordnungsprinzip zu entziehen scheint. Erschwerend kommt
hinzu, daß
die Antwortbriefe der Briefpartner Mahlers nur in Einzelfällen und auch
da nur
zum Teil erhalten geblieben sind - so bei Cosima Wagner und Richard
Strauss,
bei den Schriftstücken, die das Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv
verwahrt.
Um die Einheitlichkeit der Briefpublikation zu gewährleisten, wurde auf
den
Abdruck von Antwortbriefen generell verzichtet, sie wurden jedoch,
sofern sie
zur Erhellung einer beruflichen Situation, eines Geschäftsvorgangs oder
einer
persönlichen Beziehung beitragen konnten, in die erläuternden
Zwischentexte
oder in die Anmerkungen eingearbeitet.
Aus der geschilderten Materialfülle eine Auswahl zu treffen, die der
Reichhaltigkeit der Ereignisse gerecht wird und dennoch Interesse und
Aufnahmefähigkeit des Lesers nicht überfordert, war kein leichtes
Unterfangen.
Ohne sich in - höchst reizvolle - Details zu verlieren, sollte sie
dennoch
einen Eindruck nicht nur von der Vielfalt der Themen vermitteln, die den
Theatermann wie den Komponisten Mahler zeitlebens beschäftigten und zu
persönlichen Stellungnahmen veranlaßten, sondern auch von der Direktheit
und
intellektuellen Schärfe, mit der er große und kleine Probleme
behandelte, von
der souveränen Verfügungsgewalt über alle Sprachmittel zwischen manchmal
geradezu devoter "Diplomatie" auf der einen Seite, bald lakonischer
Knappheit,
bald überbordender Detailfreudigkeit auf der anderen, und nicht zuletzt
von dem
strategischen Geschick, mit dem er das Netzwerk zu allen (ihm) wichtigen
Persönlichkeiten des Musiklebens spannte. Richtschnur für diese Auswahl
mußte
die Relevanz der Inhalte des Geschriebenen sein: ihre Bedeutung für
Mahlers
Berufsweg am Theater wie für das Schicksal seines kompositorischen
Werkes.
Ein solches Auswahlverfahren konnte, angesichts der Überzahl des zu
vernachlässigenden Materials, nicht ohne subjektive, anfechtbare oder
möglicherweise ungerechte Entscheidungen abgehen. So mag der
Mahler-Experte den
einen oder anderen wichtigen, jedoch schon oft veröffentlichten Brief
vermissen, während der Mahler-Neuling sich vielleicht über manche
unbedeutenden Schriftstücke zu Detailfragen wundert, die aber unser
Gesamtbild
vom Theatergenie Mahlers bereichern, in der bisherigen Mahler-Forschung
jedoch
eher unbeachtet geblieben sind. Im Zweifelsfall fiel daher die
Entscheidung
zugunsten "neuer", in der Mahler-Literatur noch nicht hinlänglich
bekannter
Vorgänge und Angelegenheiten, auch wenn sie nur eine erhellende
Ergänzung zu
Mahlers Biographie zu liefern imstande sind. Viele der amtlichen
Schriftstücke
vor allem aus der Wiener Hofopernzeit sind - wiewohl durch die großen
Mahler-Monographien Henry-Louis de La Granges (1973 bis 2008) und Kurt
Blaukopfs
(1976) auszugsweise bekannt - noch nie im vollen Wortlaut veröffentlicht
worden; sofern sich auch in der überblickbaren Fachliteratur keine
vollständige Veröffentlichung nachweisen ließ, wurden diese
Briefdokumente
mit "vermutlich Erstveröffentlichung" bezeichnet - Irrtum nicht
ausgeschlossen. Der Herausgeber bekennt sich ausdrücklich zu dieser
insgesamt
subjektiven Auswahl, die alle bisher erschienenen, auch fremdsprachigen
Briefpublikationen berücksichtigt, im wesentlichen aber erst durch die
Einsichtnahme in die Briefbestände zahlreicher Archive, Bibliotheken,
Sammlungen und aus dem Besitz von Einzelpersonen möglich gemacht wurde.
Ihnen
wird am Ende des Nachworts für ihre verständnisvolle und bereitwillige
Unterstützung gedankt.
Der vorliegende Band mit den "Kollegenbriefen" Gustav Mahlers will als
ein
Lesebuch für alle Mahler-Freunde und -Interessierten verstanden werden;
er soll
einen Einblick in das schier unüberschaubare Geflecht der beruflichen
Beziehungen und der geschäftlichen Tätigkeiten einer der
faszinierendsten
Persönlichkeiten des Musiklebens geben. Gleichzeitig aber kann er der
künftigen Mahler-Forschung als Quellenwerk dienen. Angesichts des
Fehlens
jeglicher autobiographischer Äußerungen und grundsätzlicher
kunsttheoretischer oder theaterpraktischer Aussagen Mahlers (sieht man
von den
wenigen Interviews ab, die Andreas Michalek jüngst zusammengestellt und
ausgewertet hat) kommt dieser Auswahl keine geringe Bedeutung für die
wissenschaftliche Beschäftigung mit Mahler zu. Es war darum unerläßlich,
dem
eigentlichen Briefteil den üblichen wissenschaftlichen Apparat
beizugeben. Dies
geschieht in den jedem Brief nachgestellten Anmerkungen, die jeweils die
benutzte Quelle angeben und die für die Erschließung des Briefes
erforderlichen Hinweise liefern. Über die Einzelheiten des
wissenschaftlichen
Apparats wird, ebenso wie über die Prinzipien der Briefedition
insgesamt, im
folgenden Kapitel ausführlich Rechenschaft gegeben.
Das Corpus der ausgewählten Briefe ist in drei Teile gegliedert, die von
Mahlers Berufsweg nahegelegt werden: Im Mittelpunkt stehen auch
zahlenmäßig
die Briefe aus der zehnjährigen Direktionszeit Mahlers an der Wiener
Hofoper
von 1897 bis 1907. Sie werden auf der einen Seite flankiert von den
Briefen der
vorangehenden sechzehn Jahre, die Mahlers Weg vom ersten
Theaterengagement 1880
in Bad Hall bis zum Ende seiner Tätigkeit am Hamburger Stadttheater im
Frühjahr 1897 begleiten, auf der anderen von den Briefen der letzten
Jahre 1908
bis 1911, die Mahler zwischen New York, Toblach in Südtirol und Wien
verbracht
hat. Innerhalb dieser Dreiteilung sorgt die Gliederung in einzelne
Kapitel für
eine bessere Überschaubarkeit der Korrespondenz. Zusätzlich zur
Datierung der
Briefe, die angesichts ihrer beruflichen oder geschäftlichen Anlässe
nicht so
schwierig ist wie bei den Briefen Mahlers mit privatem Inhalt und an
private
Empfänger, stellte sich die Aufgabe, diese Briefe in die ihnen
zukommenden
Berufs-, Schaffens- und Lebenszusammenhänge zu stellen. Dies geschieht
durch
Einleitungs- und Zwischentexte, die dem Leser gleichzeitig als
gliedernde
Orientierungshilfen dienen sollen. Das zahlreiche und vielfältige
"Personal"
dieser Briefe anschaulich zu machen, ohne das Buch mit Details zu
überfrachten,
war im direkten Kontext mit den Briefen nicht zu leisten. Deshalb ist am
Ende
eine Übersicht "Verzeichnis der Adressaten" angefügt, welcher der Leser
die
nötigen Informationen entnehmen kann. Biographische Angaben zu den in
den
Briefen erwähnten Personen finden sich im Anmerkungsteil zum jeweiligen
Brief,
der auch, wo es unumgänglich war, nochmals Hinweise auf den
Briefempfänger
enthält.
Ein letztes Wort soll der Auswahl gelten, die der Herausgeber getroffen
hat.
Während es für die "Wanderjahre" Mahlers galt, möglichst viele der nur
spärlich überlieferten Briefdokumente zusammenzutragen, mußte für das
Jahrzehnt seiner Wiener Tätigkeit und die an Ereignissen überreichen New
Yorker Jahre der Maßstab strengster Auslese angewendet werden, um der
Fülle
des vorhandenen Materials einigermaßen Herr zu werden. Die vorsätzliche
Beschränkung auf "signifikante" briefliche Äußerungen Mahlers mußte über
den verständlichen Wunsch siegen, die Darstellung der einzelnen
"Geschäftsfälle" so vollständig, die Beziehung zu wichtigen
Briefpartnern
so reichhaltig wie nur möglich zu dokumentieren. Verzichtet wurde
grundsätzlich auf Briefe mit belanglosen Tageserledigungen, auf
Schriftstücke
zu Routinevorgängen oder heute nicht mehr aufklärbaren Sachverhalten und
auf
Briefe ausschließlich fachmusikalischen Inhalts. In wenigen Fällen - in
Briefen an Max Marschalk, Franz Schalk, Ferdinand Löwe - hat Mahler
nämlich
detaillierte Instrumentations- und Aufführungsanweisungen für seine
Werke der
Post anvertraut, deren Kenntnis dem Leser dieses Buches keinen Gewinn
bringt,
während der Fachmann die Quellen längst kennt.
Es ist nicht auszuschließen, daß auch wichtige Briefe trotz sorgfältiger
Recherche unbekannt oder unberücksichtigt geblieben sind. Angesichts der
Fülle
der offensichtlich verlorengegangenen (oder von privaten Besitzern, so
ist zu
fürchten, zurückgehaltenen) Brieforiginale ist es sogar wahrscheinlich,
daß
zentrale Mahler-Briefe fehlen. Es sei nur daran erinnert, was Franz
Werfel schon
1921, anläßlich der (erfolglosen) Empfehlung einer ersten von Alma
Mahler
zusammengestellten Briefauswahl, an den Berliner Verleger Kurt Wolff
geschrieben
hat: "Diese Briefe (u. a. an Brahms, Bruckner, Goldmark, Gerhart
Hauptmann,
Richard Strauss, Lipiner, Charpentier, Klimt
und viele andere) geben nicht nur
ein Bild seiner Persönlichkeit, sondern auch ein Bild der Zeit vom Ende
des
vorherigen und vom Anfang dieses Jahrhunderts." Wo sind die Briefe an
Brahms,
Bruckner, Charpentier, Klimt geblieben? Der Leser dieses Briefbandes sei
aber
nicht mit dieser - wahrscheinlich nicht zu beantwortenden - Frage in die
Lektüre entlassen, sondern mit dem Wunsch, aus den hier
zusammengetragenen
Briefen nicht nur ein Bild der faszinierenden Persönlichkeit Gustav
Mahlers,
sondern auch ein Bild der ebenso faszinierenden Zeit vom Ende des 19.
und Anfang
des 20. Jahrhunderts zu empfangen.
An Unbekannt
Wien, 18. Oktober 1882
Hochverehrtes Fräulein!
Ich weiß nicht, wie ich meine
Bitte
an Sie motiviren soll, da ich doch in der That nicht mehr weiß, ob Sie
sich
meiner erinnern. Doch sind Sie in meiner Erinnerung von einem solchen
Strahlenkranze der Liebenswürdigkeit umgeben, daß ich es frisch
daraufhin
wage.
Es wurde mir mitgetheilt, daß einer Ihrer Kapellmeister von diesem
Institut
scheidet, und ich habe mich beiläufig vor 2 Wochen Ihrem Direktor, dem
H[er]rn
v. Hillmann, für diese Stelle offerirt. Ich bin jedoch bis heute ohne
die
geringste Antwort geblieben. Da ich jedoch meine Entschlüsse für die
nächste
Zeit nach dem Schicksal dieser Angelegenheit einrichten muß, so bin ich
gezwungen, jedenfalls eine dießbezügliche Entscheidung abzuwarten – und
meine Bitte geht nun an Sie, verehrtes Fräulein, mir, wenn es Ihnen
möglich
ist, einige Aufklärung in dieser Sache zu verschaffen.
Bitte, nehmen Sie mir meine Kühnheit nicht übel, und sei[e]n Sie
herzlichst gegrüßt
von Ihrem Sie verehrenden
Gustav Mahler
Meine Adresse: G. M. Mariahilferstrasse Nro. 13
3. Stock, Th. 15
Bitte, antworten Sie recht bald; es hängt viel davon ab.
Quelle: Österreichische Nationalbibliothek (künftig: ÖNB), Musiksammlung (künftig: MS), Sign.: Mus. Hs. 43.574. - Veröff.: vermutlich Erstveröffentlichung. - Datierung: original. - Verehrtes Fräulein: nicht feststellbar; vermutlich hat sich Mahler an eine Sängerin gewandt, die mit ihm in Bad Hall oder Laibach engagiert gewesen war. - Ihrem Direktor, dem Hrn. v. Hillmann: es dürfte sich um Ritter Emil Hillmann handeln, der 1882 und 1883 Direktor des Breslauer Stadt-Theaters war.
"Gustav Mahler 'Verehrter Herr College!'
Briefe an Komponisten, Dirigenten, Intendanten"
Franz Willnauer (Hrsg.)
Zsolnay, 2010. 424 Seiten.
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Als Gustav Mahler 1911 starb, hinterließ er eine äußerst umfangreiche, mehrere Tausend Briefe umfassende Korrespondenz. Unter den Adressaten finden sich die Komponisten Anton Bruckner, Antonín Dvořák, Richard Strauss, Ferruccio Busoni und Arnold Schönberg, die Dirigenten Bruno Walter, Hans von Bülow und Franz Schalk sowie die Herrin von Bayreuth, Cosima Wagner. Aus dieser Fülle hat der Mahler-Forscher Franz Willnauer eine Auswahl getroffen - darunter noch nie Veröffentlichtes -, die sich dem Berufsleben Mahlers widmet und nebenbei ein fesselndes Bild der deutschen und österreichischen Musik um die Jahrhundertwende zeichnet.