Leseprobe:
Carl war mein Pate, das heißt, er war mein Taufpate nach
katholischem Ritus, aber er war viel
mehr: Er war mein Schutzengel. Dabei kann ich nicht einmal für
mich in Anspruch nehmen, im Kernschatten seiner Flügel
gestanden zu haben; denn dieser Platz war ausschließlich
für meinen Vater
reserviert gewesen. Meine Mutter und ich, die wir uns an meinen Vater
klammerten, damit er nicht umstürzte, hatten lediglich die
Ränder des Schattens bezogen. Ob der Schutzengel das
beabsichtigte? Oder
hat er es bloß in Kauf genommen? Die Lukassers - Agnes,
Georg, Sebastian - riefen nach ihm, und er verließ sein
Institut
in Innsbruck, um sich ihr Gejammer und Geschrei, ihr Herumgedruckse,
ihre Empörungen, Ressentiments, Proteste, ihre Neid- und
Mißgunstanfälle, ihre Aggressionen und Geldsorgen,
ihren Weltschmerz und
ihre Frustrationen anzuhören. Für uns war das Leben
eine
andauernde Aufeinanderfolge von Problemen; er bot die Lösungen
an.
Durften wir darauf vertrauen, daß er sich nicht von uns
abwandte? Es
sei das Geheimnis des Charismatikers, sagt der englische
Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton sinngemäß,
daß große
Gunst zu gewähren und große Gunst vorzuenthalten aus
seinen
Händen zu ein und derselben Geste werden. Das Vertrauen, das
uns Carl
entgegenbrachte, hätten wir uns selbst niemals
entgegengebracht; es
war entweder übermenschlich oder unglaubwürdig. Im
ersten Fall
hätten wir nur enttäuschen können; im
zweiten wäre sein
Umgang mit uns nichts weiter als ein Spiel gewesen, bei dem wir, weil
wir
Figur oder Würfel oder beides waren, logischerweise nicht
nachvollziehen hätten können, was daran lustig sein
sollte.
Am Anfang unserer Familie war Carl; ihr Keim war gepflanzt in seiner
ersten Begegnung mit meinem
Vater. Als er meinen Vater zum erstenmal gesehen habe,
erzählte
Carl, sei nach wenigen Minuten in ihm beschlossen gewesen,
daß er
sich mit ihm anfreunden wollte, daß er ihm - er betonte -
"demütig" folgen und alle Schwierigkeiten beiseite
räumen
wollte, die sich
mit Sicherheit über dem Weg dieses Mannes türmen
würden.
Carl und mein Vater waren so verschieden, wie zwei Menschen nur
verschieden sein können. Sie
lernten einander in
Wien
nach dem Krieg kennen; mein Vater war vierundzwanzig, Carl
bereits vierzig.
Wer schon einmal ein Bild des amerikanischen Folksängers Woody
Guthrie gesehen hat, dem brauche ich
meinen Vater nicht zu beschreiben - klein, sehnig, zäh,
widerborstige dunkle Locken, das Gesicht hager und blaß, im
unteren
Teil grau von den unbändig nachdrängenden
Bartstoppeln, ernste
alte Augen, ernster Mund, sogar wenn er bis über die
Stockzähne
lachte, was ansteckend war, aber immer auch etwas Konspiratives,
Rattenhaftes an sich hatte. Irgendwann in den sechziger Jahren
zeigte ich ihm ein Bild von Woody Guthrie, und er glaubte
selbst, er sei es. Guthrie hatte auf dem Foto eine Gitarre im Arm -
"Was
ist das für eine Gitarre? Ich hab' doch nicht so eine
Gitarre!" -;
an der Gitarre erkannte er, daß es ein anderer war; meine
Mutter und ich
haben uns schief gelacht. Wie Woody Guthrie war mein Vater
Musiker, und er war nie etwas anderes gewesen. Während des
Krieges hatte er Miete, Essen und Versicherungen für sich und
meine
Großmutter verdient, indem er als der Contragitarrist in
einem
Schrammelquartett in den Heurigenlokalen auftrat, in Grinzing
und Döbling, nach dem Krieg auch in den vom Bombenschutt
freigelegten Kaffeehäusern und Schanigärten der
Innenstadt. Mein
Großvater lebte nicht mehr. Auch er war Musiker gewesen, auch
er
hatte die Contragitarre gespielt; das Lukasser-Quartett war in den
dreißiger und vierziger Jahren die erfolgreichste
Schrammelformation
der Stadt gewesen. Mein Vater hatte eine Handelsschule besucht,
aber vorzeitig abgebrochen und sich ab seinem sechzehnten
Lebensjahr ganz der Musik verschrieben; nach dem Tod meines
Großvaters
übernahm er das Quartett. Er mochte es übrigens
nicht, wenn man
ihn einen Musiker nannte, er sagte: "Ich bin ein Musikant. Mein
Vater war ein Musikant, und ich bin ein Musikant." Später, als
er
längst schon keine Schrammelmusik mehr spielte, bildete er
sich eines
Tages aus heiterem Himmel ein, die "Fachwelt" (ein Wort, das er
stets mit einer für mich beschämenden
Unterwürfigkeit
aussprach) lache über Musikant als Berufsbezeichnung - von da
an
bestand er darauf, Musiker genannt zu werden.
Hauptsächlich aber trat er nach dem
Krieg in den diversen Jazzlokalen auf, die vor allem in
den amerikanisch besetzten Bezirken der Stadt eröffneten - in
den ersten
Monaten 1946 jede
Woche eines. Die bekanntesten Lokale
waren im Keller vom Café Landtmann, im Souterrain vom
Rondell-Kino in der Riemergasse und die Bijou-Bar in der Naglergasse;
der Embassy-Club in der Siebensterngasse im siebten Bezirk
war der vornehmste Club, er wurde von einem Amerikaner geführt
und war ausschließlich für amerikanische Soldaten
gedacht. (Die
Musiker, die hier spielten, waren fast alle schwarz, die
Zuhörer ohne Ausnahme weiß.) Österreicher
durften das Lokal nur
in Begleitung oder unter Vorlage einer schriftlichen Empfehlung eines
(weißen) US-Bürgers besuchen. Aber nur wenige
Einheimische konnten
sich Eintritt und Getränke leisten, gern gesehen waren sie in
jedem Fall nicht. Im Embassy-Club hörte Carl meinen
Vater zum erstenmal. Mein Vater betrat allein die Bühne,
für
seine Musik ließ sich nicht so ohne weiteres eine Band
zusammenstellen.
Der Besitzer bat die Gäste, ihre Unterhaltungen, und die
Kellnerinnen, ihre Arbeit zu unterbrechen. "Ladies and Gentlemen,
George
Lukasser, the Genius!" "Ein schwer definierbares
Widerstreben ging von ihm aus", erzählte Carl. "Der Zauber
öffentlich zur
Schau gestellter schlechter Laune. Er wirkte so hilflos. Wie ein
Anfänger wirkte er. Als würde er zum erstenmal vor
einem Publikum spielen
und niemand hätte ihm gezeigt, wie das geht. Er war schon
ein schlauer Hund und berechnend! Er tat alles, um die
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und wenn ihn die Leute auch nur
deshalb anstarrten, weil sie darauf warteten, daß er das
Übergewicht
bekommt und vornüber von der Bühne fällt,
solange sie still
waren und nicht in eine andere Richtung schauten, war es ihm recht."
Mein Vater war die Sensation des Abends; er war die Sensation des Clubs
für über ein Jahr.
Am Anfang galt er wohl als eine
Kuriosität; er spielte ein Instrument, wie die Amerikaner noch
nie eines
gesehen hatten, eine Gitarre mit zwei Hälsen, mit einem
normalen
Gitarrenhals für sechs Seiten und einem, der weiter oben aus
dem
Resonanzkasten trat, an dem sieben Baßsaiten aufgespannt
waren, die
aber nicht über ein Griffbrett liefen, also nicht
gedrückt wurden,
sondern nur angeschlagen oder gezupft. Carl, der in Wien
aufgewachsen und seit seiner Kindheit selbstverständlich immer
wieder in
Heurigenlokalen gewesen war, war dieses Instrument vertraut,
darüber staunte er nicht; aber über die Musik, die er
zu hören bekam,
staunte er. Dieser schmächtige Mann, dessen Alter er nicht
schätzen
konnte, trug keine Schrammeln vor, wie die Contragitarre erwarten
ließ; er eröffnete mit Cole Porters 'In the Still of
the Night', tat dabei
aber so, als wäre diese Nummer in Wahrheit ein
Schrammelstück, das
erst er in ein Jazzstück umkrempelte. Als zweite Nummer gab
er einen Walzer von Lanner, dessen Melodie er aber nur einen
flotten Durchgang gönnte, ehe er darüber zu
improvisieren begann,
und zwar in so aberwitzigen polytonalen Bögen, daß
Carl, wie
er erzählte, der Kehlkopf weh getan habe, so sehr habe alles
in
ihm darum gefleht, die Lannersche Melodie singend aufrechtzuhalten,
damit dieser tollkühne Gitarrist dort auf der Bühne
nur ja nicht den
Weg durch das Minenfeld seiner Improvisation verliere. Es folgte
Ellingtons 'In a Sentimental Mood' - mein Vater habe den Titel
mürrisch
in fadenscheinigem Englisch angekündigt und ein
beiläufiges
Entree hingelegt, bestehend aus, wie Carl bei späteren
Auftritten
mitzählte, fünfundzwanzig Akkorden, ehe er in diese
so freundliche,
sonnige Romanze einbog, die er wieder in einer Weise
interpretierte, daß man glauben wollte, der Duke habe das
Stück nach einem
Heurigenbesuch in Grinzing komponiert. Den weiteren Abend
bestritt er mit eigenen Kompositionen und Improvisationen zu
spontanen Einfällen. Die Zuhörer waren begeistert;
begeistert von der Virtuosität und der Vielfalt der
musikalischen Einfälle
und sicher auch von der sperrigen Erscheinung meines Vaters. Carl aber
war tief berührt, und er wäre, wie er sagte, gern
allein gewesen
und hätte Stille um sich gehabt. Nie vorher habe er einen
Musiker
gehört, dem es in solcher Vollkommenheit gelungen sei, Ton und
Empfindung in eins zu setzen. Nicht Musik aus Musik habe
er gehört; Bezugnahme auf andere Gitarristen, Zitate aus
anderen Stücken, wie sie bei den Improvisationen des Bebop
üblich
waren, gab es in dieser Musik nicht. "Ich hatte das angenehm
unangenehme Gefühl, doch so etwas wie eine Seele zu besitzen",
erzählte Carl immer wieder - mein Vater wand sich vor
Verlegenheit, wenn er
mithörte; sicher war er auch stolz, vor allem aber war er
ungeduldig, weil es immer das gleiche war, was ihm an Lob geboten
wurde, und nicht
einmal eine kleine Steigerung oder wenigstens eine neue
überraschende Wendung. "Es war, als ob er zu uns
spräche, ohne
Umweg, sogar ohne den Umweg über die Musik, so paradox das
klingen mag. Nicht zu einem Publikum sprach er. Publikum ist
überall. Publikum ist ein Begriff, der gleichmacht. Jeder im
Club
durfte sich sagen: Er spricht zu mir, in Wahrheit spricht er nur zu
mir.
Und jeder hat ihn verstanden. Da saßen Franzosen, Amerikaner,
Briten, Österreicher, Ungarn, Tschechen, und ich versichere
euch,
hätte sich einer der Mühe unterzogen, jeden einzelnen
nach dem
Konzert zu bitten, er möge aufschreiben, was der Bursche vorne
auf der Bühne hinter der komischen Gitarre seiner Meinung
nach erzählt habe, man hätte hinterher einen Packen
Papier in der
Hand gehalten, beschrieben in einem halben Dutzend Sprachen,
aber
auf jedem Blatt wäre die gleiche Geschichte gestanden." (...)
Aus
dem Roman "Abendland" von
Michael Köhlmeier
Carl Jacob Candoris - Mathematiker, Weltbürger, Dandy und
Jazz-Fan - ist fünfundneunzig,
als er seine Lebensbeichte ablegt. Aufschreiben soll sie der
Schriftsteller
Sebastian Lukasser, Sohn des Gitarristen Georg Lukasser, den Candoris
in den
Jazz-Kellern im Wien der Nachkriegsjahre kennengelernt hat. Candoris
erzählt
von seinem Großvater, der in Wien einen berühmten
Kolonialwarenladen betrieb;
von seinen seltsamen Verwandten, bei denen er in Göttingen
während seines
Studiums lebt und die Größen
der
Naturwissenschaft kennenlernt; und vom Wien
der Nachkriegszeit - wo Sebastians Geschichte beginnt, die Geschichte
einer
Selbstfindung, die sich über die zweite Hälfte des
20. Jahrhunderts zieht. Im
Spiegel zweier ungleicher Familien entsteht so ein kluger, reicher,
witziger und
lebenssatter Generationenroman über unsere Zeit. (Hanser, 2007)
Buch
bei amazon.de bestellen