In den zwanziger Jahren wurde die als große musikalische Sensation
gefeierte "Yiddish American Jazz Band" des Klezmers Joseph Cherniavsky
von einer amerikanisch-jiddischen Zeitung als "möglicherweise der erste
erfolgreiche Versuch, jiddische Musik wiederzubeleben" gewürdigt. Um
dieselbe Zeit inszenierte am Jiddischen Theater in Moskau der Reinhardt-Adept
Alexander Granowski das Stück "Nachts auf dem alten Markt" von Isaac
Lejbusch Peretz als schrillen Bilderbogen über eine verschwindende
Tradition und sterbende Kultur: Der Marktplatz erschien als Friedhof.
Und während die großen Klezmer-Klarinettisten Naftule Brandwein und Dave
Tarras das heimwehkranke osteuropäische Immigrantenpublikum der Lower
East Side mit ihren Klängen beglückten, erhoben die jiddischen Dichter
der New Yorker "Insichisten"-Kreise ihre Stimmen zu einem letzten großen
Lamento: Mit einer nie gekannten Bitterkeit klagten die von Joyce
und Kafka
beeinflussten introspektivistischen Sprachvirtuosen, Zeitgenossen der
Klezmer-Kultur und des jiddischen Operettentheaters der Second Avenue,
über ihre Isolation und Ghettoisierung als jiddische Dichter-Avantgarde
und Intellektuelle. Ihre Kunst wurde nur noch von den nicht-jüdischen
Intellektuellen- und Künstlerzirkeln wahrgenommen.
"Seit mindestens 150 Jahren 'verschwinden' Juden als folkloristische
Objekte", bemerkt lakonisch die amerikanische Folkloristin Barbara
Kirshenblatt-Gimblett, und die in den letzten Jahrzehnten des
vergangenen Jahrhunderts einsetzenden Aktivitäten jüdischer Forscher und
Musiker zur Bewahrung jüdischer Musik lassen bereits ein ausgeprägtes
Bewusstsein für die allmählich stattfindende Auflösung der
traditionellen Lebensformen erkennen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs
und der Neuordnung Europas vollzieht sich die Historisierung der Shoah
in einer gleichzeitigen Welle von Bewahrungs- und
Weiterentwicklungsbestrebungen jiddischer Kultur und Musik gänzlich
neuer Art: "Klezmer-Chai", Klezmer lebt, so nannte sich vor einigen
Jahren eine Klezmer-Band aus Leverkusen, und eine ebenfalls
nichtjüdische Krakauer Klezmer-Band wirbt gar mit kabbalistischer
Symbolik auf dem Cover für ihren Anspruch, "etwas Neues und in der
jüdischen Musik Einzigartiges zu schaffen".
Während sich Barbara Kirshenblatt-Gimblett gegen die weitverbreitete
Haltung ausspricht, jüdische Ethnographie ausschließlich im Lichte der
Shoah zu sehen, ist Klezmer, der traditionellen Hochzeits- und Festmusik
des osteuropäischen Judentums in Europa genau das beschieden: Dazu
ausersehen, das jüdische Vakuum in Europa auszufüllen, das die Shoah
hinterlassen hat, beginnt sie als Symbol für das Judentum eine Rolle in
der populären Kultur zu spielen, wobei ihr ein verdächtiges Übermaß an
Wohlwollen und Bewahrungsbekundungen seitens des Publikums und der
Medien zuteil wird - was könnte einer Musik Schlimmeres passieren!
Die vorliegende Geschichte der Klezmer-Musik handelt jedoch nicht vom
Klezmer-Revival in Amerika und seinen Ausläufern in Europa, sondern von
der eigentlichen Klezmer-Musik und der Klezmer-Kultur, wie sie in
Osteuropa als Lebensform innerhalb einer vom jüdischen
Religionsgesetz bestimmten Gemeinschaft bestand. Entstanden ist so die
kollektive Biografie der Klezmer-Musiker Osteuropas und ihrer
unmittelbaren Nachfahren, geschrieben aus der Perspektive der
traditionellen jiddischsprachigen Klezmorim selbst. Die jüngsten
Interviewpartner waren siebzig Jahre alt, Angehörige einer spärlich
dokumentierten funktional-rituellen Musikkultur. Die - außer in den
chassidischen Gemeinden Israels - heute nicht mehr existiert. So starb
der Trompeter Willie Epstein im Juli 1999 im Alter von achtzig Jahren in
Florida während der letzten Korrekturen am Manuskript unseres Buches;
sein Bruder Max, heute der einzige lebende Klezmer-Musiker von Rang,
dessen Spiel und Repertoire noch von osteuropäischen Einwanderermusikern
geprägt war, erlitt vor drei Jahren einen Schlaganfall, kurz nach
Beendigung das auf unseren Forschungen und Interviews basierenden
Dokumentarfilms über ihn und seine Brüder "A Tickle in the Heart".
Wie in der Geschichtsschreibung üblich, haben wir aus den
Erinnerungsfragmenten, nicht selten einander widersprechend, und der
Materialfülle die Beispiele ausgewählt, die uns besonders typisch oder
bedeutsam erschienen. Bewusst wurden Begriffe aus der jiddischen und
hebräischen Sprache, dem Umfeld der Klezmer-Musik, beibehalten, um die
Musik mit der ihr eigenen Terminologie zu beschreiben und die sozialen
und kulturellen Zusammenhänge der "Klezmeraj", ihr Ausbildungssystem und
ihre Aufführungspraxis sowie den musikalischen Formenreichtum der
osteuropäisch-jüdischen Welt angemessen zu vermitteln (ein Glossar und
Hinweise zur Aussprache dieser Bezeichnungen finden sich im Anhang).
Im vorliegenden Buch werden zum ersten Mal die Wurzeln der Klezmer-Musik
im religiösen jüdischen Schrifttum freigelegt, ihre ursprünglich
magischen Funktionen und ihre Verankerung im mittelalterlichen
Volksglauben der rheinländischen Juden dargestellt. Überraschend mag
auch die von den Klezmer-Virtuosen des 19. Jahrhunderts wie Gusikow und
Pedotser bis hin zu Dave Tarras und Max Epstein vollzogene Hinwendung
der jiddischen Instrumentalisten zur westeuropäischen Kunstmusik
erscheinen, verbindet man doch zumeist Urwüchsigkeit, Leidenschaft und
Sentimentalität mit der bunten, schrägen, anarchischen Musik aus
jiddischen, Jazz- und Rock-Elementen, die der World-Musik-Markt heute
als "Klezmer" für die sinnsuchende Gesellschaft bereitstellt.
Musikalisch kann Klezmer-Musik nicht als isoliertes Phänomen betrachtet
werden: Eine Darstellung ohne die Einbeziehung der Wechselwirkung mit
traditionellen südosteuropäischen Musikkulturen ist ebensowenig möglich
wie die Ausklammerung ihrer Funktionen in der jüdischen
Religionsausübung, die sie - zusammen mit chassidischer und synagogaler
Musik - seit Jahrhunderten bewahrt. Das säkulare Yiddish- und
Klezmer-Revival Amerikas, das gerade diesen Religionsbezug nicht zur
Kenntnis nehmen will, basiert auf einer gänzlich anderen Entwicklung: An
der Nahtstelle zwischen der Alten und der Neuen Welt entstand eine
Unterhaltungskultur der jiddischsprachigen Immigranten-Unterschichten
der Lower East Side, deren Nachkommen in das amerikanische
Mainstream-Entertainment, den Jazz und in die klassische
Musik abwanderten. Die amerikanischen Revivalisten übernahmen die
aus wenigen Elementen der osteuropäischen Spielweisen bestehende
kommerzielle jiddische Popular- und Klezmermusik und nahmen eine
künstliche Archaisierung vor, die mittlerweile zu einem primitiven
Einheitsstil geführt hat, der das genaue Gegenteil zu dem an Paganini
orientierten Ideal der Schtetl-Klezmorim darstellt. So schließt das Buch
mit einem kritischen Überblick zur Klezmer- und Yiddisch-Renaissance,
die diese Musik seit über zwanzig Jahren popularisiert, aber eben nur
scheinbar eine echte Fortsetzung der jahrhundertealten Tradition
darstellt. Es fehlt die Basis der jiddischen und hebräischen Sprache,
der chassidischen und liturgischen Musik, der jüdischen Religion und
nicht selten bereits die Kenntnis der mittlerweile historischen
Entwicklung der Yiddish-Renaissance selbst. Aber gerade die gegenwärtige
Situation in den streng orthodoxen Gemeinden Israels zeigt, dass sich
die Klezmer-Tradition im religiösen Umfeld erhalten und weiterentwickeln
konnte, wenn auch in Formen, die mit ästhetischen Maßstäben allein nicht
zu fassen sind, weil sie auf religiösen Funktionen fußen.
Genau dies ist das Anliegen dieses Buches: die Klezmer-Musik in ihrer
Eigenart zu definieren und ihren Weg von der funktionalen Einbettung in
das jüdische Ritual bis zur ästhetisierten und kommerzialisierten Form
zu beschreiben. Denn losgelöst von der jüdischen Religion erscheint
Klezmer-Musik nur als Sammelsurium von willkürlichen Tönen und Rhythmen.
Begriffsunschärfen und Unkenntnis haben zu Beliebigkeit,
Austauschbarkeit und Verniedlichung dieser Musik wie "Kletzmer-Tangos",
"Klezmer-Chansons", "Klezmer-Tänzen" geführt - und das entspricht nicht
der geschichtlichen Wahrheit der einst hochentwickelten urbanen
jüdischen Festmusik Osteuropas, aus deren Reihen auch die Elite der
klassischen Virtuosen des 20. Jahrhunderts von Mischa Elman bis Emanuel
Feuermann hervorging.
Nur mit einem fachübergreifenden Ansatz, der Elemente aus
Musikethnologie und historischer Musikologie, Judaistik, vergleichender
Religions- und Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie sowie
Cultural Studies vereint, war es uns möglich, die komplexen
Entwicklungen der traditionellen Klezmer-Musik zu erschließen und ihren
Weg über Zeitalter und Kontinente darzustellen. Seit 1989 führen wir
Interviews und Forschungen in den USA, Ost- und Westeuropa (u. a.
Litauen, Russland und Birobidschhan) sowie Israel durch, dazu kommt eine
Sammeltätigkeit seit den 60er Jahren. Die musikalische Zusammenarbeit
von Joel Rubin - selbst einer der ersten Protagonisten des Revivals in
den USA - insbesondere mit den Epstein Brothers und den chassidischen
Musikern in Israel öffnete uns die Türen zu einer Welt, deren Denken und
Fühlen nicht nur unsere Forschung bereichert und dieses Buch möglich
gemacht hat, sondern auch unser Leben insgesamt veränderte. Die parallel
produzierte CD "Oytsres - Treasures: Klezmer Music 1908-1996" entspricht
in der Auswahl unserer derzeitigen Auffassung und der Intention des
Buches. Möge dieses Buch dazu beitragen, was die "Insichisten" für ihre
Literatur vergeblich einforderten: Dass die Jiddische Kultur und die
Klezmer-Musik nicht mehr unbekannt bleibe und ihre Künstler nicht mehr
als "Hottentotten" betrachtet werden - nicht nur im Hinblick auf die
phänomenologischen, sondern durchaus auch im Hinblick auf die
gesellschaftlichen Implikationen.
(Vorwort zu "Klezmer-Musik" von Rita Ottens und Joel Rubin.)
Klezmer, die traditionelle
Tanzmusik im osteuropäischen Stetl des 19. Jahrhunderts, überlebte
nach dem Krieg in den jüdischen Emigrantengemeinden und erfährt
weltweit eine Renaissance. Erstmals wird hier über die spannungsreiche
und wechselvolle Geschichte der Klezmer-Musik über einen Zeitraum von
fast fünf Jahrhunderten geschrieben, über Schauplätze, Instrumente,
Stile und Musiker. Die Autoren greifen auf veröffentlichte und
unveröffentlichte Quellen zurück, haben selbst Interviews mit Musikern
oder deren Nachfahren gemacht und geben Notenbeispiele und eine
Diskografie. Das Buch schließt mit einem Überblick über die
gegenwärtige Klezmer-Szene.
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und hier ein Klezmer-Lien: