Wladimir Kaminer: "best of - live"
"Wenn ich in Zukunft Besuch aus Österreich bekomme, lasse ich meinen Eierbecher auf alle Fälle im Schrank."
(Wladimir Kaminer)
Es begann
damit, dass Wladimir Kaminer 1990 nach Berlin kam. Dort lebt er seitdem
gemeinsam mit Frau und zwei Kindern. Er veröffentlicht regelmäßig Texte
in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, hat eine wöchentliche Sendung
bei SFB4 Radio MultiKulti sowie eine Rubrik im ZDF-Morgenmagazin. Kult
in Berlin ist die regelmäßig stattfindende "Russendisko", die er im Café
Burger, und mittlerweile auch an anderen Orten außerhalb Berlins
organisiert. Einmal verschlug es ihn sogar nach Wien, wo die
"Russendisko" Station machte. Die vorliegende CD ist allein schon aus
folgendem handfesten Grund eine Klasse für sich: Eingestreut zwischen
neun bislang unveröffentlichten Stories des Autors sind vier Songs
russischer Power ("Russendisko"). Bombastisch "The robots" von RotFront.
Eine russische Interpretation des genialen Kraftwerk-Kulthits: "Die
Roboter". Da machen die Ohren Augen! Diese Dynamik fetzt so richtig
dahin, und das Tanzbein kann geschwungen werden (dazu ist nicht mal
unbedingt ein Partner notwendig).
Kaminer lernte erstaunlich schnell Deutsch. Von einer Zuhörerin der
Braunschweiger Lesung darauf angesprochen, warum er denn so gut Deutsch
könne, antwortete der schlagfertige Russe: "Mir blieb gar nichts Anderes
übrig. Hier verstehen die meisten Menschen nur Deutsch." Andere Menschen
russischer Herkunft haben es da schwerer. So etwa der Mann, der "Deutsch
unter Hypnose" zu lernen versucht. Die Sache ist ganz einfach. Ein und
dieselbe Kassette wird zwölfmal angehört, und schon wird die deutsche
Sprache perfekt beherrscht. Die Sache hat nur einen Haken. Es kann
passieren, dass niemand dieses Deutsch versteht, oder aber eine völlig
andere Sprache ins Gehirn hineingepresst wird. Und dann die grausamste
Nebenwirkung: Der russische Sprachschatz verschwindet. Hütet euch vor
den Scharlatanen, die euch die deutsche Sprache eintrichtern wollen!
Scheint irgendwie eine Anleihe bei der bedenklichen Maßnahme der
österreichischen Regierung zu sein, die den "Integrationsvertrag"
geschaffen hat, sodass Menschen u. a. dazu gezwungen werden,
"Deutschstunden" zu nehmen, wobei selbst die so tolle österreichische Geschichte nicht
ausgelassen wird.
Von einer wahrhaft erstaunlichen Wucht ist die zweite Geschichte, welche
sich mit "Deutsch als Fremdsprache" beschäftigt. Hier hat Kaminer gar
nicht in irgendeine Trickkiste greifen müssen, sondern das russische
Volk in Russland einbezogen. "Deutsch lernen mit Rammstein" lautet die
Lektion. Die deutsche Musikgruppe "Rammstein", angeführt von Leadsänger
Till Lindemann ("unsere Songs handeln von Glaube, Liebe, Hoffnung und
Tod"), genießt in Russland Kultstatus. Bei oftmaligen Auftritten singen
die Russen problemlos die Texte der bunten Truppe mit. Ein wenig gemein
ist es, zu behaupten, dass es leicht sei, mit
"Rammstein" Deutsch zu lernen, da ohnehin nicht mehr als 500
Wörter eingeübt werden müssen. Tatsache ist, dass sich die Russen gerne
treffen, und dabei "Rammstein"-Texte zum Besten geben. Wenn dann
einander der Bruderkuss mit den Worten
"bestrafe mich
Stroh wird Gold
und Gold wird Stein
deine Größe macht mich klein
du darfst mein Bestrafer sein"
angereichert ist, macht es sicher Spaß, des Deutschen mit so starker
Wucht mächtig zu sein. Unter diesen kultigen Umständen ist es umso
erklärlicher, warum der großartige Film "Lilja
4-ever" mit "Rammstein"-Musik angereichert ist, und nicht nur
t.a.t.u. ihre Zungen schnalzen.
Die längste Geschichte handelt von einer Reise des Autors samt Frau nach
"Islandien - ("ein wunderbares Land"), wobei die Nichtexistenz von
Bäumen dort dazu führt, dass es kaum Kriminalität gibt. Weil wo sollte
sich etwa ein Dieb verstecken?
Eine Urlaubserzählung über Teneriffa beweist, dass auch Russen nicht vom
billigen Massentourismus verschont bleiben; diesen zwar immer wieder
anprangern, und dann doch wieder in der "Bild"-Zeitung blättern und sich
am Strand Sonnenbrand holen.
Der Vergleich von Mick Jagger mit der Schwiegermutter von Wladimir
Kaminer ist keineswegs irgendeine komische Finte, sondern beruht auf der
Tatsache, dass sowohl Mick Jagger als auch die Schwiergermama des Autors
am gleichen Tag im gleichen Jahr geboren wurden. Übrigens singt
Schwiegermama Kaminer um nix schlechter als der ewig grölende Altrocker.
Und für die österreichischen Fans ist es angebracht, an die Geschichte
zu gemahnen, in welcher Wien eine Rolle spielt. Und zwar ganz genau die
Schatzkammer in Wien. Das o. a. Zitat mit dem Eierbecher spricht Bände,
oder? Und wer Genaueres wissen will, braucht sich ja nur die CD zu
kaufen...
Als Kaminer eine Lesung in Tübingen halten sollte, wurde er vorab vom
"Schwäbischen Tageblatt" in Gestalt eines Redakteurs zu seinem
Verhältnis zu Hölderlin befragt, der ja für manchen
Schwaben bekanntermaßen in Tübingen geboren wurde. Da der Autor noch
nichts von Hölderlin gehört hatte (in Russland gab's natürlich nur Schiller
und Goethe, und ein bisserl Brecht
in kleinen Dosen), sagte er mit Überzeugung: "Zu Hölderlin haben
die Russen ein kompliziertes Verhältnis."
Die Freundlichkeit der Ostberliner mit jener der Russen zu vergleichen,
fand der Rezensent ein wenig überzogen. In der Geschichte von der
"Servicementalität" meint Kaminer glatt, dass in beiden Fällen kaum mit
Wortspenden zu rechnen sei. Kaum? Also, ich denke mir mal, dass die
Westberliner in punkto Freundlichkeit den Ostberlinern nicht unbedingt
den Rang ablaufen.
Die abschließende Geschichte, welche Kaminer in Braunschweig vorlas,
trägt den profanen Titel "Glaube, Liebe, Geld", und es geht um den
Aberglauben in Deutschland und Russland. Eine recht kurze Angelegenheit,
auf die dann noch ein weiterer Musiktitel nachhämmert.
Es ist nicht nur die ungemeine Komik, mit der Kaminer seine teils
außerordentlichen Stories vorträgt, sondern ebenso die Klarheit, durch
die Botschaften ins Unterbewusstsein des Zuhörers transportiert werden.
Denn bei allem Klamauk sticht jede Menge Gesellschaftskritik hervor,
wobei diese wie weiland bei
Gogol unter dem Mantel der Zwischentöne fast zu verschwinden sich
anschicken kann. Die Lesung ist vom ersten Ton an ein wahrer Genuss, und
es bleibt am Ende nur noch daran zu erinnern, dass die Musik von
allerhöchster Güte ist.
(Jürgen Heimlich; 04/2003)
Wladimir
Kaminer: "Best of - live"
Bmg
Wort (BMG), 2003. 2 Audio-CDs.
ASIN B00008MOG4.
ca. EUR 16,99. Doppel-CD bestellen