JJ72: "JJ72" und "I To Sky"

Ich liebe den, welcher seine Tugend liebt:
denn Tugend ist Wille zum Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht.
(Friedrich Nietzsche: "Also sprach Zarathustra", Vorrede, 4) 


JJ72 - ein Phänomen, das fassungslos macht.

Selten, dass einen abgebrühten Knochen, wie ich nun schon einer bin, noch ein Werk der Populärkultur aus der Fassung bringt. Der weit verbreitete und wohl, im Zusammenhang mit der Popmusik, ein wenig modische Kulturpessimismus machte auch vor meinem Sinnen nicht halt, denn immerhin, wer singt heute schon noch höherer Ideale wegen? In dieser Atmosphäre resignativer Gestimmtheit war es zuletzt kaum denkbar, dass eine CD über Tage, ja gar über Wochen privilegiert in meinem CD-Player liegt - es sei denn ich hätte sie dort vergessen - und zudem auch noch immer wieder und wieder zu jeder Gelegenheit abgespielt wird. JJ72 haben dieses kleine Wunder vollbracht, und vorbei sind vorerst die Tage beklemmender Stille in meinen vier Wänden, denn nun schon seit Wochen will es mir nicht und nicht gelingen mich, von der androgynen Stimme des Mark Greaney zu lösen. Und es keimt eine Ahnung in mir, wie ich sie schon einmal vor nun schon erklecklich vielen Jahren verspürte, als ich erstmals die Songs der Schallplatten zu den Titeln "Queen I." und "Queen II.", jener damals noch relativ unbekannten gleichnamigen Band, vermittels meines schäbigen Plattenspielers intonierte: Hier kündigt sich Außerordentliches an; hier wird möglicherweise Musikgeschichte geschrieben.

Eine Erscheinung der anderen Art.

JJ72, hinter diesem geheimnisumwitterten Bandnamen steckt ein Trio blutjunger Iren, welches die Musikwelt nun schon seit geraumer Zeit wie eine Erscheinung der anderen Art in Staunen versetzt, und von dem so mancher Musikkritiker gar schon meinte, es hätte ihm den verlorenen Glauben an die Musik wieder zurückgegeben. Letzterem euphorischen Urteil kann ich mich eigentlich nur anschließen.

Jung, zornig, rebellisch, ...
... und höchsten Qualitätsansprüchen verpflichtet.

Vor rund zwei Jahren traten sie - alle drei noch keine zwanzig Jahre alt - mit der Pose rebellischer Jugendlichkeit zornig und unverbraucht auf die Bühne der Popkultur, zerschmetterten Gitarren, erzwangen Konzertabbrüche und setzten sich selbst von allem Anfang an höchste Qualitätsansprüche.

"JJ72" - ein geniales Debütalbum.

"JJ72" nannten sie schlicht und einfach ihr Debütalbum, dessen zwölf Songs wahrlich fast bar jeden Makels sind. Auf dieser CD fehlt der Lückenbüßer, die lieblos komponierte Nummer, welche allein der Auffüllung dient. Jeder Titel hat sein eigenes poetisches Wesen, und wer hinreichend des Englischen mächtig ist, wird auch mit den lyrischen Texten des Vokalisten und Gitarristen Mark Greaney seine Freude haben. Die CD enthält drei so genannte Hits, worüber ich mich der Nervenschonung wegen nicht weiter auslassen will, da ich diesen Begriff schlichtweg als barbarisch ablehne. Zweifellos handelt es sich bei "broken down" jedoch um einen Song von zeitlosen Dimensionen. Ein gleichermaßen harter wie zarter Gitarrensound, sensibel, zerbrechlich, dazu die feminine Stimme des Vokalisten Mark Greaney, die in diesem konkreten Fall schon fast ein wenig an Sinnead O'Connor erinnert; wie auch immer, im höchsten Maße betörende Weiblichkeit verströmt. Auch von den anderen Songs ist der eine oder andere gewiss als außergewöhnliche Leistung zu erachten, die man einer Band von Teenagern für gewöhnlich kaum zutrauen würde. (JJ72 waren zur Zeit der Aufnahme ihres Debütalbums noch sämtlich unter zwanzig Jahre alt.)

Mark Greaney - eine Singstimme, die nicht von dieser Welt scheint.

Es ist denn dann auch des Barden Geschlechter übergreifende Stimme, die der jungen Band ihren unverwechselbaren Farbklang gibt, zart, zornig, verwandelbar und doch immer gleich, zuweilen zerbrechlich, verzagt, dann wieder - in ihren besten Momenten! - von gebieterischer Strenge. Ein Phänomen! - von höchster Einzigartigkeit, von dem sich auch der altehrwürdige "Spiegel" in einem Kommentar vom 21.02.2001 noch Großartiges erwartet und um den man bangt, er möge doch alt genug werden um zu verwirklichen, was man von dem größten Talent des melancholischen Gitarrenpop sich für die Zukunft noch erwarten darf. (Rockidole sterben bekanntlich früh!?)
Dieser junge, kleinwüchsige Mann, dessen knabenhaftes Äußeres dem Typus
nach frappant an Oscar Werner erinnert, ist nun auch als Songschreiber und Verfasser sämtlicher Lyrics Herz und Seele von JJ72. In Interviews inszeniert er sich gerne als Visionär mit höchsten Ansprüchen (Größenwahn?), der auch hinsichtlich seiner überragenden - beherrschenden - Stellung innerhalb der Band keinen Zweifel zulässt. Mit ihm steht und fällt JJ72, deren andere Mitglieder, bei allem persönlichen Charisma und äußerlichem Liebreiz, nebst der einen Lichtgestalt zu Schattenwesen degradiert sind. Hilary Woods, das weibliche Bandmitglied, brilliert am Bass und betört mit ihrer viel gepriesenen Schönheit, derweil der einzig wahrlich maskuline Drummer Fergal Matthews die Figur des großen Unbekannten verkörpert.

"I To Sky" - das zweite Album; feminin, herrisch, von höherer Lebensart.

Mit "I To Sky" brachten JJ72 nun kürzlich ihr zweites Album auf den Markt, zu dem Mark Greaney sinngemäß feststellte, es sei aus Herzblut gemacht und ohne Kompromiss gegenüber der Verlockung zu irgendwelcher Nachlässigkeit. Man glaubt es ihm sofort, denn die Liedersammlung atmet durchgehend musische Kraft, wenn man vielleicht von dem etwas konventionell pubertierenden "Half Three" einmal absieht und sich über den anfänglich viel versprechenden Song "Sinking" ärgert, eine Ballade, die, weil sie sich letztlich zu sehr verplätschert und wider Erwarten nicht eskaliert, vielleicht meinem höchstpersönlichen Geschmack nicht ganz gerecht wird, obgleich sie - objektiv betrachtet - jeder anderen Band immer noch zur Ehre gereichen würde. Doch wie schon gesagt, JJ72 bewegt sich in anderen Dimensionen und lässt - von wenigen Ausnahmen wie "Muse" oder "Radiohead" vielleicht einmal abgesehen - die Mitspieler am Markt der Populärmusik großteils armselig aussehen. Alles in allem betrachtet, präsentiert sich "I To Sky" gereift, eine Stufe erhabener als "JJ72" (weil weniger emotional), dafür garniert mit wohl dosiertem Pathos, was vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack sein muss. Manche meinen nun auch, dass "I To Sky" sanfter als "JJ72" sei, dass JJ72 des "aufkreischenden Zorns" verlustig gegangen sei, der in "JJ72" noch so lustvoll zelebriert wurde. So mag es sein, doch sanfter? - ich sehe es nicht so, denn beispielsweise "Serpent Sky" würde einer jeden Punkband zur Ehre gereichen, und dramatisch aufwühlend ist "I To Sky" noch allemal. Mit "Nameless" findet sich ein anmutiger, von bloßer Klavierbegleitung eingeleiteter, Anklang, dem bald schon mit dem dritten Song "I saw a Prayer" ein wahrhaftiger Ohrwurm folgt, dessen sphärisches Hallen einem tagelang nicht aus dem Sinn gehen will. Mark Greanys Singstimme klingt in dieser Nummer geradezu jungmädchenhaft. Unglaublich und unerhört, dass es sich hierbei doch tatsächlich um den Organlaut eines jungen Mannes handeln soll. Die wirklichen Höhepunkte finden sich in den nachgereihten höher nummerierten Liedern (auf der klassischen, oft unbeachtlichen B-Seite!), mit "7th Wave" (welch herrischer Göttertanz! - von mitreißender Dramatik), "Glimmer" (ein atmosphärischer Geniestreich) und "City" (knallhart, doch keineswegs derb). Drei Songs von höchstem Adel, die nichts mehr zu wünschen übrig lassen und ein allgemein schon hohes Niveau ins beinahe Überirdische entsteigen lassen.

Ein herrisches Wesen, das sich seiner Genialität bewusst ist und deswegen kaum des Größenwahns bezichtigt werden sollte, gebietet nun doch dem Hörer andächtig zu Boden zu sinken, und man scheut auch nicht davor zurück, jener Übermenschlichkeit den gehörigen Respekt zu erweisen. Zeitweise fühlt man sich bei diesen Nummern übrigens an die beiden Popexzentriker namens Ron Mael und Russell Mael erinnert, die unter dem Bandnamen "Sparks" mit eigenwilligen Kreationen wie "This Town Aint Big Enough For Both Of Us" zu einer Zeit für Furore sorgten, als Mark Greaney noch am Schnuller nuckelte und deren Vokalist Russell Mael mit einer vergleichbar femininen, ja fast schon weibisch anstößigen doch nichts umso weniger gebieterischen, Stimmlage zu überzeugen wusste. In diesem Zusammenhang ist insbesondere "Glimmer" hervorzuheben, ein revuehafter Song, der doch viel zu rockig für jede Revue wäre. Zärtlich präsentiert sich schließlich der Ausklang mit "Oiche Mhaith", eine melancholische und sehr feminine Ballade, die, nach dem Aufruhr mit "Glimmer" und "City", das aufgewühlte Gemüt beruhigt und in charmanter Manier zum Träumen einlädt.

"JJ72" und "I To Sky" - - zusammen eine Ode an das Schöne.

Beide Alben - "JJ72" und "I To Sky" - sind von außerordentlicher, kaum überbietbarer, Güte und verheißen für die Zukunft noch wahre Sinnenfreuden. Mit Mark Greaney hat ein genialer Musiker und unverwechselbarer Sänger die Bühne der Populärmusik betreten. Er singt so schön, dass man der verführerischen Macht seiner Stimme wehrlos zu verfallen droht. Ja! Es ist ungetrübter Wille zur Macht, der aus seiner Kehle an unser Ohr dringt und uns zu den Knechten seines Begriffs von Schönheit macht. Wünschen wir dem - sehr selbstbewussten - jungen Mann ein noch langes Leben, auf dass er sich und uns weiterhin mit seinem Ausnahmetalent erfreue.

(Tasso; 27. November 2002)


JJ72: "JJ72"
Epc (SONY Vertrieb).
Erscheinungsdatum: 30. Oktober 2000.
ca. EUR 16,99.
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JJ72: "I To Sky"
Epc (SONY Vertrieb).
Erscheinungsdatum: 14. Oktober 2002.
ca. EUR 15,99.
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