(...) Die
Stille belebte sich plötzlich und gliederte sich zugleich: ein Klavier
schlug an, unweit, im selben Stockwerke, wo sich das Sprechzimmer
befand, vielleicht nebenan. Der Gymnasiast, ohne sich zu bewegen,
lauschte mit größter Aufmerksamkeit, aber sein Gesichtsausdruck erhellte
sich dabei in gar keiner Weise, es blieb etwas knotenartig
Zusammengezogenes darin: trotzdem er nach einigen Takten schon wußte,
was gespielt wurde; nämlich das Vorspiel zu der großen Klaviersonate in
Fis-moll von Robert Schumann. Wenige Augenblicke später hörte er jetzt
leichte, rasch näherkommende Schritte draußen auf dem Gange hallen. Erst
diese zweite Wahrnehmung brachte sein Mienenspiel in Bewegung. Es blieb
darin die Aufmerksamkeit stehen, mit welcher er dem Klavierspiel
gelauscht hatte, aber zugleich wurde sie offenbar durchkreuzt von dem
Bewußtsein des bevorstehenden Eintrittes Grauermanns in das Zimmer hier;
diese Zwiespältigkeit ließ jetzt ein Drittes hervorspringen, das man
René sogleich hätte anmerken können: denn was nun aus dem Spalt zwischen
zweien sich trennenden Empfindungen hervorkam, war ein gar nicht
geringer rascher Ärger. Zwischen den Brauen des Gymnasiasten erschien
eine ganz unkontrollierte scharfgeritzte Falte.
Sie war gleich beim Eintreten Grauermanns verschwunden. Noch ertönten
von nebenan die tiefen Glockentöne des Vorspiels. René hatte sich rasch
erhoben, im Entgegengehen zog er den Brief hervor. Der Akademiker
reichte dem Gymnasiasten erst lächelnd die Hand. Grauermanns Antlitz
machte einen glatten und jugendlichen Eindruck über dem weinroten Kragen
und dem dunkelgrünen Rock der Uniform. "Ich danke dir vielmals", sagte
er; sie setzten sich, und Grauermann öffnete und durchflog das Billett.
Er nickte erfreut während des Lesens.
Indessen war der unbekannte Spieler nebenan ans Ende des Präludiums und
in den ersten Satz gelangt, dessen Wirkung auf den Gymnasiasten ganz
ersichtlich wurde, während Grauermann ihn freundlich nach seinem
Wohlergehen, seinem Studium und ähnlichen Dingen fragte. Die geteilte
Aufmerksamkeit Renés, welche bereits nach der Seite des Klavierspieles
ein entschiedenes Übergewicht erhielt, ließ ein kaum begonnenes
Geplauder absterben, während das nebenan bearbeitete klopfende und
fugierte Hauptthema immer stärker den Raum erfüllte.
"Was ist das nur, ich kann mich jetzt nicht besinnen ...?" fragte der
Akademiker schließlich mit einer Kopfbewegung gegen den benachbarten
Raum.
"Schumann,
Fis-moll", sagte Stangeler. "Die Etelka spielt es jetzt", fügte er nach.
"Ja richtig!" rief Grauermann und schlug sich mit der flachen Hand
leicht gegen die Stirn. "Wenn du zuhören willst, gehen wir hinein. Es
ist der Teddy Honegger, der spielt, du kennst ihn ja. Wir müssen nur
leise sein." Er stand auf, Stangeler folgte ihm. Sie gingen wenige
Schritte auf dem Gang, dann öffnete Grauermann eine ebensolche
weißlackierte hohe Flügeltüre wie jene, welche in das Sprechzimmer
führte. Sie bewegte sich ohne jedes Geräusch. Stangeler blickte voraus
in den Raum, welchen er noch nie betreten hatte; das Grün des Parkes
schien durch drei hohe Fenster zugleich mit einigen Strahlenbündeln der
Abendsonne, die in den weißen Fensternischen lag. Grauermann und René
blieben bei der nun wieder geschlossenen Tür des Musikzimmers auf dem
dicken Teppich stehen; das Klavier, ein Stutzflügel, war gegenüber dem
dritten Fenster rechter Hand derart aufgestellt, daß der Spielende ihnen
den Rücken kehrte.
Ihr lautloses Eintreten erfolgte in ungewollter und eindrucksvoller
Gleichzeitigkeit mit dem Einsetzen des zweiten Themas, das an sich schon
für jeden gehörbegabten Menschen einen Chok von Wohllaut bedeuten muß:
hier faßte es die ganze Situation - das vergoldete Grün des Parks, die
Einsamkeit des Spielenden, die Unbegreiflichkeiten in der Brust eines
ganz jungen Individuums, die ebenso unbegreiflichen Gegensätze in der
Beziehung zwischen Grauermann und Etelka, ja schlichthin überhaupt
alles, auch die jetzt tropfenden eiligen Sekunden vor dem langsameren
Hintergrunde des Zeitstroms - jetzt also faßte dieser emporsteigende und
sanft kaskadierende zweite Hauptgedanke des Tondichters das gesamte hier
gegenwärtige Sein gebändigt zusammen, daß es gleichsam ausfüllend in
diese Form einströmte und sie völlig annahm, ohne irgendetwas draußen
und außerhalb ihrer zurückzulassen. Für Stangeler war diese innere Lage
nicht nennbar, sie wurde aber von ihm durchaus und deutlich empfunden.
Diesmal durchbrach die Empfindung sein Antlitz. Man könnte sagen: dieses
Gesicht entknotete sich. Es ging ihm gewissermaßen ein Knopf auf, wie
man`s ja auch zu nennen pflegt, für diese wenigen Augenblicke. In
Grauermanns Zügen jedoch, der den Gymnasiasten unvermerkt von seitwärts
ansehen konnte, zeigte sich etwas ganz anderes, und das kam aus einer
nicht weniger zentralen Kammer seines derzeitigen Lebens: es war die
Zuckung eines tiefen und gleichsam nervösen Schmerzes. Für ihn stand
beim Anschauen von Renés jugendlicher Physiognomie die
Familien-Ähnlichkeit mit Etelka im Vordergrunde, wie es für einen
Außenstehenden hier natürlich war (während in der Familie selbst noch
niemand zwischen den beiden Geschwistern eine besondere Ähnlichkeit
bemerkt hatte). Und jetzt, als die Züge Renés schmolzen, entdeckte er
darin eine unwidersprechliche und gleichsam wilde Echtheit der Beziehung
zu jener Welt, nicht nur der Musik, nicht nur des 'Künstlerischen' , wie
er`s nannte, nicht nur des Geistigen überhaupt (wie er`s vermeinte
nennen zu müssen), wozu ja auch er auf seine Art einen gebildeten Zugang
ständig erstrebte: sondern eine Weise sich dem Leben zu nähern, die nicht die seine war,
die für ihn vom Leben ganz abseits führen mußte und die sich ihm
aufzwang und ihn verunechtete, sobald er sich nur in Etelkas Nähe
befand, wenngleich er Tag und Nacht nichts anderes suchte als diese
Nähe. Durch einige Sekunden jetzt sah er voll Abneigung auf Renés
Antlitz, wie ein Gefangener auf die Gitterstäbe des Fensters. (...)
(aus "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre" von Heimito von Doderer)