(...)
Damit beginnt er auf und ab zu wandern und summt Melodien aus der "Ile des fous", dem "Peintre amoureux de son modèle", dem "Maréchal ferrant", der "Plaideuse"; von Zeit zu Zeit hob er die Hände und Augen zum Himmel und rief: "Ob das schön ist, Herrgott! Ob das schön ist! Wie kann man ein paar Ohren am Kopf tragen und solche Fragen stellen?" Er kam in Feuer und fing leise an zu singen. Er steigerte den Ton, je mehr er sich begeisterte. Dann kamen Gesten, Mimik; Verrenkungen hinzu, und ich sagte mir: Aha, jetzt geht es mit ihm durch, gleich gibt es eine neue Szene. Tatsächlich, er setzt mit voller Stimme ein: "Je suis un pauvre misérable" ... "Monseigneur, Monseigneur, laissez-moi partir" ... "O terre, recois mon or, conserve bien mon trésor" ... "Mon ame, mon ame, ma vie! O terre!" ... "Le voilà le petit ami, le voilà le petit ami!" ... "Aspettare e non venire" ... "A Serpina penserete" ... "Sempre in contrasti con te si sta" ... Er häufte an die dreißig Arien übereinander, italienische, französische, tragische, komische, von jedem Charakter. Bald stieg er im Baß bis in die Hölle hinab, bald kletterte er in höchste Höhen und ahmte schmetternd das Falsett nach, mimte in Gang, Haltung, Gebärden die verschiedenen singenden Personen, mal wütend, mal besänftigt, mal herrisch, mal spöttisch. Jetzt ist er ein junges Mädchen, das weint, und er gibt sie mit all ihrem Gezier; dann ist er Priester, ist er König, ist er Tyrann, er droht, er befiehlt, er zürnt, er ist Sklave, er gehorcht. Er beruhigt sich, er verzweifelt, er klagt, lacht; immer im Ton, im Takt, im Sinn der Worte, im Charakter der Arie. Alle Holzschieber hatten die Bretter verlassen und sich um ihn versammelt. Draußen, an den Fenstern des Cafés, drängten sich die Passanten, die wegen des Lärms stehengeblieben waren. Es setzte Lachsalven, als ob die Decke bersten sollte. Er merkte nichts; er machte weiter in einer Geistesabwesenheit, einer Begeisterung, so nahe der Narrheit, daß keiner wußte, ob er daraus zurückkehren würde oder ob man ihn nicht in einen Fiaker setzen und geradewegs nach den Petites-Maisons bringen müßte. Aus dem "Lamenti" von Jomelli sang er die schönsten Stellen mit einer Präzision, einer Wahrheit, einer unglaublichen Wärme; bei dem schönen obligaten Rezitativ, in welchem der Prophet die Verwüstung Jerusalems schildert, vergoß er eine Flut von Tränen, und aller Augen weinten mit. Alles brachte er: die Feinheit des Gesangs wie die Kraft des Ausdrucks wie den Schmerz ... Er verweilte bei den Stellen, wo der Komponist als besonders großer Meister sich bewiesen hatte. Vom Gesang wechselte er zu den Instrumenten über, kehrte rasch wieder zur Stimme zurück, eins mit dem andern derart verflechtend, daß Verbindung und Einheit des Ganzen gewahrt blieben; er bemächtigte sich unserer Seelen und hielt sie schwebend in der eigentümlichsten Verfassung, die ich jemals empfunden habe .... Bewunderte ich ihn? Ja, ich bewunderte ihn! War ich ergriffen? Ich war ergriffen; aber ein Hauch von Lächerlichem mischte sich in diese Gefühle und verzerrte sie.
(...)


(aus "Rameaus Neffe" von Denis Diderot; 1713-1784)