Leseprobe aus "Don Ottos Klassikkabinett"
von Mauricio Botero
Johann
Sebastian Bach
Ohne die fröhlichen Chöre des Cum Sancto Spiritu von
Bachs h-Moll-Messe
stünde es traurig um dieses alte Geschäft, das, nicht
anders als Quevedos
Träume, stets Bühne wie Hörsaal meiner
Fantasien gewesen ist.
Alí und Samuel
betraten den Musikladen beinahe Hand in
Hand. Ersterer der begüterte Sohn einer syrisch-libanesischen
Familie, der
andere jüdischer Herkunft. Beim Studium der
Politikwissenschaft hatten die zwei
einander kennengelernt. Sie lebten ihr Idyll stolz vor aller Augen, um
zu
beweisen, dass ein friedliches Auskommen beider Völker sehr
wohl möglich ist.
Bedauerlicherweise entging ihren Eltern die internationale Dimension
der
Angelegenheit, und so hatten sie jeden Kontakt zu ihren Söhnen
abgebrochen.
Die Chöre verbanden
sich nun und forderten uns auf,
ihnen in eine Welt zu folgen, die näher am Herzen der Dinge
liegt - Bachs
Methode, den Schmerz darüber aufzuheben, dass er
zwölf seiner zahlreichen
Kinder eines nach dem anderen sterben sehen musste. Wofür der
Himmel seine
Kunst um den Balsam bereicherte, der einen dafür
entschädigt, dass man lernt,
Narben anzusammeln.
Alí hatte ein
Buch
von
Bertrand Russell dabei. "Darin
vertritt er die Meinung, die Religionen hätten der Menschheit
nichts gegeben",
erklärte Alí.
"War er Autist?", fragte Samuel
scherzend, um sogleich
hinzuzufügen, Tschaikowski habe auf sein Leben verzichtet, um
einem Prozess
wegen seiner Affäre mit einem jungen Adligen aus dem Zarenhaus
zu entgehen.
Freunde hätten ihm Gift besorgt, damit er sich keinem Skandal
auszusetzen
brauchte. Wir schwiegen.
Alí zählte
verschiedene berühmte Homosexuelle aus
früheren Jahrhunderten auf, so als wollte er sich
rechtfertigen, und sagte
abschließend, es gebe keinen Unterschied zwischen schwuler
und nicht schwuler
Ästhetik.
Samuel erwiderte: "Was die
Musik angeht, stimmt das
vielleicht, aber bei der Einrichtung unserer Wohnräume legen
wir viel mehr Wert
darauf, dass alles geschmackvoll zusammenpasst, als die Nichtschwulen.
Dass sich
womöglich auch kleine Kinder durch diese Räume
bewegen, ja darin spielen
wollen, daran denken wir freilich nicht. In dieser Hinsicht sind wir
wenig
einfallsreich."
Ich fragte, womit ich zu
Diensten sein könne. Sie
wollten etwas Lustiges für die Zeitschrift ihrer
Fakultät schreiben, die für
gewöhnlich furchtbar steif und ernst daherkomme. Ihrer Ansicht
nach bedienten
sich die Akademiker einer Geheimsprache, um ihr Revier abzugrenzen,
nicht anders
als manche Jugendbanden. Auf diese Weise wüssten sie immer
genau, wer
dazugehört und wer nicht, und wer sich nicht an den gerade
vorgeschriebenen
Jargon halte, werde umgehend aus dem Viertel vertrieben. Von dieser
Zwangsjacke
wollten sie sich befreien.
Ich sagte, es sei einfacher,
etwas Tiefschürfendes zu
verfassen, als einen Beitrag zu liefern, der auf intelligente Weise
humorvoll
ist. Sie sahen sich an. Alí meinte: "Russell sagt, mit der
Erfindung der
Sünde
tötet das Christentum den Humor und die Lust."
"Die Sünde gibt es
schon länger", erwiderte ich,
"der Beitrag des Christentums besteht im seltsamen Sakrament der
Vergebung."
"Reden wir lieber über
Politik." Samuel hatte recht.
Darauf bemühte ich
mich, ihnen Bach
mit
Worten
nahezubringen, was ungefähr so ist, als wollte man
den Klang
einer Träne
zeichnen. Schließlich lernt man Musik nicht - in Musik wird
man eingeweiht.
Doch das Scheitern meiner
Erklärungsversuche war nicht
vergebens: Stattdessen trug ich ihnen nun aus der Erinnerung eine Reihe
von
Stichpunkten vor, die ich mir gelegentlich zum Thema "Ein Mann und zwei
Kühe"
gemacht hatte.
Lachend machten sie sich an
deren Ausarbeitung. Als die
von dem Lutheraner Bach verfasste katholische Messe beim Dona nobis
pacem ankam,
musste ich lächelnd daran denken, dass die Katholiken Bach
für seine Messen
bezahlten, die Protestanten dagegen für seine Passionen.
Als die Messe nun daran ging,
uns die Gottheit zu
verflüssigen und - als ob das nötig wäre -
den Beweis zu erbringen, dass
die Seele belohnt wird, die sich nichts vormacht, wenn sie sich in
stiller
Versenkung übt, waren die beiden weiter mit ihrer Aufgabe
beschäftigt. Als der
Artikel fertig war, lasen wir ihn uns gegenseitig vor; ich erinnere
mich nur
noch an die folgenden Variationen: Jemand besitzt zwei Kühe.
Im Kapitalismus
verkauft er eine der beiden und kauft dafür einen Stier.
Im Kommunismus sowjetischer
Prägung hat er zwei Kühe,
die er versorgen muss, und die Milch geht an die Regierung.
Im Faschismus konfisziert die
Regierung beide Kühe,
stellt ihn an, um die Tiere zu versorgen, und verkauft ihm die Milch.
In der Demokratie hat er zwei
Kühe, und die Nachbarn
entscheiden darüber, wer die Milch bekommt.
Während wir noch
darüber lachten, wies ich sie darauf
hin, dass es längst ganz anders ist, denn überall auf
der Welt trinkt man
heute homogenisierte Milch und lebt in einem Kapitalismus mit
Sozialversicherungen. Das würden sie mit dazuschreiben,
meinten sie, um die
ganze Milchtheorie ordentlich zu verwässern. Und fort waren
sie. (...)
Mauricio
Botero: "Don
Ottos Klassikkabinett"
(Originaltitel "Otto, el vendedor de música)
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, 2009.
Buch
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Don
Otto betreibt einen kleinen
Musikladen in Bogotá. Ob Punker, Partygirl,
Politiker, ins
Zivilleben zurückgekehrter Guerillero, ja selbst
erklärter Musikhasser: Für
jeden legt Don Otto die richtige Musik auf, serviert dazu eine Tasse
duftenden
kolumbianischen Kaffee und lässt sich bereitwillig auf ein
Gespräch ein, das
nicht selten zum sokratischen
Dialog gerät.
Don Otto, als Kenner und Liebender, bringt dabei funkelnde Anekdoten
und
Erkenntnisse aus dem Leben und Werk der Komponisten an den Tag - von
Bach, Bartók
und Beethoven
bis Prokofjew,
Strauss oder Telemann. So erweist sich
"Don
Ottos Klassikkabinett" als vielstimmig klingende Schatztruhe, aus der
sich
jeder schmunzelnd sein Lieblingsstück heraussuchen kann.
Mauricio Botero, geboren 1948 in Bogotá, arbeitete als
Kulturattaché in Buenos
Aires, wo er Freundschaft mit
Jorge Luís Borges schloss. Für den
Essayband
"Cóncavo y convexo" erhielt er 1994 den "Premio Nacional de
Ensayo", für "Don Ottos Klassikkabinett" wurde er 2001 mit dem
"Premio Nacional de Cuento" ausgezeichnet.