(...) Vladimir Kolenko war mit der "Barkola", dem von ihm überaus geschätzten Akkordeon des Kurhauses Kasachstan, in Berlin angekommen. Ludmilla Sergejewna, die im Sanatorium mit den Bunten Abenden befaßt gewesen war, hatte ihm das Instrument leihweise überlassen. Da keiner im Fundus danach suchen würde, weil es keinen mehr gab, der darauf spielte, blieb ihre eigenmächtige Handlung ohne Risiko. Denn auch über die kurenden Kasachen und das von ihrer Heimatrepublik bestellte Haus war der Mangel hereingebrochen. Zahlungen von Löhnen und Betriebskosten standen aus, und nur die diätetisch gebotene Buchweizengrütze blieb weiterhin reichlich bemessen.

Kolenko trug das Akkordeon in einer Stoffhülle wie einen Rucksack auf dem Rücken, während er im Akkordeonkoffer drei Flaschen Wodka und sowjetische Jubiläumsmünzen transportierte. Der Wodka sollte seine Gegengabe für Gefälligkeiten sein, und die Münzen gedachte er an Sammler zu verkaufen. Sein Gepäck hatte irreführende Konturen, da er mit zwei Instrumenten beladen schien. Genauso hätte auch in keinem der Behältnisse ein Instrument stecken müssen.

So sah er sich bald polizeilich aufgefordert, den Koffer zu öffnen, was ihm durch nervösen Übereifer aber mißlang. Er hantierte vergeblich an den Schlössern, und da mit jeder Sekunde seines Hantierens seine Verdächtigkeit wuchs, bat er den Polizisten um ein Messer. Es endete aber alles gut, und Kolenko, der den Koffer unversehrt in die Durchleuchtungsröhre hatte schieben dürfen, nahm den gnädigen Polizisten für ein Omen des Willkommens.

Er tauschte zehn Dollar ein. Das Geld stammte aus dem Erlös seiner Frau als wagemutiger Händlerin. In seiner Vorstellung mußte ihre Reise voller kränkender Momente gewesen sein, dazu brauchte er nur die beredten Männer des kaukasischen Südens vor sich Revue passieren lassen. Galina Alexandrowna hatte alle Schulden tilgen können, hatte den Schwestern die Vermittlungssumme gezahlt und ihm den Fortgang nach Berlin.

Anfangs ängstigte ihn der Gedanke, einzutauchen in das unbekannte Berlin, so daß er den Flughafen kaum zu verlassen wagte. Er fürchtete, sich zu verirren. Jeder falsche Schritt hätte eine unwägbare Ausgabe bedeutet, etwas von dem Geld kosten können, das ihm heilig war und das er nur vermehren wollte. Zur Einübung in die Fremde setzte er sich in die S-Bahn und fuhr, einer Eingebung folgend, zwölf Stationen. Er befand sich nun an der Jannowitzbrücke. Und für einen Ort, den er nach einem inneren Lotteriesystem sich selber zugewiesen hatte, war es ein Treffer, der ihm nach fünf Stunden Spiel schon siebzig Mark einbringen sollte.

Am Abend fand sich Kolenko wieder in der Wartehalle des Flughafens ein, wo er sich gegen Mitternacht, das Akkordeon unter dem Kopf, ausstreckte und bis sieben Uhr schlief. Danach ließ ihn die Morgentoilette das unbequeme Nachtlager vergessen. Sie war ein Ereignis unter vollstrahligen Wasserhähnen, die unerschöpflich flössen in allen gewünschten Temperaturnuancen, so daß er neben der körperlichen auch eine technische Erquickung empfand. (...)


(Aus "Der Akkordeonspieler. Wahre Geschichten aus vier Jahrzehnten" 
von Marie-Luise Scherer.)

Marie-Luise Scherers Geschichten gehören zum Kernbestand der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Leise, aber mit gespannten Sehnen, kommen in ihren Texten die Katastrophen daher, so, dass man als Leser erstaunt, und lacht, und erschrickt.
Scherers erste Buchveröffentlichung seit vielen Jahren gleicht einem Zeit-Trichter. Ihr Sog lässt den Leser zurückstürzen in ein kriminelles und glamouröses Paris der 1980er und in ein verschwundenes Westdeutschland der 1970er Jahre, wo er dem RAF-Anwalt Otto Schily ebenso begegnet wie Alice Grün, die sich im Teufelsbruch die Hörner abläuft. Marie-Luise Scherer ist, mit einem Wort, die Historikerin des ungeheuren Alltags.
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