David Guterson: "Unsere Liebe Frau vom Wald"
Wahnsinn und Wallfahrtsorte
"Ann
von Oregon" auf den Spuren der Heiligen Bernadette
Soubirous?
Der 1956 in Seattle geborene Autor David Guterson, früher als
Lehrer tätig, wurde 1995 mit seinem Roman "Schnee, der auf
Zedern fällt" schlagartig bekannt. Die Leserschaft zeigte sich
von der atmosphärischen Dichte des Werks angetan, und auch die
Verfilmung aus dem Jahr 1999 trug zur Berühmtheit David
Gutersons bei.
"Die historischen Berichte von Marienerscheinungen folgen ihren eigenen Konventionen. Ein Kind, gewöhnlich ein Mädchen, gewöhnlich arm, hat eine Vision, die Skepsis auslöst. Es gibt eine Woge öffentlicher Zustimmung, die sich gegen eine skeptische offizielle Haltung der Kirche richtet. Ich habe nur versucht, all das in eine Geschichte zu verwandeln und es auf das Amerika von heute zu übertragen." (David Guterson) |
In "Unsere Liebe Frau vom Wald", seinem dritten Roman, wendet sich Guterson der Sehnsucht nach Wundern, der Suche nach Erlösung, nach Glückseligkeit, der Verführbarkeit zu, er beleuchtet Mechanismen religiöser Fanatisierung ebenso wie die gnadenlose Vermarktung von Phänomenen und die Gesetzmäßigkeiten der hysterischen us-amerikanischen Mediengesellschaft und ihrer Sensationsgier. Wohl nicht zuletzt deshalb wirkt der Roman stellenweise wie eine zwischen trostlosen Kulissen angesiedelte Reportage. |
"Die
erste Erscheinung - am 10. November um drei Uhr nachmittags - geschah,
während Ann einen Pilz säuberte."
Ann Holmes, die sechzehnjährige
drogenabhängige Ausreißerin, asthmakrank und von
Allergien geplagt, wohnt auf einem heruntergekommenen Campingplatz im
Staat Washington, wo sich nicht einmal mehr Fuchs und Has' gute Nacht
sagen. Ann wurde vom Freund ihrer Mutter sexuell missbraucht, hat
Abtreibungen hinter sich und ist von daheim weggelaufen. Sie bestreitet
ihren Lebensunterhalt vom Verkaufserlös selbst gesammelter
Pilze.
Eines Tages,
im
November des Jahres 1999, hat die nicht Getaufte
während des Schwammerlsuchens eine Vision: die "Liebe Frau vom
Wald" erscheint ihr ebendort und erteilt Ann den Auftrag, eine Kirche
errichten zu lassen. Hat Ann zu viele halluzinogene Pilze verspeist,
oder handelt es sich um ein Wunder?
Ann erzählt den Menschen in ihrer Umgebung von ihrem Erlebnis,
und die Kunde von der Marienerscheinung breitet sich wie ein Lauffeuer
aus. Scharen von Pilgertouristen sind die Folge, und das verwahrloste
Holzfällerkaff sieht sich mit bislang unbekannten Problemen
konfrontiert; auch der Wald nimmt Schaden. Unverkennbar ist etwas faul
im Bundesstaat Washington.
Widerstreitende Interessensgruppen bilden sich. Auf der einen Seite all
jene, die voll Inbrunst glauben (wollen) - dies aus unterschiedlichen
Gründen (Katholiken versus Geschäftemacher) - auf der
anderen die Skeptiker, denen die medial transportierte Massenhysterie
und der Devotionalienhandel zuwider sind. Der Keim des Chaos
hat einen Nährboden gefunden und Wurzeln geschlagen:
Pfarrer Collins hegt fleischliche Gelüste gegenüber
der schutzbedürftigen Ann, der Holzfäller Tom Cross
erhofft die Wunderheilung seines nach einem Unfall
querschnittsgelähmten Sohnes durch die Marienerscheinung, Anns
selbsternannte "PR-Beauftragte", Carolyn Greer, schlägt
ungeniert nach allen Regeln der Kunst Kapital aus der Begeisterung um
die Erscheinungen ihrer Freundin und bereichert sich schamlos. Namens
der katholischen Kirche soll ein Priester das Wunder begutachten bzw.
dieses als Sinnestäuschung entlarven.
Die gierige Carolyn entdeckt - spät aber doch - ihr Gewissen,
die moderne Kirche im Wald wird schlussendlich eingeweiht, Ann Holmes
profitiert nicht mehr vom Aufschwung; sie ist ihren Leiden erlegen.
David Guterson erzählt in leicht lesbarem Stil routiniert von
der Eigendynamik der Ereignisse, wenngleich er mit "Unsere Liebe Frau
vom Wald" nicht das Niveau von "Schnee, der auf Zedern fällt"
erreicht.
Als weitere Lektüre empfehlen sich bei Interesse "Das Lied von
Bernadette" von Franz Werfel und Émile Zolas
"Lourdes".
(Felix; 01/2005)
David Guterson: "Unsere Liebe Frau vom Wald"
(Originaltitel
"Our Lady of the Forest")
Aus dem Amerikanischen von Anne Rademacher.
Gebundene Ausgabe:
C. Bertelsmann, 2004. 448 Seiten.
ISBN 3-570-00815-0.
ca. EUR 23,60.
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Hörbuch (gekürzte
Lesung; Sprecherin: Gudrun Landgrebe):
Random House Audio, 2004. 6 Audio-CDs, mit Beiheft. Laufzeit ca. 420
Minuten.
ISBN
ca. EUR 30,-.
Hörbuch bei amazon.de bestellen
Lien:
https://www.lourdes-france.org/
Weitere
Bücher von David Guterson:
"Schnee, der auf Zedern fällt"
Im Jahre 1954 wird der Fischer Kabuo Miyamoto wegen Mordes
vor Gericht gestellt. Er soll seinen Jugendfreund Carl Heine umgebracht
haben. Ishmael Chambers, Redakteur der einzigen Zeitung auf der Insel
San Piedro, versucht das Verbrechen aufzuklären. Schritt um
Schritt rekonstruiert der Roman die alte Familienfehde, auf die das
Verbrechen offenbar zurückgeht. Ein poetisches und zugleich
enorm spannendes Buch.
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Der Roman wurde unter der Regie von
Scott Hicks verfilmt; als Darsteller fungierten u.a. Ethan Hawke, James
Cromwell und Max von Sydow.
Film
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"Östlich
der Berge"
In seinem zweiten Roman erzählt Guterson die
Geschichte des krebskranken Herzchirurgen Ben Givens, der noch einmal
auf Jagd gehen und dann in den Bergen nordöstlich von
Washington seinem Leben ein Ende setzen will. Doch das Schicksal hat
Anderes vor. Er wird in einen Unfall verwickelt, begegnet Menschen in
Not und erkennt schließlich, dass jeder Tag voller Leben ein
Geschenk ist.
Buch bei
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"Das
Land vor uns, das Land hinter uns"
Wie in seinem großen Roman "Schnee, der auf Zedern
fällt" erzählt David Guterson in zehn Geschichten von
der abgeschiedenen Welt an der amerikanischen Pazifikküste.
Es sollte nur ein ganz harmloser Ausflug in die Berge werden.
Silberforellen wollten der sechzehnjährige Roy und sein
jüngerer Bruder Lane fangen, als sie zum Echo Canyon zogen.
Doch mit den Fischen haben sie kein Glück und auch nicht mit
den drei Männern, die ihren Weg kreuzen. Die Männer
bedrohen sie und zum ersten Mal spüren sie Todesangst. David
Guterson erzählt von motivlosen Grausamkeiten, dem Ende der
Jugend und den Dingen, die das Leben aus der Bahn bringen.
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Noch
ein Buchtipp:
Franz Werfel: "Das Lied von Bernadette"
Keine
andere Heiligenlegende im 20. Jahrhundert hat so viel Resonanz gefunden
wie Werfels Hohelied auf Bernadette Soubirous, dieses kleine
Mädchen vom Lande, dem, wie es hier heißt, die
"Dame" erscheint. Werfel zeichnet das Wunder nach, aber mit gleicher
Intensität auch den weltlichen wie den kirchlichen Zweifel an
einem solchen Geschehen, bis die Kirche es schließlich
anerkennt und Bernadette 1933 heiligspricht.
"Ich habe es gewagt, das Lied von Bernadette zu singen, obwohl ich kein
Katholik bin, sondern Jude. Den Mut zu diesem Unternehmen gab mir ein
weit älteres und viel unbewussteres Gelübde. Schon in
den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir
zugeschworen, immer und überall durch meine Schriften zu
verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche
Heiligkeit - des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und
Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten unseres
Lebens."
(Franz Werfel, Los Angeles, im Mai 1941)
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Leseprobe:
Verkündigung
10. November - 13. November 1999
An jenem Tag war das Mädchen im Wald, um Pfifferlinge zu
sammeln, die es bei Einbruch der Dunkelheit in der Stadt verkaufen
wollte. Ihren eigenen und den Berichten der anderen Bewohner des
Campingplatzes von North Fork zufolge, die später vom
Diözesanausschuss befragt werden sollten, von Pfarrer Collins
von der Kirche St. Joseph in North Fork, vom Gesandten des Bischofs und
den Reportern, die über die angeblichen Erscheinungen
schrieben - einschließlich der Boulevardjournalisten, die an
die Geschichte herangingen wie an einen Besuch von Marsmenschen oder
die Geburt eines Kindes mit zwei Köpfen -, hatte sie ihren
Zeltplatz vor acht Uhr morgens verlassen und war allein in den Wald
gegangen. Sie trug ein Sweatshirt, dessen Kapuze sie fest um den Kopf
gezurrt hatte. Über ihre Absichten hatte das Mädchen
mit niemandem gesprochen. Ziellos streifte sie durch einen Ahorngrund
und ein Erlengehölz, überquerte auf einem morschen
Baumstamm einen Graben und stieg dann einen Hang hoch, der in den
tiefen Regenwald führte, in dem sie ernsthaft mit dem
Pilzesammeln begann.
Unterwegs aß das Mädchen Kartoffelchips und kniete
zum Trinken an Bächen nieder. Sie schluckte das Antihistamin
gegen ihre Allergien. Während sie nach Pilzen Ausschau hielt,
lauschte sie der einsamen Musik der Vögel und blieb - wie sie
später Pfarrer Collins beichtete - zweimal stehen, um zu
masturbieren. Der Tag war ruhig, es gab weder Regen noch Nebel, und
kein Windhauch bewegte die Äste der Bäume. Es war
genau die Art Stille, bei der die Zeit stehen bleibt oder es dem
Wanderer so erscheint. Das Mädchen pausierte oft, um
über dieses Phänomen nachzudenken und ihre Einsamkeit
ganz bewusst wahrzunehmen. Sie kniete nieder und betete den Rosenkranz
- es war Mittwoch, der 10. November, deshalb sprach sie die Glorreichen
Geheimnisse -, dann folgte sie einer Elchroute und kam in ein Gebiet,
in dem sie noch nie zuvor gewesen war oder an das sie sich zumindest
nicht erinnerte, eine Ebene mit hohen Douglaskiefern, die von Windwurf
und Weinahorn, an dem lange Hexenhaarflechten hingen, fast erstickt
wurden. Hier legte sie sich in ein Moosbeet und träumte, dass
sie im
Moos lag und ein Schatten oder eine Gestalt - ein Raubvogel,
ein leuchtender Mensch - sich von oben auf sie stürzte.
Als sie wieder aufstand, entdeckte sie zwischen den
Leberblümchen, die im Schatten von Windbruch wuchsen,
Pfifferlinge. Sie schnitt sie weit unten am Stiel ab, rieb sie sauber
und legte sie vorsichtig in den Eimer. Lange Zeit pflückte sie
ohne Unterbrechung, wobei sie immer tiefer in den Wald geriet, und
freute sich über den trockenen Tag, der ihr genügend
Pilze bescherte, um ihren Ausflug zu rechtfertigen. Wie gebannt lief
sie immer weiter.
Mittags las sie in ihrem Taschenkatechismus, dann betete sie - Unser
tägliches Brot gib uns heute -, bekreuzigte sich und
aß noch mehr Kartoffelchips und zwei Schokoladendonuts.
Während sie sich ausruhte, hörte sie den Ruf einer
Drossel, doch schwach, verhalten und wie aus weiter Ferne. Das
Sonnenlicht fiel jetzt in schrägem Winkel durch die
höchsten Äste. Sie suchte sich einen breiten, starken
Strahl, in dem Tüpfel von Staub und feiner Waldstreu tanzten,
legte sich in die flirrende Wärme und schaute in den Himmel.
Wieder schlief sie ein, und wieder träumte sie, diesmal von
einer Frau, die verstohlen durch die Bäume huschte und in der
Dunkelheit leuchtete, als würde sie von einem Scheinwerfer
angestrahlt. Sie befahl ihr, vom Boden aufzustehen und wieder
Pfifferlinge zu suchen.
Das Mädchen erhob sich und lief weiter. Ohne es richtig zu
bemerken, hatte sie die Orientierung verloren, und die beiden seltsamen
Träume verstörten sie. Da sie wieder einen Anflug von
Lust verspürte, legte sie im Gehen gedankenlos eine Hand
zwischen die Beine. Sie überlegte, ob sie sich eine
Erkältung oder die Grippe eingefangen hatte. Auch ihre
Allergien und ihr Asthma schienen schlimmer geworden zu sein. Sie hatte
ihre Periode bekommen.
In den Zeitungen hieß es, ihr Name sei Ann Holmes, nach der
Großmutter mütterlicherseits, die eine Woche vor
Anns Geburt an Sepsis und Lungenentzündung gestorben war. Ann
und ihre Mutter, die bei Anns Geburt fünfzehn war, lebten in
ständig wechselnden Mitunterkünften bei Anns
Großvater, einem Fernkraftfahrer mit kompliziert
verschlungenen Spielschulden. In den Zeitungen stand jedoch nichts
davon, dass der Freund ihrer Mutter, ein Ecstasysüchtiger, Ann
seit ihrem vierzehnten Lebensjahr regelmäßig
vergewaltigt hatte. Danach lag er dann neben ihr, das bartlose
längliche Gesicht zu einer grotesken Leidensmiene verzerrt.
Manchmal weinte er oder entschuldigte sich, aber meistens drohte er
damit, sie zu töten.
Als Ann fünfzehn war, nahm sie Fahrstunden, von denen sie nur
eine verpasste, an dem Freitagnachmittag, an dem sie ihre Abtreibung
hatte. Acht Monate später ging nach einem Anfall von
Übelkeit in der Toilette eines Minimart ihr zweiter Fetus ab.
An ihrem sechzehnten Geburtstag kaufte sie für die
dreihundertfünfzig Dollar, die sie mit dem Sammeln von
Trüffeln und Pfifferlingen verdient hatte, ein
zweitüriges Auto, dessen Karosserie an mehr als einer Stelle
verbeult und verzogen war. Am nächsten Morgen fuhr sie fort.
Ann war klein und zierlich, und wenn sie ihre Sweatshirtkapuze
über den Kopf zog, hätte man sie leicht für
einen hellhäutigen und verträumten
zwölfjährigen Jungen halten können. Oft
keuchte sie asthmatisch, nieste leise, schnäuzte sich und
hustete in die Faust oder in die offene Hand. Morgens waren ihre Jeans
fast immer feucht vom Regen oder vom Tau, der von den Farnwedeln
tropfte, und ihre Hände sahen rau und rötlich aus.
Sie roch nach Holzrauch, Laub und dreckigen Klamotten und lebte seit
einem Monat auf dem Campingplatz von North Fork in einem Zelt am Fluss.
Die anderen Platzbewohner erzählten den Reportern, dass sie
eine Plastikplane mit ein paar Schnüren festgespannt habe,
unter der sie oft an einen Baumstamm gelehnt saß und im Licht
des Feuers las. Die meisten beschrieben sie als still und
schüchtern, aber nicht unsympathisch, unangenehm auffallend
oder in ihrer Zurückhaltung bedrohlich. Denjenigen, die ihr in
jenem Herbst im Wald begegneten - meist andere Pilzsammler, aber auch
Elch- und Hirschjäger und einmal ein Holzmesser der Stinson
Company -, waren ihre Unscheinbarkeit und der misstrauische Blick unter
der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze aufgefallen.
Eine Pilzsammlerin namens Carolyn Greer, die in einem Wohnwagen auf dem
Campingplatz von North Fork lebte, behauptete, sie habe an einem Abend
gegen Mitte Oktober mit Ann Holmes zu Abend gegessen. Sie
hätten sich Suppe, Brot und Dosenpfirsiche geteilt und
über Alltägliches gesprochen, aber kein Wort
über sich selbst und ihre persönlichen Geschichten
verloren. Ann habe nicht viel zu sagen gehabt. Die meiste Zeit habe sie
in ihrem Suppentopf gerührt, zugehört und ins Feuer
gestarrt. Sie erwähnte allerdings ihr Auto, das ihr Sorgen
machte und dessen Getriebe so kaputt war, dass sie keine Gänge
mehr einlegen oder es von der Stelle bewegen konnte. Die Batterie war
am Ende, und die Windschutzscheibe und übrigen Fenster
schienen für alle Zeiten von einem undurchsichtigen,
hartnäckigen Schleier bedeckt zu sein. Der Wagen stand neben
ihrem Zelt und war von herabgefallenen Zedernnadeln
übersät. Auf beiden Sitzen türmten sich
Plastiktüten, Papiersäcke und Pappschachteln, in
denen sie ihre Habseligkeiten aufbewahrte.
Dass sie zusammen gekifft hatten, während die Suppe
köchelte, erzählte Carolyn dem Gesandten des Bischofs
nicht. Zum einen ging das niemanden etwas an, und zum anderen
wäre sie dann mit hineingezogen worden. Carolyn rauchte
regelmäßig Pot. Es überraschte sie, dass
Ann nach ein paar Zügen nicht lockerer und redseliger wurde,
wie die meisten Menschen, die bekifft an einem Lagerfeuer hockten.
Stattdessen wurde sie noch zurückhaltender,
unzugänglicher und verschlossener. Ihr Gesicht verschwand ganz
unter der Kapuze ihres Sweatshirts. Wenn man sie ansprach, antwortete
sie knapp, aber höflich und stocherte dabei ununterbrochen in
den Holzkohlen herum. Ihr einziges Thema war ihr kaputtes Auto.
Ann war nichts anderes übrig geblieben, als auf den
öffentlichen Bus auszuweichen, der eine halbe Meile vom
Campingplatz entfernt an einem Laden anhielt und sie für
fünfundachtzig Cents bis vor den MarketTime in North Fork
brachte. Der Busfahrer sagte aus, dass sie immer mit passend
abgezähltem Kleingeld bezahlte, manchmal auch mit Pennys, und
seinen Gruß freundlich erwiderte. Einmal sprach er sie auf
die Pilze in ihrem Eimer an und kommentierte deren Menge,
Größe und goldenen Schimmer. Da hatte sie ihm ein
paar geschenkt und sie lose in ein Stück Zeitungspapier
geschlagen, das sie hinten im Bus gefunden hatte. Auf dem Highway
lehnte sie den Kopf gegen das Fenster und schlief. Oft las sie auch in
einem Taschenbuch, das er irgendwann als Katechismus ausmachte. Wenn
sie in der Stadt ausstieg, hatte sie die Kapuze immer noch
über dem Kopf und sagte Danke oder Auf Wiedersehen.
Ein halbes Dutzend Mal hatte sie sich von einem Pilz- und Reisigsammler
namens Steven Mossberger mitnehmen lassen, der einen dichten Bart, eine
dunkle Brille und eine Wollmütze trug, die er sich weit
über die Stirn zog. Als er sie eines Nachmittags mit einem
Eimer voller Pfifferlinge die Straße entlangwandern sah,
hatte Mossberger das Fenster seines Pick-ups heruntergekurbelt und ihr
erklärt, dass er auf demselben Campingplatz wie sie lebte und
ebenfalls Pilze sammelte. Dann hatte er angeboten, sie mitzunehmen. Ann
hatte ganz ruhig abgelehnt. Nein, danke, hatte sie gesagt. Es geht
schon.
Als er sie das nächste Mal traf, es war gegen Ende Oktober,
hielt er in der Dämmerung und bei Nieselregen neben ihr und
sie nahm sein Angebot ohne zu zögern an. Er lehnte sich
über den Beifahrersitz, um die Tür
aufzustoßen, und sie stieg ein. Sie roch nach nassen Kleidern
und Pilzen, stellte den Eimer mit den Pfifferlingen auf ihren
Schoß und sagte, es sei ein wenig feucht draußen.
Woher kommst du?, fragte Mossberger.
Unten aus Oregon. Nicht weit von der Küste.
Wie heißt du?
Sie nannte ihm ihren Vornamen. Er nannte seinen vollen Namen und
reichte ihr die Hand zum Gruß, den sie sanft erwiderte.
Später redete er sich ein, dies sei ein spirituell
aufgeladener Moment gewesen, und er habe die Hand Gottes
gespürt, als er ihre Hand in die seine nahm. So beschrieb er
es dem Diözesanausschuss und dem Gesandten des Bischofs: Eine
Hand, die mehr war als andere Hände, sagte er, und ihn mit
etwas in Verbindung brachte, das über sein normales Leben weit
hinausging. Insgeheim war ihm aber durchaus klar, dass es vermutlich
nichts anderes als der leichte Kitzel war, den ein Mann
verspürt, wenn er einer Frau die Hand schüttelt.
In North Fork verkaufte Ann ihre Pilze an Bob Frame, einen Mechaniker,
der sich auf Maschinen für die Holzwirtschaft spezialisiert
hatte und nebenbei einen Pilzhandel betrieb. Obwohl er sonst ein
ziemlich redseliger und zum Scherzen aufgelegter Mensch war, antwortete
er dem ersten Journalisten, der ihn ausfragte, instinktiv einsilbig und
herablassend. Die Pilze des Mädchens, so Frame, seien immer
tadellos gesäubert gewesen, außerdem hätten
ihre Eimer selten Ausschussware enthalten. Nur einmal, an einem Abend,
an dem es stark geregnet hatte, habe sie den Kaffee getrunken, den er
immer gratis für seine Sammler bereitstellte. Ein paar Minuten
lang hatte sie am elektrischen Heizofen gesessen, an einem
Styroporbecher genippt und ihm dabei zugeschaut, wie er die Pilze auf
Zeitungspapier schichtete und die Ausbeute eines Tages abwog. Als er so
dicht neben ihr arbeitete, hatte er das Gefühl, dass sie schon
lange, vielleicht wochenlang, nicht mehr gebadet oder ihre Kleidung
gewaschen hatte. Er erinnerte sich sehr wohl, dass sie ihren Lohn nicht
in der Hosentasche ihrer Jeans, sondern in einem Lederbeutel
aufbewahrte, den sie um den Hals trug, und dass ihre Schuhe schon sehr
abgetragen waren. An einem löste sich bereits die Sohle,
sodass eine feuchte Wollsocke zum Vorschein kam. Selbst in seinem
Schuppen hatte sie die Kapuze ihres Sweatshirts aufbehalten und die
Hände in dessen Taschen vergraben.
Frame erzählte den Journalisten nicht, dass sie keine
Sozialversicherungsnummer angeben konnte, als er sie danach fragte. Er
hatte bar auf die Hand gezahlt und in seinen Büchern nichts
über Lohnzahlungen an eine Ann Holmes festgehalten, und wegen
dieser kleinen, beunruhigenden Unterlassung ärgerte er sich
jetzt, dass er sich überhaupt zu Ann Holmes
geäußert hatte. Nach diesem einen Mal sprach er nie
wieder mit einem Journalisten und erzählte in der Stadt, der
ständige Medienrummel um diese Visionärin sei ein
Spektakel, zu dem er nicht beitragen wolle, weil es sonst mit seiner
Ruhe vorbei wäre. In Wahrheit war es aber das Schreckgespenst
einer Steuerprüfung, das ihn verstummen ließ,
allerdings vertraute er seiner Frau unter dem Siegel der
Verschwiegenheit an, dass das Mädchen sich einmal den
Lederbeutel vom Hals genommen habe und dabei aus Versehen eine Kette
mit einem Kreuz entblößte, das, wie Bob sagte, in
leuchtendem Gold
geglüht habe.
Von Frames Schuppen ging Ann jeden Abend mit ihrem Eimer zum MarketTime
und machte ein paar Einkäufe. Eine Kassiererin erinnerte sich
an ihre Vorliebe für Zuckerwaffeln, kleine Tüten mit
Schokoladenmilch, Burritos und Starburst Fruchtkaugummis. Sonst fiel
niemandem etwas Besonderes ein, außer dass sie immer ihre
Kapuze trug und das Wechselgeld nachzählte. Öfter als
andere Kunden bat sie um den Schlüssel zur Toilette im
Lagerraum und wusch sich hinterher mit dem Spülmittel am
Mehrzweckbecken die Hände. Manchmal steckte sie ein paar
Pennys in die Sammeldose der Stiftung für
verunglückte Holzfäller.
Anfang November liefen zwei Mädchen aus North Fork, die in den
Wäldern östlich der Stadt Pfifferlinge suchten, Ann
Holmes über den Weg. Sie besuchten die siebte Klasse der
Mittelschule und hatten den ganzen Herbst über das
Pilzesammeln als Vorwand genutzt, um nach der Schule im Wald zu kiffen.
Außer ihren Pilzeimern und Taschenmessern hatten sie noch
einen Beutel Marihuana, eine kleine Pfeife und Streichhölzer
dabei. Da sie auf keinen Fall erwischt werden wollten, sorgten die
vorsichtigen Mädchen, die schon nach dem Genuss einer kleinen
Menge Pot ewig lang kicherten, immer für genügend
Kaugummi, Augentropfen und billiges Parfüm. Außerdem
waren sie die ganze Zeit über geradezu krankhaft angespannt
und schreckten bei jedem Geräusch im Wald zusammen. Schon das
Rufen eines Vogels beunruhigte sie. Ein Flugzeug über ihren
Köpfen oder ein Lastwagen auf weit entfernter Straße
ließ sie wie gelähmt und mit weit aufgerissenen
Augen stehen bleiben.
An jenem Nachmittag waren sie schon eine halbe Stunde lang high,
kicherten wie gewöhnlich und pflückten hier und da
ein paar Pilze, als sie Ann Holmes auf einem Baumstamm hocken und sie
beobachten sahen. Sie hatte die Hände in den Taschen ihres
Sweatshirts vergraben und die Kapuze um die Wangen gezurrt, sodass ihr
Gesicht im Schatten lag. Anfangs dachten die Mädchen, sie sei
ein Junge in ihrem Alter, ein fremder Junge, der nicht aus ihrer Stadt
kam, und selbst als sie nah genug waren, um den von Pfifferlingen
überquellenden Eimer zu sehen, waren sie immer noch unsicher,
ob sie nicht doch ein Junge war, obwohl sie ihr Gesicht jetzt genau
sahen. Beiden war klar, dass sie bekifft waren, und sie
überlegten, ob man es ihrem Verhalten anmerken würde.
Sie bemühten sich, völlig normal zu reagieren. Boah,
sagte die eine. Das ist ’ne Menge.
Ich hätte noch einen Eimer mitbringen sollen.
Wahnsinnig.
Hammerhart.
Ist dir schon mal aufgefallen, dass Eimer sich mit Schleimer reimt?
Crystal.
Wie bitte?
Mein Gott, Crystal.
Klar, reimt sich.
Mein Gott, Crystal. Klar.
Sie kicherten jetzt in abgehackten Stößen,
versuchten aber, sich in den Griff zu bekommen, und schlugen beide die
Hand vor den Mund, um das Lachen zu unterdrücken. Ann lockerte
die Kordel ihres Sweatshirts, schob die Kapuze aus dem Gesicht und
strich sich durch das Haar. Es war kurz, ungekämmt, klebte ihr
am Kopf und hatte die Farbe von altem Stroh. Jetzt sahen die anderen
beiden, dass Ann ein Mädchen war, was nicht so gut ankam wie
ein fremder Junge im Wald, mit dem sie in der Schule hätten
angeben können. Bist du von hier?, fragte die eine.
Ich komme vom Campingplatz.
Wie? Dort geboren?
Sie lachten wieder und hielten sich den Mund zu. Eine von ihnen
wäre fast vornüber gekippt.
Leute, ihr seid ja voll breit, sagte Ann.
Wir sind nicht breit, wir sind total zugeknallt.
Bin echt voll umnebelt.
Voll abgedröhnt.
Ich auch.
Sie hockten sich im Schneidersitz auf den Waldboden. Das
Mädchen, das Crystal hieß, zog ein Kartenspiel
hervor, das andere einen Beutel voll Marihuana.
Ziehen wir noch einen durch, schlug sie vor. Vielleicht ein bisschen,
erwiderte Ann.
Sie rauchten Gras, spielten Karten und aßen dabei eine Stange
rote Lakritze, ein paar Schokolinsen und eine Tüte
Paprikachips. Ann fragte, ob sie an Jesus glaubten. O je, meinte die
eine. Bist du ein Jesusfreak?
Ich wollte nur wissen, ob ihr an Jesus glaubt.
Ich glaube, Jesus isst Apfelmus.
Jesus ist der Grund für jede Stund.
Wieder schlugen sie die Hände vor den Mund. Jesus rettet und
Moses investiert, deshalb schwimmen alle Juden im Geld.
Denen gehört ganz Hollywood. Voll.
Ich muss heim.