David Guterson: "Unsere Liebe Frau vom Wald"

Wahnsinn und Wallfahrtsorte


"Ann von Oregon" auf den Spuren der Heiligen Bernadette Soubirous?

Der 1956 in Seattle geborene Autor David Guterson, früher als Lehrer tätig, wurde 1995 mit seinem Roman "Schnee, der auf Zedern fällt" schlagartig bekannt. Die Leserschaft zeigte sich von der atmosphärischen Dichte des Werks angetan, und auch die Verfilmung aus dem Jahr 1999 trug zur Berühmtheit David Gutersons bei.

"Die historischen Berichte von Marienerscheinungen folgen ihren eigenen Konventionen. Ein Kind, gewöhnlich ein Mädchen, gewöhnlich arm, hat eine Vision, die Skepsis auslöst. Es gibt eine Woge öffentlicher Zustimmung, die sich gegen eine skeptische offizielle Haltung der Kirche richtet. Ich habe nur versucht, all das in eine Geschichte zu verwandeln und es auf das Amerika von heute zu übertragen." (David Guterson)

In "Unsere Liebe Frau vom Wald", seinem dritten Roman, wendet sich Guterson der Sehnsucht nach Wundern, der Suche nach Erlösung, nach Glückseligkeit, der Verführbarkeit zu, er beleuchtet Mechanismen religiöser Fanatisierung ebenso wie die gnadenlose Vermarktung von Phänomenen und die Gesetzmäßigkeiten der hysterischen us-amerikanischen Mediengesellschaft und ihrer Sensationsgier. Wohl nicht zuletzt deshalb wirkt der Roman stellenweise wie eine zwischen trostlosen Kulissen angesiedelte Reportage.

"Die erste Erscheinung - am 10. November um drei Uhr nachmittags - geschah, während Ann einen Pilz säuberte."

Ann Holmes, die sechzehnjährige drogenabhängige Ausreißerin, asthmakrank und von Allergien geplagt, wohnt auf einem heruntergekommenen Campingplatz im Staat Washington, wo sich nicht einmal mehr Fuchs und Has' gute Nacht sagen. Ann wurde vom Freund ihrer Mutter sexuell missbraucht, hat Abtreibungen hinter sich und ist von daheim weggelaufen. Sie bestreitet ihren Lebensunterhalt vom Verkaufserlös selbst gesammelter Pilze.

Eines Tages, im November des Jahres 1999, hat die nicht Getaufte während des Schwammerlsuchens eine Vision: die "Liebe Frau vom Wald" erscheint ihr ebendort und erteilt Ann den Auftrag, eine Kirche errichten zu lassen. Hat Ann zu viele halluzinogene Pilze verspeist, oder handelt es sich um ein Wunder?
Ann erzählt den Menschen in ihrer Umgebung von ihrem Erlebnis, und die Kunde von der Marienerscheinung breitet sich wie ein Lauffeuer aus. Scharen von Pilgertouristen sind die Folge, und das verwahrloste Holzfällerkaff sieht sich mit bislang unbekannten Problemen konfrontiert; auch der Wald nimmt Schaden. Unverkennbar ist etwas faul im Bundesstaat Washington.

Widerstreitende Interessensgruppen bilden sich. Auf der einen Seite all jene, die voll Inbrunst glauben (wollen) - dies aus unterschiedlichen Gründen (Katholiken versus Geschäftemacher) - auf der anderen die Skeptiker, denen die medial transportierte Massenhysterie und der Devotionalienhandel zuwider sind. Der Keim des Chaos hat einen Nährboden gefunden und Wurzeln geschlagen:
Pfarrer Collins hegt fleischliche Gelüste gegenüber der schutzbedürftigen Ann, der Holzfäller Tom Cross erhofft die Wunderheilung seines nach einem Unfall querschnittsgelähmten Sohnes durch die Marienerscheinung, Anns selbsternannte "PR-Beauftragte", Carolyn Greer, schlägt ungeniert nach allen Regeln der Kunst Kapital aus der Begeisterung um die Erscheinungen ihrer Freundin und bereichert sich schamlos. Namens der katholischen Kirche soll ein Priester das Wunder begutachten bzw. dieses als Sinnestäuschung entlarven.
Die gierige Carolyn entdeckt - spät aber doch - ihr Gewissen, die moderne Kirche im Wald wird schlussendlich eingeweiht, Ann Holmes profitiert nicht mehr vom Aufschwung; sie ist ihren Leiden erlegen.

David Guterson erzählt in leicht lesbarem Stil routiniert von der Eigendynamik der Ereignisse, wenngleich er mit "Unsere Liebe Frau vom Wald" nicht das Niveau von "Schnee, der auf Zedern fällt" erreicht.
Als weitere Lektüre empfehlen sich bei Interesse "Das Lied von Bernadette" von Franz Werfel und Émile Zolas "Lourdes".

(Felix; 01/2005)


David Guterson: "Unsere Liebe Frau vom Wald"
(Originaltitel "Our Lady of the Forest")
Aus dem Amerikanischen von Anne Rademacher.
Gebundene Ausgabe:
C. Bertelsmann, 2004. 448 Seiten.
ISBN 3-570-00815-0.
ca. EUR 23,60.

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Hörbuch (gekürzte Lesung; Sprecherin: Gudrun Landgrebe):
Random House Audio, 2004. 6 Audio-CDs, mit Beiheft. Laufzeit ca. 420 Minuten.
ISBN 3-89830-783-2.
ca. EUR 30,-. Hörbuch bei amazon.de bestellen

Lien:
https://www.lourdes-france.org/

Weitere Bücher von David Guterson:

"Schnee, der auf Zedern fällt"
Im Jahre 1954 wird der Fischer Kabuo Miyamoto wegen Mordes vor Gericht gestellt. Er soll seinen Jugendfreund Carl Heine umgebracht haben. Ishmael Chambers, Redakteur der einzigen Zeitung auf der Insel San Piedro, versucht das Verbrechen aufzuklären. Schritt um Schritt rekonstruiert der Roman die alte Familienfehde, auf die das Verbrechen offenbar zurückgeht. Ein poetisches und zugleich enorm spannendes Buch.
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Der Roman wurde unter der Regie von Scott Hicks verfilmt; als Darsteller fungierten u.a. Ethan Hawke, James Cromwell und Max von Sydow.
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"Östlich der Berge"
In seinem zweiten Roman erzählt Guterson die Geschichte des krebskranken Herzchirurgen Ben Givens, der noch einmal auf Jagd gehen und dann in den Bergen nordöstlich von Washington seinem Leben ein Ende setzen will. Doch das Schicksal hat Anderes vor. Er wird in einen Unfall verwickelt, begegnet Menschen in Not und erkennt schließlich, dass jeder Tag voller Leben ein Geschenk ist.
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"Das Land vor uns, das Land hinter uns"
Wie in seinem großen Roman "Schnee, der auf Zedern fällt" erzählt David Guterson in zehn Geschichten von der abgeschiedenen Welt an der amerikanischen Pazifikküste.
Es sollte nur ein ganz harmloser Ausflug in die Berge werden. Silberforellen wollten der sechzehnjährige Roy und sein jüngerer Bruder Lane fangen, als sie zum Echo Canyon zogen. Doch mit den Fischen haben sie kein Glück und auch nicht mit den drei Männern, die ihren Weg kreuzen. Die Männer bedrohen sie und zum ersten Mal spüren sie Todesangst. David Guterson erzählt von motivlosen Grausamkeiten, dem Ende der Jugend und den Dingen, die das Leben aus der Bahn bringen.
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Noch ein Buchtipp:

Franz Werfel: "Das Lied von Bernadette"
Keine andere Heiligenlegende im 20. Jahrhundert hat so viel Resonanz gefunden wie Werfels Hohelied auf Bernadette Soubirous, dieses kleine Mädchen vom Lande, dem, wie es hier heißt, die "Dame" erscheint. Werfel zeichnet das Wunder nach, aber mit gleicher Intensität auch den weltlichen wie den kirchlichen Zweifel an einem solchen Geschehen, bis die Kirche es schließlich anerkennt und Bernadette 1933 heiligspricht.
"Ich habe es gewagt, das Lied von Bernadette zu singen, obwohl ich kein Katholik bin, sondern Jude. Den Mut zu diesem Unternehmen gab mir ein weit älteres und viel unbewussteres Gelübde. Schon in den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir zugeschworen, immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit - des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten unseres Lebens."
(Franz Werfel, Los Angeles, im Mai 1941)
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Leseprobe:

Verkündigung
10. November - 13. November 1999

An jenem Tag war das Mädchen im Wald, um Pfifferlinge zu sammeln, die es bei Einbruch der Dunkelheit in der Stadt verkaufen wollte. Ihren eigenen und den Berichten der anderen Bewohner des Campingplatzes von North Fork zufolge, die später vom Diözesanausschuss befragt werden sollten, von Pfarrer Collins von der Kirche St. Joseph in North Fork, vom Gesandten des Bischofs und den Reportern, die über die angeblichen Erscheinungen schrieben - einschließlich der Boulevardjournalisten, die an die Geschichte herangingen wie an einen Besuch von Marsmenschen oder die Geburt eines Kindes mit zwei Köpfen -, hatte sie ihren Zeltplatz vor acht Uhr morgens verlassen und war allein in den Wald gegangen. Sie trug ein Sweatshirt, dessen Kapuze sie fest um den Kopf gezurrt hatte. Über ihre Absichten hatte das Mädchen mit niemandem gesprochen. Ziellos streifte sie durch einen Ahorngrund und ein Erlengehölz, überquerte auf einem morschen Baumstamm einen Graben und stieg dann einen Hang hoch, der in den tiefen Regenwald führte, in dem sie ernsthaft mit dem Pilzesammeln begann.
Unterwegs aß das Mädchen Kartoffelchips und kniete zum Trinken an Bächen nieder. Sie schluckte das Antihistamin gegen ihre Allergien. Während sie nach Pilzen Ausschau hielt, lauschte sie der einsamen Musik der Vögel und blieb - wie sie später Pfarrer Collins beichtete - zweimal stehen, um zu masturbieren. Der Tag war ruhig, es gab weder Regen noch Nebel, und kein Windhauch bewegte die Äste der Bäume. Es war genau die Art Stille, bei der die Zeit stehen bleibt oder es dem Wanderer so erscheint. Das Mädchen pausierte oft, um über dieses Phänomen nachzudenken und ihre Einsamkeit ganz bewusst wahrzunehmen. Sie kniete nieder und betete den Rosenkranz - es war Mittwoch, der 10. November, deshalb sprach sie die Glorreichen Geheimnisse -, dann folgte sie einer Elchroute und kam in ein Gebiet, in dem sie noch nie zuvor gewesen war oder an das sie sich zumindest nicht erinnerte, eine Ebene mit hohen Douglaskiefern, die von Windwurf und Weinahorn, an dem lange Hexenhaarflechten hingen, fast erstickt wurden. Hier legte sie sich in ein Moosbeet und träumte, dass sie im Moos lag und ein Schatten oder eine Gestalt - ein Raubvogel, ein leuchtender Mensch - sich von oben auf sie stürzte.
Als sie wieder aufstand, entdeckte sie zwischen den Leberblümchen, die im Schatten von Windbruch wuchsen, Pfifferlinge. Sie schnitt sie weit unten am Stiel ab, rieb sie sauber und legte sie vorsichtig in den Eimer. Lange Zeit pflückte sie ohne Unterbrechung, wobei sie immer tiefer in den Wald geriet, und freute sich über den trockenen Tag, der ihr genügend Pilze bescherte, um ihren Ausflug zu rechtfertigen. Wie gebannt lief sie immer weiter.
Mittags las sie in ihrem Taschenkatechismus, dann betete sie - Unser tägliches Brot gib uns heute -, bekreuzigte sich und aß noch mehr Kartoffelchips und zwei Schokoladendonuts. Während sie sich ausruhte, hörte sie den Ruf einer Drossel, doch schwach, verhalten und wie aus weiter Ferne. Das Sonnenlicht fiel jetzt in schrägem Winkel durch die höchsten Äste. Sie suchte sich einen breiten, starken Strahl, in dem Tüpfel von Staub und feiner Waldstreu tanzten, legte sich in die flirrende Wärme und schaute in den Himmel. Wieder schlief sie ein, und wieder träumte sie, diesmal von einer Frau, die verstohlen durch die Bäume huschte und in der Dunkelheit leuchtete, als würde sie von einem Scheinwerfer angestrahlt. Sie befahl ihr, vom Boden aufzustehen und wieder Pfifferlinge zu suchen.
Das Mädchen erhob sich und lief weiter. Ohne es richtig zu bemerken, hatte sie die Orientierung verloren, und die beiden seltsamen Träume verstörten sie. Da sie wieder einen Anflug von Lust verspürte, legte sie im Gehen gedankenlos eine Hand zwischen die Beine. Sie überlegte, ob sie sich eine Erkältung oder die Grippe eingefangen hatte. Auch ihre Allergien und ihr Asthma schienen schlimmer geworden zu sein. Sie hatte ihre Periode bekommen.

In den Zeitungen hieß es, ihr Name sei Ann Holmes, nach der Großmutter mütterlicherseits, die eine Woche vor Anns Geburt an Sepsis und Lungenentzündung gestorben war. Ann und ihre Mutter, die bei Anns Geburt fünfzehn war, lebten in ständig wechselnden Mitunterkünften bei Anns Großvater, einem Fernkraftfahrer mit kompliziert verschlungenen Spielschulden. In den Zeitungen stand jedoch nichts davon, dass der Freund ihrer Mutter, ein Ecstasysüchtiger, Ann seit ihrem vierzehnten Lebensjahr regelmäßig vergewaltigt hatte. Danach lag er dann neben ihr, das bartlose längliche Gesicht zu einer grotesken Leidensmiene verzerrt. Manchmal weinte er oder entschuldigte sich, aber meistens drohte er damit, sie zu töten.
Als Ann fünfzehn war, nahm sie Fahrstunden, von denen sie nur eine verpasste, an dem Freitagnachmittag, an dem sie ihre Abtreibung hatte. Acht Monate später ging nach einem Anfall von Übelkeit in der Toilette eines Minimart ihr zweiter Fetus ab. An ihrem sechzehnten Geburtstag kaufte sie für die dreihundertfünfzig Dollar, die sie mit dem Sammeln von Trüffeln und Pfifferlingen verdient hatte, ein zweitüriges Auto, dessen Karosserie an mehr als einer Stelle verbeult und verzogen war. Am nächsten Morgen fuhr sie fort.
Ann war klein und zierlich, und wenn sie ihre Sweatshirtkapuze über den Kopf zog, hätte man sie leicht für einen hellhäutigen und verträumten zwölfjährigen Jungen halten können. Oft keuchte sie asthmatisch, nieste leise, schnäuzte sich und hustete in die Faust oder in die offene Hand. Morgens waren ihre Jeans fast immer feucht vom Regen oder vom Tau, der von den Farnwedeln tropfte, und ihre Hände sahen rau und rötlich aus. Sie roch nach Holzrauch, Laub und dreckigen Klamotten und lebte seit einem Monat auf dem Campingplatz von North Fork in einem Zelt am Fluss. Die anderen Platzbewohner erzählten den Reportern, dass sie eine Plastikplane mit ein paar Schnüren festgespannt habe, unter der sie oft an einen Baumstamm gelehnt saß und im Licht des Feuers las. Die meisten beschrieben sie als still und schüchtern, aber nicht unsympathisch, unangenehm auffallend oder in ihrer Zurückhaltung bedrohlich. Denjenigen, die ihr in jenem Herbst im Wald begegneten - meist andere Pilzsammler, aber auch Elch- und Hirschjäger und einmal ein Holzmesser der Stinson Company -, waren ihre Unscheinbarkeit und der misstrauische Blick unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze aufgefallen.
Eine Pilzsammlerin namens Carolyn Greer, die in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz von North Fork lebte, behauptete, sie habe an einem Abend gegen Mitte Oktober mit Ann Holmes zu Abend gegessen. Sie hätten sich Suppe, Brot und Dosenpfirsiche geteilt und über Alltägliches gesprochen, aber kein Wort über sich selbst und ihre persönlichen Geschichten verloren. Ann habe nicht viel zu sagen gehabt. Die meiste Zeit habe sie in ihrem Suppentopf gerührt, zugehört und ins Feuer gestarrt. Sie erwähnte allerdings ihr Auto, das ihr Sorgen machte und dessen Getriebe so kaputt war, dass sie keine Gänge mehr einlegen oder es von der Stelle bewegen konnte. Die Batterie war am Ende, und die Windschutzscheibe und übrigen Fenster schienen für alle Zeiten von einem undurchsichtigen, hartnäckigen Schleier bedeckt zu sein. Der Wagen stand neben ihrem Zelt und war von herabgefallenen Zedernnadeln übersät. Auf beiden Sitzen türmten sich Plastiktüten, Papiersäcke und Pappschachteln, in denen sie ihre Habseligkeiten aufbewahrte.
Dass sie zusammen gekifft hatten, während die Suppe köchelte, erzählte Carolyn dem Gesandten des Bischofs nicht. Zum einen ging das niemanden etwas an, und zum anderen wäre sie dann mit hineingezogen worden. Carolyn rauchte regelmäßig Pot. Es überraschte sie, dass Ann nach ein paar Zügen nicht lockerer und redseliger wurde, wie die meisten Menschen, die bekifft an einem Lagerfeuer hockten. Stattdessen wurde sie noch zurückhaltender, unzugänglicher und verschlossener. Ihr Gesicht verschwand ganz unter der Kapuze ihres Sweatshirts. Wenn man sie ansprach, antwortete sie knapp, aber höflich und stocherte dabei ununterbrochen in den Holzkohlen herum. Ihr einziges Thema war ihr kaputtes Auto.
Ann war nichts anderes übrig geblieben, als auf den öffentlichen Bus auszuweichen, der eine halbe Meile vom Campingplatz entfernt an einem Laden anhielt und sie für fünfundachtzig Cents bis vor den MarketTime in North Fork brachte. Der Busfahrer sagte aus, dass sie immer mit passend abgezähltem Kleingeld bezahlte, manchmal auch mit Pennys, und seinen Gruß freundlich erwiderte. Einmal sprach er sie auf die Pilze in ihrem Eimer an und kommentierte deren Menge, Größe und goldenen Schimmer. Da hatte sie ihm ein paar geschenkt und sie lose in ein Stück Zeitungspapier geschlagen, das sie hinten im Bus gefunden hatte. Auf dem Highway lehnte sie den Kopf gegen das Fenster und schlief. Oft las sie auch in einem Taschenbuch, das er irgendwann als Katechismus ausmachte. Wenn sie in der Stadt ausstieg, hatte sie die Kapuze immer noch über dem Kopf und sagte Danke oder Auf Wiedersehen.
Ein halbes Dutzend Mal hatte sie sich von einem Pilz- und Reisigsammler namens Steven Mossberger mitnehmen lassen, der einen dichten Bart, eine dunkle Brille und eine Wollmütze trug, die er sich weit über die Stirn zog. Als er sie eines Nachmittags mit einem Eimer voller Pfifferlinge die Straße entlangwandern sah, hatte Mossberger das Fenster seines Pick-ups heruntergekurbelt und ihr erklärt, dass er auf demselben Campingplatz wie sie lebte und ebenfalls Pilze sammelte. Dann hatte er angeboten, sie mitzunehmen. Ann hatte ganz ruhig abgelehnt. Nein, danke, hatte sie gesagt. Es geht schon.
Als er sie das nächste Mal traf, es war gegen Ende Oktober, hielt er in der Dämmerung und bei Nieselregen neben ihr und sie nahm sein Angebot ohne zu zögern an. Er lehnte sich über den Beifahrersitz, um die Tür aufzustoßen, und sie stieg ein. Sie roch nach nassen Kleidern und Pilzen, stellte den Eimer mit den Pfifferlingen auf ihren Schoß und sagte, es sei ein wenig feucht draußen.
Woher kommst du?, fragte Mossberger.
Unten aus Oregon. Nicht weit von der Küste.
Wie heißt du?
Sie nannte ihm ihren Vornamen. Er nannte seinen vollen Namen und reichte ihr die Hand zum Gruß, den sie sanft erwiderte.
Später redete er sich ein, dies sei ein spirituell aufgeladener Moment gewesen, und er habe die Hand Gottes gespürt, als er ihre Hand in die seine nahm. So beschrieb er es dem Diözesanausschuss und dem Gesandten des Bischofs: Eine Hand, die mehr war als andere Hände, sagte er, und ihn mit etwas in Verbindung brachte, das über sein normales Leben weit hinausging. Insgeheim war ihm aber durchaus klar, dass es vermutlich nichts anderes als der leichte Kitzel war, den ein Mann verspürt, wenn er einer Frau die Hand schüttelt.
In North Fork verkaufte Ann ihre Pilze an Bob Frame, einen Mechaniker, der sich auf Maschinen für die Holzwirtschaft spezialisiert hatte und nebenbei einen Pilzhandel betrieb. Obwohl er sonst ein ziemlich redseliger und zum Scherzen aufgelegter Mensch war, antwortete er dem ersten Journalisten, der ihn ausfragte, instinktiv einsilbig und herablassend. Die Pilze des Mädchens, so Frame, seien immer tadellos gesäubert gewesen, außerdem hätten ihre Eimer selten Ausschussware enthalten. Nur einmal, an einem Abend, an dem es stark geregnet hatte, habe sie den Kaffee getrunken, den er immer gratis für seine Sammler bereitstellte. Ein paar Minuten lang hatte sie am elektrischen Heizofen gesessen, an einem Styroporbecher genippt und ihm dabei zugeschaut, wie er die Pilze auf Zeitungspapier schichtete und die Ausbeute eines Tages abwog. Als er so dicht neben ihr arbeitete, hatte er das Gefühl, dass sie schon lange, vielleicht wochenlang, nicht mehr gebadet oder ihre Kleidung gewaschen hatte. Er erinnerte sich sehr wohl, dass sie ihren Lohn nicht in der Hosentasche ihrer Jeans, sondern in einem Lederbeutel aufbewahrte, den sie um den Hals trug, und dass ihre Schuhe schon sehr abgetragen waren. An einem löste sich bereits die Sohle, sodass eine feuchte Wollsocke zum Vorschein kam. Selbst in seinem Schuppen hatte sie die Kapuze ihres Sweatshirts aufbehalten und die Hände in dessen Taschen vergraben.
Frame erzählte den Journalisten nicht, dass sie keine Sozialversicherungsnummer angeben konnte, als er sie danach fragte. Er hatte bar auf die Hand gezahlt und in seinen Büchern nichts über Lohnzahlungen an eine Ann Holmes festgehalten, und wegen dieser kleinen, beunruhigenden Unterlassung ärgerte er sich jetzt, dass er sich überhaupt zu Ann Holmes geäußert hatte. Nach diesem einen Mal sprach er nie wieder mit einem Journalisten und erzählte in der Stadt, der ständige Medienrummel um diese Visionärin sei ein Spektakel, zu dem er nicht beitragen wolle, weil es sonst mit seiner Ruhe vorbei wäre. In Wahrheit war es aber das Schreckgespenst einer Steuerprüfung, das ihn verstummen ließ, allerdings vertraute er seiner Frau unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, dass das Mädchen sich einmal den Lederbeutel vom Hals genommen habe und dabei aus Versehen eine Kette mit einem Kreuz entblößte, das, wie Bob sagte, in leuchtendem Gold geglüht habe.
Von Frames Schuppen ging Ann jeden Abend mit ihrem Eimer zum MarketTime und machte ein paar Einkäufe. Eine Kassiererin erinnerte sich an ihre Vorliebe für Zuckerwaffeln, kleine Tüten mit Schokoladenmilch, Burritos und Starburst Fruchtkaugummis. Sonst fiel niemandem etwas Besonderes ein, außer dass sie immer ihre Kapuze trug und das Wechselgeld nachzählte. Öfter als andere Kunden bat sie um den Schlüssel zur Toilette im Lagerraum und wusch sich hinterher mit dem Spülmittel am Mehrzweckbecken die Hände. Manchmal steckte sie ein paar Pennys in die Sammeldose der Stiftung für verunglückte Holzfäller.
Anfang November liefen zwei Mädchen aus North Fork, die in den Wäldern östlich der Stadt Pfifferlinge suchten, Ann Holmes über den Weg. Sie besuchten die siebte Klasse der Mittelschule und hatten den ganzen Herbst über das Pilzesammeln als Vorwand genutzt, um nach der Schule im Wald zu kiffen. Außer ihren Pilzeimern und Taschenmessern hatten sie noch einen Beutel Marihuana, eine kleine Pfeife und Streichhölzer dabei. Da sie auf keinen Fall erwischt werden wollten, sorgten die vorsichtigen Mädchen, die schon nach dem Genuss einer kleinen Menge Pot ewig lang kicherten, immer für genügend Kaugummi, Augentropfen und billiges Parfüm. Außerdem waren sie die ganze Zeit über geradezu krankhaft angespannt und schreckten bei jedem Geräusch im Wald zusammen. Schon das Rufen eines Vogels beunruhigte sie. Ein Flugzeug über ihren Köpfen oder ein Lastwagen auf weit entfernter Straße ließ sie wie gelähmt und mit weit aufgerissenen Augen stehen bleiben.
An jenem Nachmittag waren sie schon eine halbe Stunde lang high, kicherten wie gewöhnlich und pflückten hier und da ein paar Pilze, als sie Ann Holmes auf einem Baumstamm hocken und sie beobachten sahen. Sie hatte die Hände in den Taschen ihres Sweatshirts vergraben und die Kapuze um die Wangen gezurrt, sodass ihr Gesicht im Schatten lag. Anfangs dachten die Mädchen, sie sei ein Junge in ihrem Alter, ein fremder Junge, der nicht aus ihrer Stadt kam, und selbst als sie nah genug waren, um den von Pfifferlingen überquellenden Eimer zu sehen, waren sie immer noch unsicher, ob sie nicht doch ein Junge war, obwohl sie ihr Gesicht jetzt genau sahen. Beiden war klar, dass sie bekifft waren, und sie überlegten, ob man es ihrem Verhalten anmerken würde. Sie bemühten sich, völlig normal zu reagieren. Boah, sagte die eine. Das ist ’ne Menge.
Ich hätte noch einen Eimer mitbringen sollen.
Wahnsinnig.
Hammerhart.
Ist dir schon mal aufgefallen, dass Eimer sich mit Schleimer reimt?
Crystal.
Wie bitte?
Mein Gott, Crystal.
Klar, reimt sich.
Mein Gott, Crystal. Klar.
Sie kicherten jetzt in abgehackten Stößen, versuchten aber, sich in den Griff zu bekommen, und schlugen beide die Hand vor den Mund, um das Lachen zu unterdrücken. Ann lockerte die Kordel ihres Sweatshirts, schob die Kapuze aus dem Gesicht und strich sich durch das Haar. Es war kurz, ungekämmt, klebte ihr am Kopf und hatte die Farbe von altem Stroh. Jetzt sahen die anderen beiden, dass Ann ein Mädchen war, was nicht so gut ankam wie ein fremder Junge im Wald, mit dem sie in der Schule hätten angeben können. Bist du von hier?, fragte die eine.
Ich komme vom Campingplatz.
Wie? Dort geboren?
Sie lachten wieder und hielten sich den Mund zu. Eine von ihnen wäre fast vornüber gekippt.
Leute, ihr seid ja voll breit, sagte Ann.
Wir sind nicht breit, wir sind total zugeknallt.
Bin echt voll umnebelt.
Voll abgedröhnt.
Ich auch.
Sie hockten sich im Schneidersitz auf den Waldboden. Das Mädchen, das Crystal hieß, zog ein Kartenspiel hervor, das andere einen Beutel voll Marihuana. Ziehen wir noch einen durch, schlug sie vor. Vielleicht ein bisschen, erwiderte Ann.
Sie rauchten Gras, spielten Karten und aßen dabei eine Stange rote Lakritze, ein paar Schokolinsen und eine Tüte Paprikachips. Ann fragte, ob sie an Jesus glaubten. O je, meinte die eine. Bist du ein Jesusfreak?
Ich wollte nur wissen, ob ihr an Jesus glaubt.
Ich glaube, Jesus isst Apfelmus.
Jesus ist der Grund für jede Stund.
Wieder schlugen sie die Hände vor den Mund. Jesus rettet und Moses investiert, deshalb schwimmen alle Juden im Geld.
Denen gehört ganz Hollywood. Voll.
Ich muss heim.

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