Marcel Beyer: "Kaltenburg"
Leben
heißt Beobachten
Wer ist dieser Marcel Beyer, der als der reflektierendste junge
deutsche Autor der Gegenwart gilt? Was zeichnet diesen am 23. November
1965 in Taiflingen/Baden Württemberg geborenen, bis 1996 in
Köln und heute in
Dresden
wohnenden und arbeitenden Autor aus?
Bereits 1989 erschien sein erster Gedichtband "Kleine Zahnpasta". Neben
Lyrik und Prosa veröffentlichte Beyer journalistische Arbeiten
zu Musik und Literatur. Die Vergangenheit, ihre Ruhelosigkeit und der
Umgang mit dieser in der Sprache ist Schwerpunkt seines literarischen
Schaffens. 1991 erschien sein erster Roman "Das Menschenfleisch",
gefolgt von "Flughunde" (1995) und "Spione" (2000). Beyer wurde unter
anderem mit dem
"Berliner Literaturpreis", dem "Heinrich Böll Preis" und dem
"Hölderlin Preis" bedacht.
Und immer wieder sind es Tiere, die der Autor in seinen
Büchern dem Menschen gegenüberstellt, deren Verhalten
in einen menschlichen Kontext gestellt wird. War in seinem Roman
"Flughunde" die Hauptfigur der Stimmensammler Hermann Karnau, so ist es
in "Kaltenburg" der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborene Biologe und
Verhaltensforscher Ludwig Kaltenburg.
Kennzeichnend für alle Romane Marcel Beyers ist
außerdem, dass sich der Autor mit dem Stoff seiner
Erzählung intensivst vertraut macht, indem er sich
historische, naturkundliche und technische Daten aneignet, ja geradezu
aufsaugt und substanziell mit ihnen verschmilzt, so dass man an deren
Authentizität absolut nicht zweifelt und verblüfft
ist, wenn beim Nachgoogeln die entsprechenden
Personen oder Schauplätze nicht zu finden sind.
Beyer ist der "Erfinder der Wirklichkeit", der "Magier authentischer
Illusion". Und das macht ihn in Deutschland wohl so einzigartig.
Sparsame Dialoge, präzise Beobachtungsgabe
In äußerst sparsamen Dialogen, aber mit einer
dafür umso präziseren Beobachtung seiner Umwelt und
einer nachdenklichen, sehr genauen Sprache gelingt Beyer ein
großartiges Panorama des 20. Jahrhunderts.
Angelegt ist der Roman "Kaltenburg" als Lebensrückblende des
Ornithologen Hermann Funk, der als Ich-Erzähler fungiert. Seit
seiner Kindheit steht er in einem mehr oder weniger engen
Abhängigkeitsverhältnis zu eben jenem Ludwig
Kaltenburg. Seine Erinnerungen tauchen leicht und spielerisch, dann
wieder schwer und schmerzhaft während mehrerer
Gespräche mit Katharina Fischer - einer Dolmetscherin - auf,
die er in der Dresdner Ornithologischen Sammlung berät.
Die ersten zaghaften Erinnerungen des Ich-Erzählers setzen in
Posen in den Dreißiger Jahren ein. Dort verbringt der stille
Junge im Haus seiner gutbürgerlichen Familie, der Vater ist
Botaniker und lehrt an der dortigen Universität, eine
glückliche Kindheit. Reminiszenzen an sein polnisches
Kindermädchen, die vielen kranken Vögel, die sein
Vater aufpäppelt und vor denen er mehr Angst hat, als dass er
Zuneigung empfindet, bestimmen seine frühen Erinnerungen.
In Posen begegnet er zum ersten Mal dem schon damals in der Fachwelt
bekannten Biologen Ludwig Kaltenburg, der ein Kollege seines Vaters ist
und eigentümliches Interesse an dem introvertierten Buben hat.
Eines Tages belauscht er ein Gespräch seines Vaters mit
Kaltenburg. "Todeszone" ist das einzige Wort, das
er versteht und das sich ihm einprägt. Den Sinn sollte er erst
viel später verstehen und seine Einstellung gegenüber
dem ehrfurchtgebietenden Mann gehörig
durcheinandergeschüttelt werden. Überhaupt nimmt er
die politischen Umwälzungen des Dritten Reiches sowie den
Krieg nur am Rande wahr.
Vielfältige Erinnerungen
Wie so viele Familien müssen auch die Funkes aus Posen
fliehen. Das Schicksal seines geliebten Kindermädchens -
damals mit den Augen eines unschuldigen kleinen Jungen wahrgenommen -
begreift er nicht. Er später werden Vermutungen zur grausamen
Gewissheit.
Der gewählte Zufluchtsort - Dresden - sollte sich jedoch als
Farce herausstellen. Funk gerät in das Hölleninferno
des Angriffs vom 13. Februar 1945, bei dem die Perle des Barocks, das
Elbflorenz, durch das er noch am Tag zuvor mit seiner Mutter flaniert
war, dem Erdboden gleichgemacht wurde. Der Junge verliert seine Eltern
und kommt bei einer Pflegefamilie unter.
Gerade diese Erinnerungen an das Flammeninferno, das Hermann Funk als
kleiner Junge im "Großen Garten", einer weitläufigen
Grünanlage im Herzen der Stadt, überlebt, sind
äußerst intensiv und emotional erschütternd
gezeichnet. Doch nicht den Menschen erlebt Funk in seinen kindlichen
Beobachtungen, sondern das sinnlose und erschütternde Sterben
von Vögeln. Eine unglaublich eindringliche Textpassage gelingt
Marcel Beyer an dieser Stelle.
Für Funkes weiteren Lebenslauf sollten fortan
Vögel
prägend sein. Intensiviert auch durch eine Wiederbegegnung mit
Ludwig Kaltenburg, der im renommierten Dresdner Stadtteil Loschwitz ein
anerkanntes Ornithologisches Institut eröffnet. Dass er
Ornithologie studiert und anschließend als engster
Mitarbeiter neben dem Professor agiert, ist ungeschriebenes Gesetz.
Kaltenburg dirigiert fortan sein weiteres Leben, bis zu seiner Flucht
nach Wien kurz nach dem Mauerbau.
Möglichkeiten des Daseins
"Kaltenburg" ist jedoch keineswegs chronologisch angelegt, sondern
springt sporadisch durch die Stationen der Erinnerungen, die bei den
Gesprächen mit der Dolmetscherin zu Tage treten. Der rote
Faden geht jedoch niemals verloren.
Haupthandlungsort bleibt Dresden, doch ist es kein Dresdenroman und
auch keine DDR-Historie, wenn auch viele Originalschauplätze
identisch und für die Rezensentin als Dresdnerin wunderbar
wiederzuerkennen sind.
Beyers Werk ist weder Entwicklungsroman, noch Romanbiografie. Auch wenn
Ludwig Kaltenburg starke Parallelen zum österreichischen
"Einstein der Tierseele", dem Verhaltensforscher
Konrad Lorenz,
aufweist und Beyer sich sicherlich seines Lebensweges bedient hat. Doch
lediglich gewisse Eckdaten von dessen Leben (Mitglied der NSDAP,
Professur in Königsberg, Zusammenarbeit mit berühmten
Ornithologen und Botanikern, Mitarbeit an erbbiologischen Studien in
Posen, sowjetische Kriegsgefangenschaft) werden nach Dresden, in die
ehemalige DDR projiziert.
Letztendlich geht es Marcel Beyer um Möglichkeiten des
Daseins, um die "Druckkammern historischer Gegebenheiten", um
Stimmungen, um die "Urformen der Angst" und darum, dass Menschen zu
allem fähig sein können, auch dem Schrecklichsten -
im Gegensatz zum Tier.
Tiere und ganz speziell Vögel (Krähen und Dohlen)
spielen eine große Rolle, desgleichen der Mensch sowie
zivilisatorische Einflüsse auf dessen
Erkenntnisvermögen und Wahrnehmung.
Und natürlich geht es um das Erinnern.
Einfach macht es Marcel Beyer dem Leser jedoch nicht. Der
Lektüregenuss braucht eine gewisse "Einarbeitungszeit". Zur
Orientierung im ungewohnten Raum seines Romankonstrukts ist
Konzentration vonnöten. Nur dann können die
verborgenen, aber gezielt gelegten Fährten seines Texts
ausfindig gemacht werden. Diese wiederum weisen auf Einzelheiten hin
und decken Zusammenhänge auf, die dem Leser, kaum dass er sie
erkannt hat, selbst wieder fraglich scheinen.
Fazit:
"Kaltenburg" ist ein Netz ineinander gewobener Bilder, eine
anspruchsvolle Collage, montiert aus zahlreichen
Erinnerungsstücken des Ornithologen Hermann Funk, die
verschiedene Perspektiven aber auch Gegensätze bilden und
untrennbar mit dem Biologen Ludwig Kaltenburg verknüpft sind.
Dabei bedient sich Marcel Beyer teils fiktiver, teils realer Ereignisse
von der Zeit kurz vor dem Nationalsozialismus bis nach dem Fall der
Mauer und dem wiedervereinten Deutschland.
Einige der Figuren sind mit historischen Personen assoziiert, aber sie
dienen nur als Projektionsflächen für Marcel Beyers
Ideen.
Ein großes Stück anspruchsvoller Literatur.
(Heike Geilen; 03/2008)
Marcel
Beyer: "Kaltenburg"
Suhrkamp, 2008. 394 Seiten.
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Weitere
Bücher des Autors (Auswahl):
"Flughunde"
Flughunde sind fledermausähnliche
Flattertiere
mit hundeartigem Kopf. Für
Hermann Karnau sind sie von Kindheit an Sinnbild einer Welt, die vor
dem Zugriff
fremder Stimmen geschützt ist. Die Stimme ist der Fetisch des
Akustikers Karnau,
der 1940 den Plan fasst, systematisch
das Phänomen der menschlichen Stimme zu
erkunden.
Die eine Erzählstimme gehört Hermann Karnau, dessen
Namen der Autor einem
Wachmann im Berliner Bunker unter der Reichskanzlei entliehen hat. Die
andere
gehört der achtjährigen Helga, einer Tochter des
Propagandaministers. Immer
wieder kommt es zu Begegnungen der beiden, zuletzt im April 1945, als
Karnau in
Berlin ist, um die Führerstimme aufzuzeichnen.
Ein Zeitsprung führt in den Sommer 1992. Hermann Karnau, der
nach dem Krieg
untertauchen konnte, findet in seinem Plattenarchiv die Stimmen, die
Gespräche
von Helga und Helgas Geschwistern während ihrer letzten Tage
und Nächte
wieder. Auch den Kindern hat er die Stimmen - bis zum letzten Atemzug -
abgelauscht. (Suhrkamp)
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"Spione"
Sein Roman "Flughunde" hat den Erzähler und Lyriker Marcel
Beyer auch
international - übersetzt in ein Dutzend Sprachen - bekannt
gemacht. An die
Stimmengeschichte um einen Tontechniker im Propagandadienst von Joseph
Goebbels
knüpft "Spione" an: literarische Spurensuche in der deutschen
Geschichte, die bis in die Zeit vor dem "Totalen Krieg"
zurückreicht.
Zu Spionen in ihren Familien werden die Jugendlichen Carl, Paulina und
Nora,
Cousin und Cousinen des Ich-Erzählers. Wo Andere in den
Fotoalben blättern,
deren Aufnahmen die Eltern und Großeltern erinnern und
Generationsgeschichte
erzählen, stoßen sie auf Geheimnisse, auf
Verschwiegenes und Verborgenes. Was
war das für eine Liebesgeschichte um den Großvater,
der im November 1936 aus
dem Blick seiner Verlobten verschwand, um sich der "Legion Condor",
dem Geheimeinsatz der Deutschen Luftwaffe während des
Spanischen Bürgerkriegs,
anzuschließen? Lebt er noch? Wer war die scheinbar
früh verstorbene Großmutter,
die Opernsängerin mit den "Italieneraugen"? Hat die zweite
Frau des
Großvaters die Familienalben gesäubert und
"Erinnerungsverbote" verhängt?
Warum können die Vier ihr nie leibhaftig begegnen?
Aus Fragen werden Verdächtigungen, aus Heimlichkeiten und
Gerüchten
entstehen
Wahn und Überwachung. Die Gestorbenen entziehen den Lebenden
die
Aufmerksamkeit. Wie ein Spion bewegt sich der Erzähler
zwischen den
Generationen, zwischen den Lebenden und den Toten, Vergangenheit und
Gegenwart.
Im Ineinander von Tatsachenrecherche und Fiktion, im Wechselspiel von
Verschweigen und Erzählen fragt Marcel Beyer: Kann man mit
Worten töten? (DuMont
Buchverlag)
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"Erdkunde"
In "Erdkunde" erkundet Marcel Beyer, ausgehend von Dresden, dem Ort
seines
Lebens und Schreibens, den europäischen Osten, Polen, Estland
und Tschechien.
Seine Gedichte werden zur Erdkunde an den Grenzen
zwischen Geschichte,
Sprachen
und Kulturen. Und am nachdrücklichsten verdichten sich seine
Auseinandersetzungen mit der Historie zu einem bedrückenden
Kaliningrad-Zyklus.
(DuMont Buchverlag)
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