PROLOG
1070
Der Wanderer stieg über die Bootswand in das klare, seichte Wasser, auf
dem die Sonne spielte. Seine Füße wirbelten den glitzernden Sand
zwischen den Muscheln und glatten Steinchen auf. Er schob das schwarze
Boot ins tiefere Wasser zurück und winkte dem Ruderer, der ihn ans Ufer
gebracht hatte. Das bauchige Frachtschiff, auf dem er gekommen war,
ankerte hundert Schritt entfernt in der hufeisenförmigen Bucht. Er
wandte sich ab und erklomm das steinige Ufer. Der Pfad führte zu einem
grasbewachsenen Sattel hoch auf den Kreidefelsen der Steilküste. Noch
blühte der Baldrian rosa über wächsernen Blättern, Dohlen flogen
kreisend über die Kliffhänge.
In seiner linken Hand hielt er einen kräftigen Knüppel; den er sich vor
mehr als einem Jahr und mehr als zweitausend Meilen entfernt auf den
südlichen Hängen des Taurus aus einem Haselnussstrauch geholt hatte.
Über seine rechte Schulter hing ein Beutel, in dem sich Brot und Käse
befanden, beides allerdings nicht mehr frisch. Mit dem glatten, runden
Stumpf, der von seiner Hand übriggeblieben war, hinderte er den Riemen
des Beutels am Rutschen. Er trug ein ungefärbtes Wams aus Wolle, an
seinem Gürtel hing ein kleinerer Beutel, in dem sich drei Goldmünzen und
eine Handvoll Bronze befanden. Auch seine Beinkleider waren aus Wolle,
kreuzweise mit Lederbändern geschnürt. Die Rindslederschuhe waren alt,
aber solide, obwohl die Nähte sich aufzulösen begannen.
Er war von mittlerer Größe, sehnig, hatte helles Haar und war
sonnengebräunt; er sah gut aus, nur dass er viel älter wirkte als seine
sechsundzwanzig Jahre, denn sein Gesicht war gezeichnet von tiefem
Kummer.
Die Sonne verschwand: Dunkle Wolken hatten sich im Westen und Norden
gebildet. Als er den Sattel zwischen den beiden hohen Felsvorsprüngen
erreichte, blickte er zum Meer zurück. Noch beschien die Sonne das
Schiff, das ihn hergebracht hatte; das Segel war jetzt gehisst, das
schwarze Beiboot an Bord gehievt und sicher verstaut. Die See glänzte
silbern bis an den Horizont. Während er schaute, färbten die weißen
Klippen sich grau, Wolkenschatten glitt über die Wasser und verfolgte
das Schiff. Der Wanderer wandte den Blick wieder dem Land zu und folgte
dem Pfad, der in Richtung Norden führte. Stare wirbelten über dem vor
ihm liegenden Tal. Der Sommer neigte sich dem Ende zu.
Nichts mehr war so, wie es gewesen war. Zäune aus Weidengeflecht waren
errichtet worden, wo das Land früher allen gehört hatte; an anderen
Orten waren Zäune verschwunden, so dass Schafe
und Rinder auf Gemüsebeeten grasten und in verlassenen, verwahrlosten
Obstgärten herumliefen.
Am schlimmsten aber
waren der Gestank und das wütende Summen der Fliegen, die ihn zu einem
Graben führten, in dem die Leichen eines Mannes, eines Jünglings, einer
Frau und eines Säuglings lagen. Der Mann und der Jüngling trugen die
Spuren von Lanzen und Schwerthieben. Wie lange mochten sie tot sein? Ein
paar Tage? Aasvögel hatten die weichen, nahrhaften Teile ihres Körpers
gefressen: Leber,
Herz, Augen,
nicht aber die Hoden. Die steckten dort, wo ihre Mörder sie hinterlassen
hatten - in den Mündern.
Der Frau hatte man die Kleider über den Kopf gezerrt, und derart
entblößt war sie erst ihren Mördern, dann den Schnäbeln und Klauen von
Tieren zum Opfer gefallen. Was ihn schockierte, waren nicht die
geschändeten Leiber - der Wanderer hatte schon viele übel zugerichtete
Leichen gesehen -, sondern dass es niemandem eingefallen war, sie
anständig zu begraben. Hier, in Wessex.
Er eilte weiter, ein kalter Schauer fegte den Hügel herab und
durchnässte ihn völlig. Er machte nicht einmal den Versuch, Schutz vor
dem Regen zu finden.
Auf dem Hügel in seinem Rücken vernahm er von ferne das Trappeln von
Hufen. Den Anblick der Toten vor Augen, sprang er schleunigst über eine
niedrige Steinmauer und landete in einem Brombeergestrüpp: Dabei knickte
sein Fußgelenk um. Fluchend kauerte er sich nieder und wartete.
Es waren zehn. Alle trugen die gleiche gepanzerte Rüstung und hohe,
korusche Helme, deren Nasenteile die Gesichter fast ganz verdeckten.
Unter der schenkellangen Rüstung erschienen blanke Lederstiefel mit
scharfen Sporen. Große Schilde, die wie spitz zulaufende Blätter geformt
waren, hingen auf ihren Rücken, lange Schwerter in Scheiden schlugen an
ihre Schenkel, ihre Lanzen hatten eine Länge von acht Fuß. Scharlachrote
Fähnchen flatterten wie Schwalbenschwänze unter dem polierten Eisen der
Spitzen.
Die Pferde
waren groß, glatt, wohlgenährt. Die Hufe waren gut beschlagen, Funken
flogen; als sie über den Schotterweg die nächste Anhöhe hinaufritten.
Männer und Pferde wirkten wie zusammengeschweißt, wie Kampfmaschinen aus
Eisen.
Auf der Höhe des Hügels hielten sie inne; die Pferde schnaubten,
stampften, Dampf stieg von ihren Flanken auf. Der Wanderer hörte das
Klirren der Waffen und sah, wie sie mit kalten dunklen Augen über das
Land spähten - nicht wachsam oder argwöhnisch; sondern voll Hochmut.
Dann bellte einer einen Befehl; erhob die eiserne Faust, und mit
prasselnden Hufen setzten sie ihren Weg fort.
Minutenlang schüttelte sich der Wanderer wie im Fieber, keuchte, sein
Brustkorb fühlte sich an, als müsse er bersten. Er war voller Wut; Hass,
Furcht und - schlimmer noch - voller Verzweiflung. Endlich kletterte er
über die Mauer und folgte den Reitern vorsichtig, ängstlich bedacht,
dass sein Kopf nicht gegen den Horizont sichtbar wurde. Von der Höhe
blickte er hinunter auf das kleine Dorf Corfe, das Tor zur Halbinsel
Purbeck. Ein Herrenhaus, eine lehmverputzte Kapelle und viele Hütten
hatte es hier einst gegeben. Jenseits, auf dem Hügel, hatte ein Erdwall
in einem steinernen Bergfried gestanden, nicht höher als zwanzig Fuß -
genug, um die Dorfbewohner zu schützen, wenn Piraten oder Dänen aus
ihren Schlupfwinkeln an der Küste oder über das Marschland von Poole
Harbour kamen und plündernd
ins Landesinnere zogen.
All das gab es nicht mehr. Die Wälder waren gerodet; die Zäune um die
kleinen Parzellen niedergerissen, die Obstbäume gefällt, das
Gemeindeland umgepflügt ...
(Aus dem Roman "Der letzte Englische König" von Julian
Rathbone;
übersetzt von Sophie Kreutzfeldt.)
1066 - alle reden von
Wilhelm dem Eroberer, aber wer war Harold, der letzte angelsächsische
König? Dieser historische Roman erzählt die Vorgeschichte der "Battle
of Hastings".
Im Jahre 1066 überquert ein aufgeblasener normannischer Herzog mit
seiner Armee von beutegierigen Söldnern und Psychopathen den
englischen Kanal und ändert den Verlauf der Geschichte. Drei Jahre
später irrt Walt, der letzte Überlebende von König Harolds Leibwache,
verwundet an Leib und Seele durch Europa und Vorderasien und fragt
sich: Wie konnte es dazu kommen?
Julian Rathbone hat die Vorgeschichte der berüchtigten "Battle of
Hastings" politisch und psychologisch rekonstruiert und einen Abgrund
von Intrigen und Erpressungen aufgedeckt. Er schildert das
eigenwillige Sexualleben von Harolds Vorgänger Edward und den
mühseligen Aufstieg des jungen Königs zur Macht. Seine Beschreibung
intimster Einzelheiten lässt ahnen, dass der überraschende Sieg des
Eroberers und die Katastrophe der angelsächsischen Herrschaft von
vielen persönlichen Schwächen abhing, aber letztlich doch nur ein
Unglücksfall war.
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