PROLOG

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Der Wanderer stieg über die Bootswand in das klare, seichte Wasser, auf dem die Sonne spielte. Seine Füße wirbelten den glitzernden Sand zwischen den Muscheln und glatten Steinchen auf. Er schob das schwarze Boot ins tiefere Wasser zurück und winkte dem Ruderer, der ihn ans Ufer gebracht hatte. Das bauchige Frachtschiff, auf dem er gekommen war, ankerte hundert Schritt entfernt in der hufeisenförmigen Bucht. Er wandte sich ab und erklomm das steinige Ufer. Der Pfad führte zu einem grasbewachsenen Sattel hoch auf den Kreidefelsen der Steilküste. Noch blühte der Baldrian rosa über wächsernen Blättern, Dohlen flogen kreisend über die Kliffhänge.

In seiner linken Hand hielt er einen kräftigen Knüppel; den er sich vor mehr als einem Jahr und mehr als zweitausend Meilen entfernt auf den südlichen Hängen des Taurus aus einem Haselnussstrauch geholt hatte. Über seine rechte Schulter hing ein Beutel, in dem sich Brot und Käse befanden, beides allerdings nicht mehr frisch. Mit dem glatten, runden Stumpf, der von seiner Hand übriggeblieben war, hinderte er den Riemen des Beutels am Rutschen. Er trug ein ungefärbtes Wams aus Wolle, an seinem Gürtel hing ein kleinerer Beutel, in dem sich drei Goldmünzen und eine Handvoll Bronze befanden. Auch seine Beinkleider waren aus Wolle, kreuzweise mit Lederbändern geschnürt. Die Rindslederschuhe waren alt, aber solide, obwohl die Nähte sich aufzulösen begannen.

Er war von mittlerer Größe, sehnig, hatte helles Haar und war sonnengebräunt; er sah gut aus, nur dass er viel älter wirkte als seine sechsundzwanzig Jahre, denn sein Gesicht war gezeichnet von tiefem Kummer.

Die Sonne verschwand: Dunkle Wolken hatten sich im Westen und Norden gebildet. Als er den Sattel zwischen den beiden hohen Felsvorsprüngen erreichte, blickte er zum Meer zurück. Noch beschien die Sonne das Schiff, das ihn hergebracht hatte; das Segel war jetzt gehisst, das schwarze Beiboot an Bord gehievt und sicher verstaut. Die See glänzte silbern bis an den Horizont. Während er schaute, färbten die weißen Klippen sich grau, Wolkenschatten glitt über die Wasser und verfolgte das Schiff. Der Wanderer wandte den Blick wieder dem Land zu und folgte dem Pfad, der in Richtung Norden führte. Stare wirbelten über dem vor ihm liegenden Tal. Der Sommer neigte sich dem Ende zu.

Nichts mehr war so, wie es gewesen war. Zäune aus Weidengeflecht waren errichtet worden, wo das Land früher allen gehört hatte; an anderen Orten waren Zäune verschwunden, so dass Schafe und Rinder auf Gemüsebeeten grasten und in verlassenen, verwahrlosten Obstgärten herumliefen.

Am schlimmsten aber waren der Gestank und das wütende Summen der Fliegen, die ihn zu einem Graben führten, in dem die Leichen eines Mannes, eines Jünglings, einer Frau und eines Säuglings lagen. Der Mann und der Jüngling trugen die Spuren von Lanzen und Schwerthieben. Wie lange mochten sie tot sein? Ein paar Tage? Aasvögel hatten die weichen, nahrhaften Teile ihres Körpers gefressen: Leber, Herz, Augen, nicht aber die Hoden. Die steckten dort, wo ihre Mörder sie hinterlassen hatten - in den Mündern.

Der Frau hatte man die Kleider über den Kopf gezerrt, und derart entblößt war sie erst ihren Mördern, dann den Schnäbeln und Klauen von Tieren zum Opfer gefallen. Was ihn schockierte, waren nicht die geschändeten Leiber - der Wanderer hatte schon viele übel zugerichtete Leichen gesehen -, sondern dass es niemandem eingefallen war, sie anständig zu begraben. Hier, in Wessex.

Er eilte weiter, ein kalter Schauer fegte den Hügel herab und durchnässte ihn völlig. Er machte nicht einmal den Versuch, Schutz vor dem Regen zu finden.

Auf dem Hügel in seinem Rücken vernahm er von ferne das Trappeln von Hufen. Den Anblick der Toten vor Augen, sprang er schleunigst über eine niedrige Steinmauer und landete in einem Brombeergestrüpp: Dabei knickte sein Fußgelenk um. Fluchend kauerte er sich nieder und wartete.
Es waren zehn. Alle trugen die gleiche gepanzerte Rüstung und hohe, korusche Helme, deren Nasenteile die Gesichter fast ganz verdeckten. Unter der schenkellangen Rüstung erschienen blanke Lederstiefel mit scharfen Sporen. Große Schilde, die wie spitz zulaufende Blätter geformt waren, hingen auf ihren Rücken, lange Schwerter in Scheiden schlugen an ihre Schenkel, ihre Lanzen hatten eine Länge von acht Fuß. Scharlachrote Fähnchen flatterten wie Schwalbenschwänze unter dem polierten Eisen der Spitzen.

Die Pferde waren groß, glatt, wohlgenährt. Die Hufe waren gut beschlagen, Funken flogen; als sie über den Schotterweg die nächste Anhöhe hinaufritten. Männer und Pferde wirkten wie zusammengeschweißt, wie Kampfmaschinen aus Eisen.

Auf der Höhe des Hügels hielten sie inne; die Pferde schnaubten, stampften, Dampf stieg von ihren Flanken auf. Der Wanderer hörte das Klirren der Waffen und sah, wie sie mit kalten dunklen Augen über das Land spähten - nicht wachsam oder argwöhnisch; sondern voll Hochmut. Dann bellte einer einen Befehl; erhob die eiserne Faust, und mit prasselnden Hufen setzten sie ihren Weg fort.

Minutenlang schüttelte sich der Wanderer wie im Fieber, keuchte, sein Brustkorb fühlte sich an, als müsse er bersten. Er war voller Wut; Hass, Furcht und - schlimmer noch - voller Verzweiflung. Endlich kletterte er über die Mauer und folgte den Reitern vorsichtig, ängstlich bedacht, dass sein Kopf nicht gegen den Horizont sichtbar wurde. Von der Höhe blickte er hinunter auf das kleine Dorf Corfe, das Tor zur Halbinsel Purbeck. Ein Herrenhaus, eine lehmverputzte Kapelle und viele Hütten hatte es hier einst gegeben. Jenseits, auf dem Hügel, hatte ein Erdwall in einem steinernen Bergfried gestanden, nicht höher als zwanzig Fuß - genug, um die Dorfbewohner zu schützen, wenn Piraten oder Dänen aus ihren Schlupfwinkeln an der Küste oder über das Marschland von Poole Harbour kamen und plündernd ins Landesinnere zogen.

All das gab es nicht mehr. Die Wälder waren gerodet; die Zäune um die kleinen Parzellen niedergerissen, die Obstbäume gefällt, das Gemeindeland umgepflügt ...


(Aus dem Roman "Der letzte Englische König" von Julian Rathbone;
übersetzt von Sophie Kreutzfeldt.)

1066 - alle reden von Wilhelm dem Eroberer, aber wer war Harold, der letzte angelsächsische König? Dieser historische Roman erzählt die Vorgeschichte der "Battle of Hastings".
Im Jahre 1066 überquert ein aufgeblasener normannischer Herzog mit seiner Armee von beutegierigen Söldnern und Psychopathen den englischen Kanal und ändert den Verlauf der Geschichte. Drei Jahre später irrt Walt, der letzte Überlebende von König Harolds Leibwache, verwundet an Leib und Seele durch Europa und Vorderasien und fragt sich: Wie konnte es dazu kommen?
Julian Rathbone hat die Vorgeschichte der berüchtigten "Battle of Hastings" politisch und psychologisch rekonstruiert und einen Abgrund von Intrigen und Erpressungen aufgedeckt. Er schildert das eigenwillige Sexualleben von Harolds Vorgänger Edward und den mühseligen Aufstieg des jungen Königs zur Macht. Seine Beschreibung intimster Einzelheiten lässt ahnen, dass der überraschende Sieg des Eroberers und die Katastrophe der angelsächsischen Herrschaft von vielen persönlichen Schwächen abhing, aber letztlich doch nur ein Unglücksfall war.
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