Leslie Kaplan: "Fever"
Der fünfte Band der Reihe "Depuis maintenant"
"Es
ist alles perfekt gelaufen, sagte Damien. Die Sonne scheint, der Himmel
ist blau. Und wir, sagte Damian, wir sind die
Größten. Pierre schwieg. Mann, es ist alles perfekt
gelaufen, sagte Damian noch einmal."
Ein Gesprächsfetzen - voller Begeisterung, Verve und
Glückseligkeit. Zumindest von Seiten Damiens. Doch Pierre
teilt diese Gefühle anscheinend nicht. Warum? Was geht Pierre
gegen den Strich, ja, was bedrückt ihn? War der Sieg doch
nicht so vollkommen? Und wobei sind die beiden die
Größten? Bei einer bestandenen Prüfung,
einem Fußballspiel, einem Streich? Für die beiden
käme wohl der Begriff des gelungenen Streiches ihrer Tat am
nächsten; einem kaltblütigen Mord an einer ihnen
völlig Unbekannten.
Drei große Themen behandelt die französische Autorin
Leslie Kaplan in dem im Berlin Verlag erschienenen Roman "Fever", dem
fünften Teil ihrer großen Gesellschaftsstudie "Von
jetzt an", der bedauerlicherweise der erste ist, welcher auf Deutsch
erscheint. Die philosophisch-ethische Rechtfertigung für ihr
Tun exzerpieren die beiden siebzehnjährigen Abiturienten aus
dem Unterricht von Madame Martin. Diese ist "sehr schön,
blond, kurvenreich und gleichzeitig so was wie die ideale Lehrerin,
aufmerksam, fordernd, schlicht. Die ganze Klasse bewunderte sie, die
Jungen waren verliebt, die Mädchen auch, und am Ende des
Schuljahrs lauter gute Abiturnoten." Das Aussehen des Opfers weist
unübersehbare Parallelen zur Beschreibung der angebeteten
Pädagogin auf - diente dieses nur als Surrogat?
In der Tradition
Dostojewskis behandelt der Roman die Frage der Schuld
schlechthin und ob es so etwas wie über Generationen hinweg
überkommenes Verhalten geben kann. Denn die
Großväter der Jugendlichen, die in beiden
Fällen engere Bezugspersonen als die Eltern und Geschwister
darstellen, schweigen sich über ihre Vergangenheit
während der Besetzung Frankreichs durch die
Nationalsozialisten aus. Klar ist nur, dass es etwas zu verbergen gibt.
Inwieweit sind die Taten der Schüler nur eine Spiegelung, ja
fast logische Konsequenz, der Handlungen der
Großväter? Gleichzeitig wirft die Autorin die Frage
nach der Sühne bzw. Vergeltung für das
während der Besetzung durch französische
Kollaborateure begangene Unrecht auf.
Der dritte große Komplex besteht aus der Betrachtung des
physischen und psychischen Reifeprozesses
an der Schwelle des
Erwachsenwerdens; der Beziehung der Jugendlichen zu Eltern,
Geschwistern, Schülern und Lehrern und führt zu der
erschreckenden Erkenntnis, dass, obwohl die Mörder unter
starken psychosomatischen Beschwerden leiden, sie eiskalt, ruhig und
sachlich über alle mit dem Mord in Zusammenhang stehende
Themen eloquent diskutieren. Auch wenn es zu Überreaktionen
kommt, finden sie doch immer wieder zu dieser sachlichen Basis
zurück. Von ihrer Umwelt werden diese hitzigen
Ausbrüche als Folge der Pubertät und der
Prüfungsvorbereitungen angesehen und nicht weiter zur Kenntnis
genommen.
Erstaunlicherweise und sehr zur Freude des Lesers vermag die Autorin
diese komplexen Inhalte auf sehr einfache, klare und doch eloquente
Weise zu vermitteln. In knappen Sätzen und exaltierter
Orthografie vermittelt sie, sofern man ihrer Analyse folgen
möchte, das Bild des französischen Intellektuellen in
den 1990er Jahren. Darüber hinaus vergisst Leslie Kaplan
jedoch nicht, eine treffende Psychologisierung der beiden Protagonisten
vorzunehmen. Diese, von Schuld zerfressen, zwischen Manie und
Depression schwankend, ihren Mord in wunderschön formulierten
Sätzen rechtfertigend, verstricken sich immer tiefer in ein
Geflecht auf einen Mittelpunkt zustrebender Fäden, die ihren
Beginn vor fast 65 Jahren nahmen. Es bleibt zu hoffen, dass
mittelfristig auch die Teile 1 bis 4 ihrer Reihe "Von jetzt an" ins
Deutsche übersetzt erscheinen.
(Wolfgang Haan; 06/2006)
Leslie
Kaplan: "Fever"
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Berlin Verlag, 2006. 208 Seiten.
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Leslie Kaplan wurde 1943 in den USA geboren, in einer jüdischen Familie polnischer Herkunft. Sie wuchs in Paris auf, wo sie heute als freie Autorin lebt.