Sally Gardner: "Ich, Coriander"


Kein Aschenputtel

Coriander führt beinahe das Leben einer Prinzessin. Behütet von ihrem Vater, einem reichen Seidenhändler, und ihrer Mutter, einer Kräuterheilerin, lebt sie ganz in der Nähe der Tower Bridge im London des Jahres 1660.

Doch diese Idylle findet ein jähes Ende, als Coriander von einem merkwürdigen Mann ein verführerisch glänzendes Paar silberner Schuhe geschenkt bekommt. Dann überschlagen sich förmlich die Ereignisse: Corianders Mutter stirbt, und ihr Vater, traumatisiert und anscheinend nicht mehr Herr seiner Sinne, heiratet kurze Zeit später Maud, die sich als eine böse, religiöse Fanatikerin entpuppt. Noch kann Coriander auf die Hilfe ihres Vaters vertrauen, doch dieser fällt in Ungnade und muss außer Landes fliehen. Coriander bleibt allein in der Obhut ihrer Stiefmutter zurück, und diese lässt keine Gelegenheit aus, sie zu quälen und zu misshandeln. Um sich endgültig ihrer ungeliebten Stieftochter zu entledigen, sperrt Maud Coriander in eine hölzerne Kiste, nagelt diese zu und überlässt das Kind ihrem Schicksal, dem unausweichlichen Tod.

Jedoch entkommt Coriander in einer Art Trance in eine andere geheimnisvolle Welt, in der die Zeit nicht existiert. Allerdings steckt auch diese wundervolle Welt voller Gefahren und Intrigen, und sie muss all ihre Fähigkeiten einsetzen, um in dieser zeitlosen Welt zu überleben.

Ein historischer fantastischer Roman


Sally Gardners Roman "Ich, Coriander" spielt im London des Jahres 1660. Bis kurz vor diesem Jahr herrschte in England Bürgerkrieg zwischen den "Kavalieren" genannten Katholiken und den "Rundköpfen", fanatischen Protestanten. Doch auch nach dem Ende des Bürgerkrieges fanden sich in beiden Parteien Menschen, die mit dem Frieden nicht einverstanden waren und an ihrem Glauben festhielten. Zu diesen fanatischen Eiferern, den "Puritanern", gehört auch Corianders Stiefmutter Maud. Diesen exakt recherchierten politischen Hintergrund baut die Autorin geschickt als Motivation für die Grausamkeiten der Stiefmutter in den Handlungsverlauf ein und vermeidet so den Vorwurf, nur ein weiteres "Aschenputtel" geschaffen zu haben.

Doch "Ich, Coriander" besteht weitestgehend aus zwei einander beeinflussenden Handlungssträngen. Was auf den ersten Blick parallel läuft, entpuppt sich am Ende als geschickt aufgezogenes Marionettentheater. Doch wer hält die Fäden in den Händen und zieht die Stränge. Und kann Coriander durch ihr Leben ohne Zeitgrenze die "reale Welt" nachhaltig ändern, indem sie ins Fantasie-Reich eingreift?

In London allein gelassen und zum Tode verurteilt, pendelt sie zwischen Wachen, Träumen und Trance hin und her und gerät auch dort in Todesgefahr, als sie sich in den Prinzen verliebt, der die Tochter der bösen Königin heiraten soll. Zu allem Unglück verliebt sich dieser auch in Coriander, und so beginnt hier ebenfalls ein Wettlauf mit dem Tod. Doch im Gegensatz zu London ist sie hier nicht alleine, sondern findet schnell Freunde und Verbündete, die mit der Herrschaft der bösen Königin nicht einverstanden sind und alles daran setzen, Coriander zu helfen.

Poetik pur

Sally Gardner hat, obwohl dies ihr Debütroman ist, schon einen unverwechselbaren Stil entwickelt. Sie selbst begründet dies damit, dass sie auf Grund einer schweren Krankheit nicht in der Lage ist, bestimmte lange oder komplizierte Wörter zu erfassen. So las sie ihren Text so lange und oft, bis er mehr wie ein Musikstück denn ein Buch klang. Diese Vorgehensweise merkt man "Ich, Coriander" deutlich an. Sowohl der Roman im Ganzen als auch die einzelnen Figuren, Schauplätze, Handlungsstränge und Dialoge klingen durchkomponiert bis zum letzten Satzzeichen. Besonderen Dank muss man hier der Übersetzerin aussprechen, die es geschafft hat, diese Melodie verlustfrei ins Deutsche zu übertragen.

Nichts für die süßen Kleinen

"Ich, Coriander" ist kein Buch für Erstklässler. Obwohl von drastischen Gewaltdarstellungen abgesehen wird, ist die Vorstellung, von der Stiefmutter lebendig in eine Kiste eingenagelt zu werden, nicht gerade angenehm. Die verlagsseitige Empfehlung lautet: ab dem zehnten Lebensjahr.

Darüber hinaus bietet sich dieses Buch auch als mögliche Diskussionsgrundlage bezüglich der Auswirkungen von religiösem Fanatismus an.

(Wolfgang Haan; 02/2006)


Sally Gardner: "Ich, Coriander"
(Originaltitel "I, Coriander")
Übersetzt von Anne Braun.
cbj, 2006. 320 Seiten. (Ab 10 J.)
ISBN 3-570-13104-1.
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