Vladimir Sorokin: "Der himmelblaue Speck"


"Man kann ihn zerkleinern und in alle Winde zerstreuen, aber seine Partikel werden dennoch immer in der Welt bleiben, und selbst wenn unsere Welt zu einem Eisblock gefriert oder sich in eine glühende Sonne verwandelt, so bleibt der himmelblaue Speck darin für immer erhalten."

In der Zukunft, genau im Jahre 2068, beginnt die Rahmenhandlung. In einem geheimen Gen-Labor in Sibirien werden die maßgeblichen Klassiker der russischen Literatur geklont. Durch ihre schriftstellerische Kreativität, die sie Texte produzieren lässt, wird in ihren Körpern eine Substanz, die der "himmelblaue Speck" genannt wird, abgelagert. Dieser Extrakt ist das Ziel der Begehrlichkeiten.

Eine Sekte, deren Mitglieder sich als "Erdrammler" bezeichnen und die russische Erde als Objekt sexueller Begierde sehen, schickt mittels einer Zeitmaschine die gewonnene Substanz in eine fiktive stalinistische Vergangenheit des Jahres 1954, wo Europa aufgeteilt ist zwischen Hitler und Stalin und England von der deutschen atomaren Wunderwaffe zerstört ist. Ziel der Sekte ist es, die Welt zu verändern, nur in welche Richtung bleibt unklar.

Die Ankunft des Specks in einer obskuren fiktiven Vergangenheit, die beherrscht wird von quasi nebenbei und völlig emotionslos beschriebenen Folterungen und Morden, sowie perversen Sexual- und Fäkalienexzessen, Kannibalismus- und Machtorgien, veranlasst den historischen Stalin nach Deutschland zu seinem Freund Hitler zu reisen. Dort eskaliert die Situation noch einmal und endet in einer Art Kampf der Giganten: Hitler und Stalin, die um den "himmelblauen Speck" kämpfen und versuchen, sich die Substanz, die mittlerweile von Himmler in ein flüssiges Extrakt verwandelt und in Ampullen verpackt wurde, zu injizieren. Stalin gewinnt die Oberhand und spritzt sich die letzte noch heil gebliebene Ampulle mit der himmelblauen Droge ins Gehirn. Nun quillt die Fantasie des Autors über, überschlägt sich nahezu und steigert sich zu einem überspannten Finale, in welchem das Gehirn Stalins bis auf Universumsgröße anwächst, das Universum ausfüllt und gleichzeitig zerstört. Billionen Jahre danach aber wieder zusammenschrumpft und die Geschichte wieder ins Jahr 2068, an den Ausgangspunkt der Erzählung, zurückführt.

Der "himmelblaue Speck" fordert den Leser bis an seine Grenzen. Wer hier eine menschliche Regung, oder eine Auflösung des bösen Blicks auf den Menschen erwartet, wird enttäuscht. Der Leser wird in der abgrundtiefen Verdorbenheit und Grausamkeit des Menschen allein zurückgelassen. Dennoch ist die vordergründige "Schocktherapie" nicht ohne klar erkennbare Struktur und Kritik. Radikal rechnet Sorokin ab: Mit der eigenen russischen Vergangenheit, der russischen Literatur, mit Wissenschaft und Fortschrittsglaube.

Wer sich die Mühe macht, die verwirrenden Textkonglomerate aus zusammengewürfelten chinesischen, russischen, deutschen und französischen Sprachkomponenten näher zu betrachten, erkennt in der grob verfassten Bilderwelt Sorokins seine feingeschliffene und dennoch stahlharte Klinge der Scharfsichtigkeit und Urteilskraft. Auch die Texte und geschriebenen Dramen der Klone der klassischen Literatur sind es allemal wert, sich durch die Tiefen der menschlichen Regungen durchzuarbeiten; besonders wenn man einige Originale dazu kennt, kann man sich in der ganzen abschreckenden Bilderwelt zwischendurch humorig entspannen.

Wozu die mysteriöse Substanz gut sein soll, wird nicht enthüllt. Einerseits wird sie als Droge, andererseits auch als neue Möglichkeit von Energiegewinnung beschrieben. Die Anwendung und der große Nutzen des "himmelblauen Specks" bleibt dem Leser verborgen und scheint auch den Protagonisten gleichgültig zu sein. Allein die Vermutung des Machtzugewinns, die dieser Stoff beinhalten könnte, reicht aus, um die niedersten Begierden und Triebe des Menschen zu wecken und in letzter Konsequenz die Vernichtung des Universums einzuleiten. Die rücksichtslosen und gewalttätigen Auseinandersetzungen um den Speck herum lassen den Leser immer wieder verwirrt nach dem Sinn dieser Anstrengungen fragen. Aber gerade um diese Antwort kämpft die Menschheit ja seit Anbeginn.

Der "himmelblaue Speck" könnte das goldene Kalb, alles begehrenswerte Tote, das aus lebendigen Menschen herausgepresst wird, die Quintessenz von nicht Fassbarem, nicht Kontrollierbarem, den kreativen, freien Geist, eine Droge, die russische Literatur repräsentieren. Dahinter aber steht eine essenziellere Frage des Autors: Ist der menschliche Geist, seine Kreativität, tot? Kann die russische Literatur nur mehr Klone ihrer eigenen Vergangenheit und Genialität produzieren? Mit diesem Werk führt Sorokin sein eigenes Thema ad absurdum und findet sich, nach der totalen, radikalen Provokation, auf sich selbst zurückgeworfen, in seiner eigenen Geschichte wieder.

Fazit:
Eine zweifelhafte Mischung aus Science fiction und Tabubrüchen als Hauptbestandteil, die keine Spielart der menschlichen Perversion auslässt. Derb, zynisch, obszön, brutal und schockierend ist dieses Werk von Vladimir Sorokin und sicherlich nichts für schwache Nerven.

(Mag. Helga Hiebl; 01/2004)


Vladimir Sorokin: "Der himmelblaue Speck"
(Originaltitel "Goluboe salo")
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
Gebundene Ausgabe:
Dumont, 2002. 440 Seiten.
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Taschenbuch:
dtv, 2003. 396 Seiten.
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