Aus "Das Abzeichen" von
Igor Schestkow
(...) Vor dreißig Jahren, im
September, genau von diesem Platz aus, wurden sie, die frischgebackenen
Studenten, nicht in das Auditorium geschickt, „um am Granit
der Wissenschaft zu
nagen“, sondern in die hundert Kilometer von Moskau entfernte
Kolchose, im
Bezirk Moschaisk, um Kartoffeln zu ernten. Jetzt war der Platz vor der
Uni
leer, nur etwa drei Dutzend Dienstwagen der
Universitätsleitung waren zwischen
Schneehaufen geparkt. Damals standen hier mehr als hundert, mit roten
Fahnen
behängte Busse, bereit zur Abfahrt. Der Platz war voll von
Studenten und ihren
Begleitern, irgendein Parteityp sollte die Stimmung anheizen und schrie
ins
Megaphon: „Die progressive sowjetische Jugend
erfüllt mit Freude die
patriotische Pflicht und wird die Schlacht um die Ernte
gewinnen...“
Niemand hörte ihm zu, einige
Studenten saßen auf ihren Rucksäcken und spielten
Karten, die übrigen standen
neben den Bussen. Sie rauchten, scherzten, flirteten. Endlich
ertönte das
Kommando: „Alle in die Busse!“
Die Studenten stiegen
ächzend in die Busse. Die Kolonne bewegte sich langsam, wie
bei einer
Demonstration. Die Fahrt dauerte lange und wurde öfter
unterbrochen. Der
Student Nikitin ging unterwegs verloren. Nach drei Tagen tauchte er am
Bestimmungsort wieder auf. Er rechtfertigte sich so: Musste pinkeln und
nicht
nur das, hab keinen Platz gefunden, bin in den Wald gelaufen, offenbar
zu tief,
hab mich verlaufen, kein Mensch war da, hab den Weg gesucht,
hoffnungslos. Die
Busse waren weg, habe mich, um mein Ziel unbedingt zu erreichen, per
Anhalter
durchgeschlagen… Ihm wurde verziehen. In Wirklichkeit war er
bei einem Halt in
einem Dorf losgerannt, um ein Fläschchen zu kaufen. Beim
Anstehen in der
Schlange hatte er jemanden kennen gelernt und mit ihm getrunken, dann
noch mal
und noch mal.
Eine der Pausen zog sich
zwei Stunden lang hin. Es gab ein Treffen der Vertreter der Kolchose
und der
Fakultät. Die Kolchose wollte zweihundert Studenten
übernehmen, für sie waren
warme Schlafstätten im Pionierlager vorbereitet, auch die
Arbeit war für diese
Anzahl organisiert. Die Fakultätsleitung bestand aber darauf,
dass alle
vierhundert Studenten untergebracht und versorgt werden und Arbeit
bekommen.
Der Kolchosvorsitzende zuckte mit den Schultern und erklärte,
dass er keinen
Platz habe, außer vielleicht in leer stehenden
Kuhställen, aber daran sei nicht
zu denken. Die Kühe waren alle bei der letzten Epidemie
verreckt. Die Fakultät
hatte jedoch bereits nach oben gemeldet, dass vierhundert Studenten
hier im
Einsatz seien. Letztendlich wurde entschieden, den verweichlichten
Studenten
doch in diesen Kuhställen eine Herberge herzurichten. Man
besorgte kaputte
schmutzige Klappbetten, alte Matratzen, Decken und
Krankenhauswäsche. Also, die
eine Hälfte fuhr in das Pionierlager, die andere in den
Kuhstall. Wadim gehörte
wie immer zur anderen Hälfte.
Der Fußboden im Kuhstall
wurde geschrubbt, trotzdem roch er nach Mist. Es war kalt dort. Die
alten Öfen
waren undicht, sie zu heizen war lebensgefährlich, und an
Brennholz war nicht
zu denken. Es war nichts da. Nur die zweihundert Klappbetten mit
Matratzen und
feuchter grauer Wäsche standen in zwei Reihen in dem langen
Raum mit den
winzigen Fensterchen unter dem Dach. Eine Mahlzeit haben die
Erntehelfer nicht
gekriegt, eine Küche gab es nicht. Am nächsten Tag
reparierten die Studenten
die Öfen im Stall und im kleinen Schuppen nebenan, in
„der Küche“. Man brachte
dorthin riesige schwarze Kochtöpfe und Teekannen, verbeulte
Näpfe und
Aluminiumlöffel, wie aus dem letzten Krieg. Köche
sind auch aufgetaucht. Sie
kochten das Mittagessen, Perlgraupenbrei mit Fleischkonserven. Wadims
Freund
Klein bemerkte sarkastisch, dass dies sicher das Fleisch von den
Kühen sei, die
hier im Stall krepiert waren.
Das alles war ekelhaft, aber
erträglich. Unerträglich war eine einzige Toilette
für zweihundert Personen,
ein kleiner Schuppen mit zwei Löchern auf rutschigem Boden. Es
stank so, dass
Klein zwei Stunden nach seinem Toilettenbesuch Wadim besorgt fragte, ob
er noch
nach Scheiße rieche. In das Loch zu schauen,
fürchtete sich Wadim, so
grauenhaft stank es dort, aber einmal hat er trotzdem hineingeschaut.
In der
ekligen braunen Brühe tummelten sich Tausende weiße
Würmer. An den hölzernen
Wänden saßen der Wissenschaft unbekannte
apokalyptische Tiere.
Zuerst gab es keine Arbeit,
die Studenten waren sich selbst überlassen. Was sie machten?
Sie tranken und
spielten Karten. Das Spiel „Knüppel“ war
gerade in Mode. Gespielt wurde zu
viert oder zu fünft. Der Gewinner schlug dann dem Verlierer
mit den Karten auf
die Ohren. Wie oft und mit wie vielen Karten war nicht vom Spiel
abhängig,
sondern reiner Zufall. Der Verlierer zog zwei Karten: Die Dame und die
Neun bedeuteten
zum Beispiel drei Schläge mit neun Karten. Der
Unglückliche, der zwei Asse
gezogen hatte, bekam vierzig Schläge mit dem gesamten
Kartenspiel. Geschlagen
wurden meist nicht stark, nur zum Spaß. Das Opfer sollte laut
jammern und
seinem „Henker“ nicht böse sein. Klein hat
Wadim beigebracht, die Ohren „von
unten“ zu bearbeiten (gewöhnlich geschieht das von
oben). So ein Schlag brachte
das Opfer in einen transzendentalen Zustand. Jene Wonne, die der
zivilisierte
Europäer oder der Amerikaner in ihrem Alter von Marihuana
bekam, erhielten die
Moskauer Studenten vom Schlag auf das Ohr.
Viele gingen ins nahe
gelegene Dorf, um zu erkunden, wie dort „die Erdbeeren
wachsen“. Die kleine
ossetische Ärztin riet den Studenten beim Abendappell dringend
von solchen
Abenteuern ab. Sie behauptete, dass in den umliegenden Dörfern
die erwachsene
Bevölkerung bis zu achtzig Prozent an Syphilis erkrankt sei.
Einige haben ihr
nicht geglaubt. Sie mussten später langwierig und unangenehm
behandelt werden.
Dort kursierten nicht allein die Syphilis, sondern auch andere
Geschlechtskrankheiten, die zusammen im damaligen Jargon „der
Strauß“ genannt
wurden.
Wadim ging gern im Wald
spazieren. Pilze
sammeln oder einfach so. Der Wald schien grenzenlos zu sein.
Zwischen den Wäldern lagen riesige Felder mit Kartoffeln, die
offenbar niemand
ernten wollte.
„Alles hier ist nicht
meines, alles gehört der Kolchose, es wird sowieso alles im
Gemüsespeicher
verfaulen. Warum also ernten?“, so sprachen die Bauern. Man
wartete auf eine
„Wunderwaffe“, die Vollerntemaschine aus der DDR.
Auf sie zu warten war jedoch
töricht. Die Vollerntemaschinen standen bereits still in der
Garage, unweit von
dem Kuhstall. Schon seit drei Jahren. Die Kolchose hatte sie nach einem
Besuch
des Vorsitzenden in der DDR gekauft. Leider ohne Ersatzteile.
Dafür hatte das
Geld nicht gereicht. Jeder weiß, was das bedeutet. Nach
mehrwöchigem Einsatz
müssen solche Maschinen gewartet und Verschleißteile
ausgewechselt werden,
sonst fallen sie aus. Nun standen die Wunderwaffen in der Garage. Man
schmierte
sie gegen Rost ein, man zeigte sie den Gästen der Kolchose,
aber um die
Kartoffeln
aus dem Boden zu buddeln, wurden aus der Stadt
Mathematik-Studenten
mit Eimern und Säcken herbeigerufen. (...)
aus dem
Erzählband
Igor Schestkow:
"Das
Ende des Professors Tschesnokow"
Pro
Business, April 2009. 393 Seiten.
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