Evelyn Schlag: "Brauchst du den Schlaf dieser Nacht"


Dauerbrenner Sehnsucht: An einer unsichtbaren Küste entlang

Evelyn Schlag, die sich auch als Übersetzerin britischer Lyriker wie John Donne und Douglas Dunn ("Elegien", 1991) einen Namen gemacht hat, wurde am 22. Dezember 1952 in Waidhofen an der Ybbs in Niederösterreich geboren. Sie studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Wien und ist als Lehrerin tätig. Seit Mitte der 1970er-Jahre publiziert sie eigene Texte, die ihr bereits zahlreiche Preise einbrachten:

1978 Preis des Erzählerwettbewerbs "Glückliches Österreich" der "Presse" Wien
1979 Förderungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur
1980 Paula-Grogger-Erzählpreis des Steirischen Schriftstellerbundes
1984 und 1993 Buchprämie des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst
1986 und 1993 Staatsstipendium des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst für Literatur
1988 Förderpreis des Bremer Literaturpreises der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung
1990 Förderungspreis des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst für Literatur
1994 Würdigungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur
1997 Anton-Wildgans-Preis der Industrie
1998 Otto Stoessl-Preis

Von der unbestechlichen Schönheit der Melancholie

Evelyn Schlag ist in vielen literarischen Gattungen innovativ-gestaltend präsent; neben Lyrik ("Ortswechsel des Herzens", 1989; "Der Schnabelberg", 1992; "Das Talent meiner Frau", 1999) verfasst sie Erzählungen ("Brandstetters Reise", 1985; "Touché", 1994; "Unsichtbare Frauen", 1995), Romane ("Die göttliche Ordnung der Begierden", 1998) sowie hochgeschätzte Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche.


Ihre Gedichte sind exterritoriale Refugien, immergrüne Inseln inmitten des hektischen Kommerz-Literaturbetriebes, Fenster in zeitlose Empfindungen, mit dem Raureif der Erwartung überhauchte Schöpfungen, die dem Mit- und Nebeneinander individueller Wahrnehmungsmuster innerhalb alltäglicher Gegenwartswelten Gestalt verleihen und das Bereisen der inneren wie umgebenden Daseinskulissen in Sprache abbilden. In den Elegien, Songs und erzählenden Langgedichten in Evelyn Schlags fünftem Gedichtband, "Brauchst du den Schlaf dieser Nacht", werden Begegnungen und Befindlichkeiten distanziert-intensiv kartografiert, sprachlich weder gedrungen-verdichtet noch nachdrücklich aufgefächert; Schlichtheit als reizvolle Alternative zu experimenteller Bekenntnislyrik.

Ein Gedichtband, der die Fantasie beflügelt.

 

Ihr Reiselied

Ich fahre mit dir in den Kalender
Der jeden Tag eine Reise plant
Nur weil uns der Buchstabe gefällt
Mit dem Venedig und Vilnius beginnt

Ich reise mit dir in die Stunde
Die ich dir immer voraus bin
Seit ich verschoben von der Zeit
Mich etwas früher in dich verliebt

Ich reise mit dir in die Sterne
Wo sie klein wie Spielzeug sind
Wo wir sie so legen können daß
Man alle Wege zu Fuß gehen kann

Ich reise mit dir in die Nacht
In die brennenden Feuer am Hang
Die Unsäglichkeit zweier Körper
Die diese Liebe erst möglich macht

Ich reise mit dir ins Labyrinth
Wo es nach Tassos Rosmarin riecht
Wo deine Begierde die Zweige teilt
Und einen anderen Ausweg sucht

Ich reise mit dir in den März
Weil du da einmal geboren bist
Tagegleich mit meiner Hündin
Die ihre Nase in die Sonne reckt

Ich reise mit dir in den Schnee
Wo die fremden Tiere stehen und
Du ihnen von dem Papagei erzählst
Und schwörst der Rabe war bunt

Ich reise mit dir ins Rembrandt
In deine Bar mit dem alten Bild
Wo die Männer sich gern verlieben
Und die Männer auf der Suche sind

Ich reise mit dir in die Bücher
Wo es uns schon hundertmal gibt
Wo wir einander zitieren und
Das allerletzte Wort haben wir

(Evelyn Schlag)

(kre; 10/2002)


Evelyn Schlag: "Brauchst du den Schlaf dieser Nacht"
Zsolnay, 2002. 120 Seiten.
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Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):

"Sprache von einem anderen Holz"

Gedichte.
Evelyn Schlags Lyrik vermittelt den Eindruck, als buchstabierte sie immer wieder ein Wort: Liebe, wobei sie dessen fünf Buchstaben wie Töne behandelt, um aus ihnen das Lied vom Unaufhörlichen im Empfinden zu komponieren. Evelyn Schlags konsequent durchkomponierte Gedichtbände stoßen auf internationale Resonanz. Sie zeugen von hoher Musikalität und formaler wie thematischer Vielfalt. Ein feines Gespür für die geheimen Reden der Sprache findet sich auch in jeder Zeile des neuen Buches, das neben dem sinnlichen auch einen anderen, zornigen Ton anschlägt. Die Liebesgedichte erzählen vom "Ineinander der Kosungen" eines vertrauten Paares und von der als Mann imaginierten "erfundensten Stadt" St. Petersburg, von Gewalt, Konsum und den "Umleitungen des Schicksals" der Marginalisierten. (Zsolnay)
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"Yemen Café" zur Rezension ...

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