Audrey Niffenegger: "Die Frau des Zeitreisenden"


Absonderliches wird zur Banalität

Henry DeTamble hat eine ungewöhnliche genetische Anomalie, die ihn von seinen Zeitgenossen unterscheidet: Er ist "chronologisch gestört", wie ein Arzt später feststellen wird. Ab seinem fünften Lebensjahr wird er in Stresssituationen immer wieder aus seiner momentanen Gegenwart in eine andere Zeit geschleudert, wo er in der Regel ohne Kleidung - und später auch ohne Zahnfüllungen - ankommt. Deswegen entwickelt er sich gezwungenermaßen schnell zu einem überaus geschickten und gewandten Läufer, Dieb und Schläger; je nachdem, was er gerade sein muss.

Seine Zeitreisen verschlagen ihn dabei sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft, wobei es anscheinend keinerlei Probleme mit Paradoxien gibt, die bestimmte SF-Autoren über die Jahrzehnte immer wieder gerne in solche Reisen eingebaut haben, so dass er sich relativ frei mit früheren bzw. späteren Versionen seiner selbst sowie seiner Bekannten unterhalten kann, was jedoch die Komplexität sogar noch vergrößert.

Henrys Leben wird ab einem bestimmten Zeitpunkt von der jungen Clare Abshire begleitet, die ihm das erste Mal begegnet, als sie sechs Jahre alt ist. Er selbst ist da eigentlich schon älter, trifft sie allerdings, als er jünger ist, als zu dem Zeitpunkt, als er sie trifft. Wer jetzt verwirrt ist, der kann schon einmal überlegen, wie die beiden sich fühlen müssen. Und trotzdem entwickelt sich hier die Liebe eines Lebens, die schließlich sogar ganz ungewöhnliche Ergebnisse zeitigt.

"Kennen wir uns? Tut mir Leid, ich ..." Henry sieht sich um, befürchtet, wir könnten von Lesern oder Kollegen bemerkt werden, durchforstet sein Gedächtnis und begreift, dass eine zukünftige Ausgabe seines Ichs diesem strahlend glücklichen Mädchen, das da vor ihm steht, schon einmal begegnet ist. Als ich ihn das letzte Mal sah, hat er mir auf der Wiese die Zehen gelutscht.
Ich versuche, es ihm zu erklären: "Ich bin Clare Abshire. Ich kannte dich schon als kleines Mädchen..." Es ist mir peinlich, in einen Mann verliebt zu sein, der vor mir steht und nicht die leiseste Erinnerung an mich hat. Für ihn liegt alles in der Zukunft. Am liebsten würde ich lachen, so komisch finde ich die Situation. Die vielen Jahre, seit ich Henry kenne, gehen mir durch den Kopf, er dagegen sieht mich verdutzt und ängstlich an. Henry, der die alte Anglerhose meines Vaters anhat und mich geduldig das Einmaleins, französische Verben, alle Hauptstädte der Bundesstaaten abhört; Henry, der über ein seltsames Abendessen lacht, das ich ihm als Siebenjährige zur Wiese gebracht habe; Henry im Frack, der sich an meinem achtzehnten Geburtstag mit zitternden Händen die Manschettenknöpfe öffnet.
Er ist hier! In diesem Augenblick!
(Aus dem Roman)

Audrey Niffeneggers Romanerstling ist - schon aufgrund der Thematik und der "Krankheit" Henrys - ziemlich komplex, und man möchte es nach dem Einlesen gar nicht mehr aus der Hand legen, denn die Geschichte nimmt den Leser gefangen, und am Ende legt man das Buch sehr bewegt, mit der Gewissheit, es später wieder einmal zur Hand nehmen und noch einmal lesen zu müssen, beiseite.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 08/2008)


Audrey Niffenegger: "Die Frau des Zeitreisenden"
(Originaltitel "The Time Traveler's Wife")
Übersetzt von Brigitte Jakobeit.
Fischerverlag.
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Ein weiteres Buch der Autorin:

"Drei Schwestern. Eine Geschichte in Bildern"

Bevor Audrey Niffenegger mit ihrem Roman "Die Frau des Zeitreisenden" zur Erfolgsautorin wurde, arbeitete sie als Buchkünstlerin in Chicago. Vierzehn Jahre lang zeichnete sie im ironisch abgründigen Stil Edward Goreys eine berückende Märchengeschichte - das Buch ihres Herzens. Dafür nutzte sie das alte und hoch komplizierte Druckverfahren Aquatinta, dessen sich schon Goya bedient hatte.
In unvergesslich starken Bildern und einer klaren Sprache erzählt Audrey Niffenegger die Geschichte der "Drei Schwestern" Bettine, Ophile und Clothilde. Als sich alle drei in den schönen Jüngling Paris verlieben und Bettine schließlich ein Kind von ihm erwartet, bricht die Dreisamkeit auseinander. Aber das Kind ist ein Heiliger und führt am Ende ein Wunder herbei. Eine so märchenhafte wie wundersame Liebesgeschichte über Eifersucht, Rache und Versöhnung. (S. Fischer Verlag)
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