Der Junge namens Krähe
"An Geld bist du jetzt auch irgendwie gekommen, ja?", sagt der Junge namens
Krähe in seiner üblichen, etwas schwerfälligen Sprechweise, als wäre er gerade
aus dem Tiefschlaf erwacht und als funktionierten seine Sprechmuskeln noch nicht
richtig. Aber das ist reine Attitüde, in Wirklichkeit ist er hellwach. Wie immer.
Ich nicke.
"Wie viel ungefähr?"
Ich überschlage die Summe noch einmal im Kopf.
"Ungefähr 400 000 in bar. Außerdem kann ich noch ein bisschen mit der Karte
vom Bankkonto ziehen. Natürlich wird das nicht ewig reichen, aber für den Anfang
geht’s doch, oder?"
"Nicht schlecht", sagt Krähe. "Für den Anfang …"
Ich nicke.
"Aber das ist doch nicht das Geld, das dir der Weihnachtsmann letztes Jahr gebracht
hat, oder?"
"Nein", sage ich.
Krähe verzieht ironisch die Lippen und sieht sich um. "Es stammt aus irgendjemandes
Schublade hier - könnte das sein?"
Ich gebe keine Antwort. Natürlich weiß er ganz genau, woher das Geld kommt.
Er braucht gar nicht so drumherum zu fragen. Das tut er nur, um mich aufzuziehen.
"Schon gut", sagt Krähe. "Du brauchst ja Geld. Dringend. Irgendwie musstest
du es ja in die Finger bekommen. Leihen, erschwindeln, stehlen ... egal wie.
Es gehört doch sowieso deinem Vater. Für den Anfang wirst du schon zurechtkommen.
Aber was gedenkst du zu tun, wenn die 400 000 aufgebraucht sind? Geld wächst
nicht von alleine im Portemonnaie nach wie
Pilze im Wald.
Du musst essen und irgendwo schlafen. Irgendwann ist es dann alle."
"Das überlege ich mir, wenn es so weit ist", sage ich.
"Das überlege ich mir, wenn es so weit ist", äfft Krähe mich nach und breitet
die Handflächen aus, wie um das Gewicht meiner Worte zu ermessen.
Ich nicke.
"Zum Beispiel Arbeit suchen oder was?"
"Vielleicht."
Krähe schüttelt den Kopf. "Dazu musst du das Leben erst mal besser kennen. Wie
soll denn ein fünfzehnjähriger Junge in einer fremden Gegend einen Job finden?
Du hast ja nicht mal die Schulpflicht erfüllt. Wer wird so jemanden schon einstellen?"
Ich erröte ein bisschen. Ich werde immer gleich rot.
"Ist ja schon gut", sagt Krähe. "Außerdem bringt die ganze Schwarzseherei nichts,
wenn man noch nicht mal angefangen hat. Du hast dich entschieden, jetzt musst
du deinen Entschluss in die Tat umsetzen. Schließlich ist es dein Leben. Konkret
bleibt dir nichts anderes übrig, als das zu tun, was du vorhast."
Genau, immerhin ist das mein Leben.
"Aber vor allem musst du jetzt stark werden."
"Ich gebe mir Mühe."
"Stimmt", sagt Krähe. "In den letzten Jahren bist du ganz schön kräftig geworden.
Das kann ich nicht leugnen."
Ich nicke.
"Allerdings bist du erst fünfzehn", sagt Krähe. "Dein Leben hat, gelinde ausgedrückt,
gerade erst begonnen. Die Welt ist voll von Dingen, denen du noch nie begegnet
bist. Von denen du überhaupt noch keine Vorstellung hast."
Wie üblich sitzen wir nebeneinander auf dem alten Ledersofa im Arbeitszimmer
meines Vaters. Krähe schätzt diesen Raum sehr. Er liebt die kleinen Gegenstände,
die es hier gibt. Gerade spielt er mit einem gläsernen Briefbeschwerer, der
die Form einer Biene hat. Natürlich lässt er sich nicht blicken, wenn mein Vater
zu Hause ist.
"Eins steht jedenfalls fest", sage ich, "ich muss hier raus. Daran ist nicht
zu rütteln."
"Mag sein", pflichtet Krähe mir bei. Er legt den Briefbeschwerer auf den Tisch
und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. "Aber das ist keine Lösung für alles.
Ich will deinen Entschluss nicht ins Wanken bringen, aber ich weiß nicht, ob
du dem Ganzen wirklich entkommen kannst, auch wenn du noch so weit fährst. Du
solltest dir nicht allzu viel von der Entfernung versprechen."
Ich denke über die Entfernung nach. Krähe drückt sich seufzend die Fingerkuppen
auf beide Augenlider. Dann spricht er mich aus dem Dunkel seiner geschlossenen
Augen an.
"Spielen wir unser Spiel?"
"Einverstanden." Ich schließe ebenfalls die Augen und atme langsam und tief
ein.
"Also gut, stell dir einen grausamen Sandsturm vor", sagt er. "Und vergiss alles
andere."
Wie geheißen, stelle ich mir einen tobenden Sandsturm vor. Und vergesse alles
andere. Sogar mich selbst. Ich werde völlig leer. Sofort taucht er vor mir auf.
Wie schon so oft erleben Krähe und ich so etwas gemeinsam auf dem alten Ledersofa
im Arbeitszimmer meines Vaters.
Hin und wieder hat das Schicksal Ähnlichkeit mit einem örtlichen Sandsturm,
der unablässig die Richtung wechselt, erklärt mir Krähe.
Hin und wieder hat das Schicksal
Ähnlichkeit mit einem örtlichen Sandsturm, der unablässig die Richtung wechselt.
Sobald du deine Laufrichtung änderst, um ihm auszuweichen, ändert auch der Sturm
seine Richtung, um dir zu folgen. Wieder änderst du die Richtung. Und wieder
schlägt der Sturm den gleichen Weg ein. Dies wiederholt sich Mal für Mal, und
es ist, als tanztest du in der Dämmerung einen wilden Tanz mit dem Totengott.
Dieser Sturm ist jedoch kein beziehungsloses Etwas, das irgendwoher aus der
Ferne heraufzieht. Eigentlich bist der Sandsturm du selbst. Etwas in dir. Also
bleibt dir nichts anderes übrig, als dich damit abzufinden und, so gut es geht,
einen Fuß vor den anderen zu setzen, Augen und Ohren fest zu verschließen, damit
kein Sand eindringt, und dich Schritt für Schritt herauszuarbeiten. Vielleicht
scheint dir auf diesem Weg weder Sonne noch Mond, vielleicht existiert keine
Richtung und nicht einmal die Zeit. Nur winzige, weiße Sandkörner, wie Knochenmehl,
wirbeln bis hoch hinauf in den Himmel. So sieht der Sandsturm aus, den ich mir
vorstelle.
Ich stelle mir diesen Sandsturm vor. Ein bleiche Windhose steigt in den Himmel
wie ein dickes gerades Seil. Mit beiden Händen halte ich mir Augen und Ohren
zu, damit die winzigen Sandkörner nicht in meinen Körper eindringen. Der Sandsturm
rast auf mich zu, sodass ich den Luftdruck schon von Weitem auf meiner Haut
spüren kann. Schon droht er, mich zu verschlingen.
Nach einer Weile legt Krähe sacht seine Hand auf meine Schulter. Der Sandsturm
verebbt, doch ich halte die Augen weiter geschlossen.
"Von nun an musst du der stärkste fünfzehnjährige Junge auf der Welt werden.
Komme, was wolle. Eine andere Überlebenschance hast du nicht. Du musst begreifen,
was Stärke wirklich bedeutet. Verstehst du?"
Ich antworte nicht. Am liebsten würde ich, seine Hand auf meiner Schulter, behaglich
einschlafen. Ich spüre einen sanften Flügelschlag an meinem Ohr.
"Von nun an wirst du zum stärksten Fünfzehnjährigen der Welt", sagt Krähe mir
noch einmal leise ins Ohr, derweil ich schon in den Schlaf hinüber gleite. Doch
seine Worte sind mir wie mit dunkelblauen Zeichen ins Herz tätowiert.
Natürlich kommst du durch. Durch diesen tobenden Sandsturm. Diesen metaphysischen,
symbolischen Sandsturm. Doch auch wenn er metaphysisch und symbolisch ist, wird
er dir wie mit tausend Rasierklingen das Fleisch aufschlitzen. Das Blut vieler
Menschen wird fließen, auch dein eigenes. Warmes, rotes Blut. Du wirst dieses
Blut mit beiden Händen auffangen. Es ist dein Blut und das der vielen.
Und wenn der Sandsturm vorüber ist, wirst du kaum begreifen können, wie du ihn
durchquert und überlebt hast. Du wirst auch nicht sicher sein, ob er wirklich
vorüber ist. Nur eins ist sicher. Derjenige, der aus dem Sandsturm kommt, ist
nicht mehr derjenige, der durch ihn hindurchgegangen ist. Darin liegt der Sinn
eines Sandsturms.
Als mein fünfzehnter Geburtstag gekommen war, ging ich von zu Hause fort, um
in einer fernen, fremden Stadt in einem Winkel einer kleinen Bibliothek zu leben.
Um alles der Reihe nach zu erzählen, brauche ich wahrscheinlich eine Woche.
Auch nur die wichtigsten Punkte aufzuführen, würde ungefähr genauso lange dauern.
Als mein fünfzehnter Geburtstag gekommen war, ging ich von zu Hause fort,
um in einer fernen, fremden Stadt in einem Winkel einer kleinen Bibliothek zu
leben. Das klingt vielleicht wie der Beginn eines Märchens. Aber es ist
kein Märchen. In keinem Sinne.
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Als ich fortgehe, nehme ich nicht nur, ohne zu fragen, Geld aus dem Arbeitszimmer
meines Vaters, sondern auch ein kleines goldenes Feuerzeug (dessen Design und
Gewicht mir gefallen) und ein Klappmesser mit einer scharfen Schneide. Es dient
zum Häuten von Hirschen und liegt gut und schwer in der Hand. Die Klinge ist
zwölf Zentimeter lang. Vielleicht ein Souvenir von einer Auslandsreise. Außerdem
nehme ich noch eine starke Taschenlampe aus der Schreibtischschublade. Seine
Sonnenbrille brauche ich, um mein Alter zu kaschieren. Eine dunkelblaue Rebo-Sonnenbrille.
Ich überlege, ob ich auch die geliebte Sea Oyster-Rolex meines Vaters mitnehmen
soll, entscheide mich aber am Ende dagegen. Die Schönheit der Uhr als Maschine
verlockt mich, aber ein so kostspieliges Ding kann unnötige Aufmerksamkeit erregen.
Vom praktischen Standpunkt genügt die Plastik-Casio mit Stoppuhr und Wecker,
die ich ständig am Arm trage. Sie ist auch leichter zu bedienen. Ich lege die
Rolex wieder in die Schublade zurück.
Außerdem nehme ich ein Kinderfoto von
mir und meiner älteren Schwester mit, das sich ebenfalls in der Schreibtischschublade
befindet. Wir beide stehen
an
einem Strand und lachen vergnügt. Meine Schwester schaut zur Seite, und
die eine Hälfte ihres Gesichts liegt im Schatten. Deshalb erscheint es wie in
der Mitte geteilt. Wie eine griechische Theatermaske, von der ich ein Bild in
einem Schulbuch gesehen habe, trägt ihr Gesicht zwei Bedeutungen. Licht und
Schatten. Hoffnung und Verzweiflung. Lachen und Trauer. Vertrauen und Einsamkeit.
Ich hingegen blicke unbefangen direkt in die Kamera. Außer uns beiden ist an
dem Strand niemand zu sehen. Wir haben Schwimmkleidung an, meine Schwester einen
rotgeblümten Badeanzug und ich eine schäbige, blaue, ausgeleierte Badehose.
Ich halte etwas in der Hand, das aussieht wie ein Plastikstock. Der weiße Schaum
der Wellen umspült unsere Füße.
Wer wohl dieses Foto wo und wann aufgenommen hat? Warum mache ich ein so vergnügtes
Gesicht? Warum hat mein Vater gerade dieses Foto aufbewahrt? Rätsel über Rätsel.
Ich bin wahrscheinlich drei und meine Schwester ungefähr neun. Offensichtlich
haben wir uns sehr gut verstanden. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an
einen Familienausflug ans Meer. Überhaupt erinnere ich mich nicht daran, jemals
irgendwohin gefahren zu sein. Keinesfalls will ich meinem Vater die alte Fotografie
lassen, also stecke ich sie in meine Brieftasche. Von meiner Mutter gibt es
keine Aufnahmen. Wahrscheinlich hat mein Vater sie alle weggeworfen.
Nach kurzem Zögern beschließe ich, auch das Mobiltelefon mitzunehmen. Wahrscheinlich
wird mein Vater, wenn er sein Fehlen bemerkt, den Vertrag bei der Telefongesellschaft
sowieso gleich kündigen. Es wäre dann zu nichts mehr nütze. Dennoch packe ich
es in meinen Rucksack. Das Ladegerät nehme ich auch mit. Immerhin ist das Zeug
leicht. Wenn ich merke, dass das Handy tot ist, kann ich es immer noch fortwerfen.
Ich will nur das Allernotwendigste mitnehmen. Am schwierigsten ist die Kleiderfrage.
Wie viel Unterwäsche werde ich brauchen? Wie viele Pullover? Hemden, Hosen,
Handschuhe, Schal, Shorts, einen Mantel? Nachdem ich einmal angefangen habe,
darüber nachzudenken, wird die Liste immer länger. Eins ist jedoch klar: Schleppe
ich zuviel mit mir herum, wird man mir den Ausreißer gleich ansehen. So kann
ich nicht in einer fremden Gegend herumlaufen, ohne sofort Aufmerksamkeit auf
mich zu ziehen. Dann werde ich von der Polizei aufgegriffen und postwendend
nach Hause zurückgeschickt. Oder ich falle irgendwelchen Finsterlingen in die
Hände.
Lieber nicht in eine kalte Gegend fahren, ist meine nächste Schlussfolgerung.
Ganz einfach. Also begebe ich mich eben in wärmere Gefilde. Dann brauche ich
auch keinen Mantel. Handschuhe auch nicht. Wenn ich mich nicht vor Kälte schützen
muss, reduziert sich die Menge der notwendigen Kleidungsstücke um die Hälfte.
Ich wähle möglichst leichte, dünne Sachen, die sich problemlos waschen lassen
und schnell trocknen, und stopfe sie klein gefaltet in den Rucksack. Außer den
Sachen zum Anziehen nehme ich meinen Drei-Jahreszeiten-Schlafsack mit, den ich
so fest zusammenrolle, dass keine Luft mehr darin ist, einen einfachen Waschbeutel,
ein Regencape, Heft und Kugelschreiber, einen Mini-Discman von Sony, mit dem
man aufnehmen kann, zehn CDs (Musik brauche ich unbedingt) und einen Extrasatz
aufladbare Batterien. Auf einen Campingkocher verzichte ich. Zu schwer und zu
sperrig. Lebensmittel kann ich im Supermarkt kaufen. Es dauert eine Weile, bis
die Liste der Dinge, die ich mitnehmen werde, auf annehmbare Länge geschrumpft
ist. Ein ums andere Mal schreibe ich Dinge dazu, bloß um sie wieder zu streichen.
Mein fünfzehnter Geburtstag
erscheint mir als ein passender Zeitpunkt für meine Flucht. Davor ist es zu
früh, danach vielleicht zu spät.
In den zwei Jahren, die ich bis jetzt auf der Mittelschule bin, habe ich intensiv
für diesen Tag trainiert. Seit der Grundschule bin ich in einem Judo-Verein,
den ich auch als Mittelschüler weiter besuche. An den sportlichen Aktivitäten
an meiner Schule nehme ich allerdings nicht teil. Wenn ich Zeit habe, drehe
ich einsame Runden auf dem Sportplatz, schwimme oder treibe Kraftsport an den
Geräten im kommunalen Turnverein. Die jungen Trainer dort zeigen mir, wie man
richtig dehnt und an den Geräten arbeitet. Wie kann ich die Leistung aller meine
Muskeln gleichmäßig steigern?
Welche Muskeln benutze ich im täglichen Leben und welche kann ich nur durch
Kraftsport aufbauen? Was ist die korrekte Haltung auf den Bänken? Glücklicherweise
bin ich von Natur aus groß, und dank meines täglichen Trainings habe ich breite
Schultern und einen muskulösen Brustkorb entwickelt. Fremde würden mich mittlerweile
wahrscheinlich auf mindestens siebzehn schätzen. Mit der äußeren Erscheinung
eines Fünfzehnjährigen bekäme ich garantiert überall Probleme.
Außer mit den Trainern im Sportverein und der Haushaltshilfe, die jeden zweiten
Tag zu uns kommt und ein paar beiläufige Worte mit mir wechselt, sowie bei ein
paar unvermeidlichen Gesprächen in der Schule, rede ich mit fast niemandem.
Meinen Vater bekomme ich seit eh und je nur selten zu Gesicht. Obwohl wir in
einem Haus leben, haben wir einen sehr unterschiedlichen Lebensrhythmus. Mein
Vater ist fast den ganzen Tag in seinem Atelier. Unnötig zu erwähnen, dass ich
stets darauf bedacht bin, ihm so wenig wie möglich zu begegnen.
Die Schule, auf die ich gehe, ist eine Privatschule, die zum Großteil von Kindern
aus besseren oder zumindest wohlhabenden Familien besucht wird. Solange man
keinen allzu großen Unsinn fabriziert, kann man sie bis zum Abitur besuchen.
Alle dort haben gerade Zähne, sind adrett gekleidet und reden langweiliges Zeug.
Natürlich bin ich in meiner Klasse bei keinem beliebt. Um mich herum habe ich
eine hohe Mauer gezogen, hinter der ich mich verschanze. Anderen verweigere
ich jeden Zutritt. So einen mag natürlich niemand. Meine Mitschüler meiden mich
und betrachten mich mit Argwohn. Oder sie finden mich unangenehm oder fürchten
sich vielleicht sogar ab und zu vor mir. Aber eigentlich bin ich fast dankbar,
wenn niemand mich beachtet. Denn das, was ich allein tun muss, türmt sich vor
mir auf wie ein Berg. Meine Freizeit verbringe ich in der Schulbibliothek, wo
ich ein Buch nach dem anderen verschlinge.
Dem Unterricht hingegen folge ich mit großem Eifer, denn das hat mir Krähe besonders
ans Herz gelegt.
Wahrscheinlich bist du der Ansicht, dass das Wissen und die Fähigkeiten,
die an der Mittelschule gelehrt werden, dir für dein gegenwärtiges Leben nichts
nützen. Und dass die meisten deiner Lehrer Volltrottel sind. Kann ich verstehen.
Du hast sogar Recht, aber: Du wirst von zu Hause fortgehen. Deshalb solltest
du, solange sich dir noch die Gelegenheit bietet, sicherheitshalber so viel
Stoff abspeichern, wie du kannst, ob es dir nun gefällt oder nicht. Wie Löschpapier
aufsaugen. Was du davon behältst und was du verwirfst, kannst du später immer
noch entscheiden.
Ich folge seinem Rat. (In der Regel pflege ich Krähes Ratschlägen zu gehorchen).
Ich konzentriere mich, spitze die Ohren, und mein Gehirn saugt wie ein Schwamm
alles auf, was im Unterricht gesagt wird. Dadurch gelingt es mir, in der kurzen
Zeit der Schulstunden alles zu begreifen, sodass meine Leistungen in den Klassenarbeiten
stets zu den besten gehören, obwohl ich außerhalb der Schule so gut wie nie
lerne.
Meine Muskeln werden hart wie Stahl, und ich werde immer wortkarger. Ich versuche,
mein Mienenspiel beherrschen zu lernen, damit meine Lehrer und Mitschüler mir
keine meiner Gefühlsregungen und Gedanken vom Gesicht ablesen können. Bald werde
ich die unbarmherzige, grausame Welt der Erwachsenen betreten und dort ganz
auf mich gestellt überleben müssen. Deshalb muss ich zäher und stärker werden
als alle anderen.
Im Spiegel sehe ich, dass meine Augen kalt glänzen wie die einer Eidechse und
dass mein Gesichtsausdruck immer versteinerter und unnahbarer wird. Auch wenn
ich darüber nachdenke, kann ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal
gelacht habe. Oder gelächelt. Nicht einmal für mich selbst.
Doch nicht immer gelingt es mir, meine stumme Isolation zu verteidigen. Der
hohe Schutzwall, der mich umgibt, kommt leicht zum Einsturz. Das geschieht nicht
oft, aber doch hin und wieder. Unerwartet fällt die Mauer, sodass ich der Welt
nackt gegenüberstehe. In solchen Fällen überkommt mich Verwirrung. Grauenhafte
Verwirrung. Und dazu kommt noch die Prophezeiung. Ständig lauert sie in mir
wie ein dunkles, trübes Gewässer.
Ständig lauert die Prophezeiung wie ein dunkles, trübes Gewässer.
Noch lauert sie heimlich an irgendeiner unbekannten Stelle. Aber wenn die Zeit
kommt, wird sie lautlos überfließen, deine Zellen eine nach der anderen kalt
durchdringen, und du wirst in dem Gefühl, gleich in dieser grausamen Flut zu
ertrinken, nach Luft ringen. An einem Luftschacht an der Decke wirst du kleben
und in Panik nach der frischen Luft im Freien schnappen. Aber die Luft, die
du einsaugst, ist heiß und trocken und verbrennt dir die Kehle mit ihrer Hitze.
Mit vereinten Kräften fallen die Extreme Wasser und Trockenheit, Kälte und Hitze
gleichzeitig über dich her.
Auf der ganzen weiten Welt findet sich nirgends ein Ort, der dir Zuflucht bieten
kann - obwohl schon das kleinste Eckchen genügen würde. Suchst du die Stimme
der Prophezeiung, herrscht nur tiefes Schweigen. Doch kaum suchst du das Schweigen,
dröhnt sie unablässig. Als hätte jemand auf einen geheimen, in deinem Kopf versteckten
Knopf gedrückt.
Dein Herz gleicht einem großen, von langem Regen angeschwollenen Fluss. Alle
Orientierungspunkte sind restlos in seinen Fluten verschwunden, vielleicht schon
an irgendeinen dunklen Ort davongeschwemmt. Immerfort prasselt der Regen auf
den Fluss. Und sooft du in den Nachrichten eine überflutete Landschaft siehst,
denkst du: Ja, genauso sieht es in meinem Herzen aus.
Bevor ich von zu Hause fortlaufe, wasche ich mir Gesicht und Hände mit
Seife. Ich schneide mir die Nägel, säubere mir die Ohren und putze mir die Zähne.
Ich nehme mir Zeit für eine möglichst gründliche Reinigung. Sauberkeit ist manchmal
wichtiger als alles andere. Anschließend betrachte ich mein Gesicht aufmerksam
im Badezimmerspiegel. Das Gesicht, das mein Vater und meine Mutter - wenngleich
ich nicht die geringste Erinnerung an meine Mutter habe - mir vererbt haben.
Ich kann jeden Ausdruck daraus verbannen, das Leuchten in meinen Augen abtöten,
Muskeln aufbauen, soviel ich will, das Gesicht selbst kann ich nicht verändern.
So sehr ich es mir auch wünsche, die dunklen, langen Brauen mit der tiefen Kerbe
dazwischen, die ich von meinem Vater habe, kann ich nicht loswerden. Wenn ich
wollte, könnte ich meinen Vater töten (mit der Kraft, die ich inzwischen besitze,
wäre das keine Schwierigkeit) und die Mutter aus meinem Gedächtnis streichen,
aber ihre Gene in mir kann ich nicht löschen. So wenig wie ich mich selbst aus
mir vertreiben kann.
Und dann ist da noch die Prophezeiung. Wie ein innerer Mechanismus ist sie mir
einprogrammiert.
Mir einprogrammiert wie ein Mechanismus. Ich mache das Licht aus und
verlasse das Badezimmer.
Im Haus herrscht eine schwere, drückende Stille. Sie besteht aus dem Flüstern
von Menschen, die nicht existieren, dem Atem von Menschen, die nicht leben.
Ich sehe mich um, bleibe stehen und hole tief Luft. Die Zeiger der Uhr stehen
auf kurz nach drei Uhr nachmittags. Sie wirken schrecklich kalt und distanziert.
Unparteiisch zwar, aber eben doch nicht auf meiner Seite. Allmählich wird es
Zeit, diesen Ort hinter mir zu lassen. Ich schultere meinen kleinen Rucksack.
Obwohl ich ihn immer wieder probeweise aufgesetzt habe, fühlt er sich auf einmal
viel schwerer an als vorher.
Als Reiseziel habe ich Shikoku gewählt. Nicht, dass es einen bestimmten Grund
für mich gibt, nach Shikoku zu fahren. Aber als ich den Atlas aufschlage, habe
ich irgendwie das Gefühl, dass ich mich dorthin wenden sollte. Je öfter ich
darauf schaue, umso mehr zieht die Gegend mich an. Shikoku liegt viel südlicher
als Tokyo, ist von Hondo durch das Meer getrennt und verfügt über ein mildes
Klima. Ich war noch nie auf Shikoku und habe dort weder Bekannte noch Verwandte.
Schon deshalb wird es unmöglich sein, mich dort aufzuspüren, selbst wenn jemand
sich tatsächlich auf die Suche nach mir begeben sollte (womit ich ohnehin nicht
rechne).
Am Schalter kaufe ich mir eine Fahrkarte für einen reservierten Platz und steige
in den Nachtbus - die billigste Möglichkeit nach Takamatsu zu kommen. Das Ticket
kostet etwas über 10 000 Yen. Niemand nimmt von mir Notiz. Keiner fragt nach
meinem Alter oder schaut sich mein Gesicht an. Mit dienstlicher Miene kontrolliert
der Fahrer mein Ticket, mehr nicht.
Der Bus ist nur zu etwa einem Drittel besetzt. Da die Mehrzahl der Passagiere
wie ich allein unterwegs ist, herrscht im Bus eine etwas unnatürliche Stille.
Die Reise nach Takamatsu ist ziemlich weit. Dem Fahrplan zufolge dauert sie
ungefähr zehn Stunden. Ankunft ist in den frühen Morgenstunden des nächsten
Tages. Aber Zeit spielt sowieso keine Rolle für mich. Zeit habe ich jetzt, so
viel ich will. Als der Bus kurz nach acht Uhr abfährt, lehne ich mich in meinen
Sitz zurück und schlafe auf der Stelle ein, als habe man mir die Batterie abgeschaltet.
Vor Mitternacht beginnt es plötzlich stark zu regnen. Von Zeit zu Zeit wache
ich auf und schaue zwischen den billigen Vorhängen hindurch auf die nächtliche
Schnellstraße. Der heftig gegen die Scheiben prasselnde Regen lässt das Licht
der Straßenlaternen verschwimmen, die sich in regelmäßiger Abfolge am Rand entlang
ziehen, soweit das Auge reicht. Ein neues Licht wird eingeholt, wird im schon
nächsten Augenblick zum alten Licht, um dann unwiderruflich auf der Strecke
zu bleiben. Ehe ich mich versehe, ist es zwölf Uhr vorbei. Automatisch, wie
von hinten angeschoben, ist mein fünfzehnter Geburtstag da.
"Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag", sagt Krähe.
"Danke."
Wie ein Schatten verfolgt mich die Prophezeiung. Nachdem ich mich vergewissert
habe, dass meine Mauer nicht eingestürzt ist, ziehe ich den Vorhang zu und schlafe
weiter.
(Aus "Kafka am Strand" von Haruki Murakami.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. )
"Kafka am Strand" ist ein ungewöhnlicher
Entwicklungs- und Liebesroman von Japans Kultautor: zeitlos und ortlos, voller
Märchen und Mythen, zwischen Traum und Wirklichkeit - und dabei voller Weisheit.
Der Erzähler dieser Zeilen heißt Kafka Tamura, und seine Reise führt in Wirklichkeit
aus der realen Welt hinaus in sein eigenes Inneres, entlang an den Ufern des
Bewusstseins. Eine schicksalhafte Prophezeiung, der Geschichte von
Ödipus
gleich, lenkt Kafkas labyrinthischen Weg.
"Kafka am Strand" heißt das Bild an der Wand von Saeki, der rätselhaften Leiterin
jener kleinen Bibliothek. Und "Kafka am Strand" heißt auch der Song aus der
Zeit, als Saeki noch Pianistin war und einen jungen Mann leidenschaftlich liebte,
sie waren ein Paar wie
Romeo und Julia.
Die Wege des Erzählers Kafka kreuzen sich auf geheimnisvolle Weise mit den ihren
und denen eines alten Mannes,
der
die Sprache der Katzen versteht und Spuren folgt, die in eine andere Welt
weisen.
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