(....) "Warum erst jetzt?"
sagte jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder ... Weil
ich wie damals, als der Schrei überm Wasser lag, schreien wollte, aber
nicht konnte ... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen ... Weil
jetzt erst ...
Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir. Jemand, der keine
Ausreden mag, nagelt mich auf meinen Beruf fest. Schon als junger Spund
hätte ich, fix mit Worten, bei einer Springer-Zeitung volontiert, bald
gekonnt die Kurve gekriegt, später für die "taz" Zeilen gegen Springer
geschunden, mich dann als Söldner von Nachrichtenagenturen kurz gefaßt
und lange Zeit freiberuflich all das zu Artikeln verknappt, was frisch
vom Messer gesprungen sei: Täglich Neues. Neues vom Tage.
Mag schon sein, sagte ich. Aber nichts anderes hat unsereins gelernt.
Wenn ich jetzt beginnen muß, mich selber abzuwickeln, wird alles, was
mir schiefgegangen ist, dem Untergang eines Schiffes eingeschrieben
sein, weil nämlich, weil Mutter damals hochschwanger, weil ich überhaupt
nur zufällig lebe.
Und schon bin ich abermals jemand zu Diensten, darf aber vorerst von
meinem bißchen Ich absehen, denn diese Geschichte fing lange vor mir,
vor mehr als hundert Jahren an, und zwar in der mecklenburgischen
Residenzstadt Schwerin, die sich zwischen sieben Seen erstreckt, mit der
Schelfstadt und einem vieltürmigen Schloß auf Postkarten ausgewiesen ist
und über die Kriege hinweg äußerlich heil blieb.
Anfangs glaubte ich nicht, daß ein von der Geschichte längst abgehaktes
Provinznest irgendwen, außer Touristen, anlocken könnte, doch dann wurde
der Ausgangsort meiner Story plötzlich im Internet aktuell. Ein
Namenloser gab mit Daten, Straßennamen und Schulzeugnissen
personenbezogene Auskunft, wollte für einen Vergangenheitskrämer wie
mich unbedingt eine Fundgrube aufdecken.
Bereits als die Dinger auf den Markt kamen, habe ich mir einen Mac mit
Modem angeschafft. Mein Beruf verlangt diesen Abruf weltweit
vagabundierender Informationen. Lernte leidlich, mit meinem Computer
umzugehen. Bald waren mir Wörter wie Browser und Hyperlink nicht mehr
böhmisch. Holte Infos für den Gebrauch oder zum Wegschmeißen per
Mausklick rein, begann aus Laune oder Langeweile von einem Chatroom zum
anderen zu hüpfen und auf die blödeste Junk-Mail zu reagieren, war auch
kurz auf zwei, drei Pornosites und stieß nach ziellosem Surfen
schließlich auf Homepages, in denen sogenannte Vorgestrige, aber auch
frischgebackene Jungnazis
ihren Stumpfsinn auf Haßseiten abließen. Und plötzlich - mit einem
Schiffsnamen als Suchwort - hatte ich die richtige Adresse angeklickt:
"www.blutzeuge.de".
In gotischen Lettern klopfte eine "Kameradschaft Schwerin" markige
Sprüche. Lauter nachträgliches Zeug. Mehr zum Lachen
als zum Kotzen.
Seitdem steht fest, wessen Blut
zeugen soll. Aber noch weiß ich nicht, ob, wie gelernt, erst das eine,
dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden
soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muß,
etwa nach Art der Krebse,
die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich
schnell vorankommen. Nur soviel ist sicher: Die Natur oder genauer
gesagt die Ostsee hat zu all dem, was hier zu berichten sein wird, schon
vor länger als einem halben Jahrhundert ihr Ja und Amen gesagt. (...)
(Aus der Novelle "Im Krebsgang" von Günter Grass.)
"Diese Geschichte fing lange
vor mir, vor mehr als hundert Jahren an, und zwar in der
mecklenburgischen Residenzstadt Schwerin." Hier wird 1895 jener Mann
geboren, der später als "Blutzeuge" gefeiert und einem Schiff den Namen
geben wird, dessen Untergang am 30. Januar 1945 die größte Katastrophe
in der Geschichte der Seefahrt darstellt. Das ehemalige
Kraft-durch-Freude-Kreuzschiff "Wilhelm Gustloff" mit Tausenden von
Flüchtlingen und Soldaten an Bord wird von den Torpedos eines
sowjetischen U-Boots versenkt, schätzungsweise fünf- bis neuntausend
Menschen finden in der eisigen Ostsee den Tod.
Eine der Überlebenden des Grauens ist die hochschwangere Tulla Pokriefke
aus Danzig, die schon in "Katz und Maus", in "Hundejahre" und in "Die
Rättin" eine Rolle spielt. Ihr in jener Nacht geborener Sohn Paul,
Journalist und Chronist der Geschichte, stößt eines Tages zufällig auf
die brisante Internet-Seite einer "Kameradschaft Schwerin", die ihn
fortan umtreibt. Dabei fördert er ein menschliches Drama zutage, das bis
in unsere Gegenwart hineingreift und nicht zuletzt seine eigene Familie
tangiert.
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