König Zucker
Es war von Anfang an die trostlose Affäre par excellence gewesen, wie Polizeikommissar
Kreibig sofort am Tatort feststellte. Schiebermilieu - der Tote, der am Boden
lag, mit einer Stichwunde in der Brust, an der er verblutet war, hieß Jakob
Kußmaul, stammte nach seinem Paß aus
Riga,
aber vielleicht hieß er gar nicht Kußmaul, vielleicht stammte er
aus Bukarest,
bei diesen Leuten war man nie sicher ... Und der Kommissar Kreibig seufzte.
Es war vier Jahre nach dem Weltkrieg, Wien war ausgehungert, und alle Welt schob.
Seufzend dachte Kreibig daran, daß er wahrscheinlich Hofrat geworden wäre, wenn
die alte Monarchie noch geblieben wäre, aber so ...
Und da war also dieser Jakob Kußmaul, der vielleicht gar nicht so hieß, lag
am Boden, sein rosa Seidenhemd war auf der linken Seite der Brust zerrissen,
und ein großer Blutfleck hatte das zarte Gewebe starr und bräunlich gemacht.
Der Tote lag neben einem Tisch, und auf dem Tisch stand ein Schachbrett mit
Figuren. Eine begonnene Partie. Neben dem Brett zwei Tassen mit schwarzem Kaffee,
halb geleert, daneben zwei Silberschälchen für den Zucker: auf dem einen eines
jener viereckigen Päckchen, in welchem drei Stückchen sogenannten Würfelzuckers
verpackt sind, das andere leer.
Auf dem Boden aber lag Jakob Kußmaul und hielt in der Rechten den schwarzen
König des Schachspiels, in der Linken ein viereckiges Päckchen Würfelzucker,
das zweite Päckchen, das offenbar vorher im leeren Silberschälchen auf dem Tisch
gelegen hatte.
"Wie lange hat er noch gelebt?" fragte Kommissar Kreibig den Gerichtsarzt. "Oh,
so zwei - drei Minuten, glaub' ich."
"War er noch bei Besinnung?"
"Glaub' schon, glaub' schon. So einer, der hat ein zähes Leben, das können Sie
mir glauben, Herr Hofrat."
"Und Sie glauben, das hat etwas zu bedeuten, das, was er da in der Hand hält?"
"Möglich wär's schon ... Aber was? Ein schwarzer Schachkönig und drei Stückerl
Würfelzucker? ... Was soll das bedeuten? ... Verstehen Sie das, Herr Hofrat?"
"Vielleicht", sagte der Kommissar, dem der 'Hofrat' des Doktors angenehm in
die Ohren streichelte. "Vielleicht hat uns der Ermordete damit einen Fingerzeig
geben wollen, einen Fingerzeig, verstehen Sie, Herr Doktor, wie wir zum Mörder
gelangen. Denn etwas bedeutet der Zucker doch ..."
"Und die Schachfigur ..." wagte bescheiden der Polizist Hochroitzpointer einzuwerfen.
Er trug einen armseligen roten Schnurrbart, und seine Stirn war gefurcht.
"Ja", sagte der Kommissar, "der schwarze König ... Ich kenn' einen König Haber,
ich kenn' einen König Lear und wie die Könige alle bei Shakespeare heißen, Heinrich
und Richard und auch König Ottokar kenn' ich - aber einen König Zucker. König
Zucker ..." wiederholte er und schüttelte den Kopf. Er sah sich im Zimmer um.
Ein Hotelzimmer, wie viele andere. Abgewetzter Teppich auf dem Boden, eine grünliche
Tapete an den Wänden, verblichen bis auf ein Rechteck, wo sicher einmal ein
Kaiserbild gehangen hatte. Das Fenster ging auf einen Lichthof, es war ein trübes
Licht im Raum, es regnete draußen, und dann wollte es bald Abend werden.
Der Doktor verabschiedete sich, der Kommissar Kreibig studierte lange die angefangene
Partie, schüttelte manchmal den Kopf, der Polizist in Zivil Hochroitzpointer
verhielt sich still, endlich flüsterte er:
"Soll ich den Kellner rufen?"
Kreibig nickte. Er starrte auf den Toten. Unsympathisch, durchaus, sah dieser
aus. Ein dreifaches Kinn, eine käsige Haut, die Stirn niedrig und Wulstlippen.
Von jener berühmten "Majestät des Todes" war keine Spur vorhanden. Kreibig wandte
sich von dem Toten ab und trat an den zweiten Tisch des Zimmers, der viereckig
war und neben dem Fenster stand. Papiere lagen dort, Rechnungen, Frachtbriefe,
Geschäftsbriefe: 'Gemäß Ihrer w. Bestellung vom 15. ct. beehren wir uns, Ihnen
zu offerieren ...' Eine Brieftasche, abgegriffen, zum Platzen gefüllt. Kreibig
öffnete sie: Türkische Pfunde, Schweizer Franken, Dollars, englische Pfunde,
zwei Checks. Kreibig zählte mechanisch das Geld, seufzte, weil er an sein Salär
dachte, das er in Inflationsgeld bekam, versorgte die Banknoten sorgfältig wieder,
als er ganz hinten in einer Tasche, verrunzelt, ein Stück Papier bemerkte. Er
zog es ans Licht. Hinter ihm schlich der Polizist Hochroitzpointer auf leisen
Gummisohlen durchs Zimmer.
Das Stück Papier war ein Ausschnitt aus einer französischen Zeitung: auf der
einen Seite die Ankündigung eines Astrologen, aber die Annonce war nicht vollständig,
der zweite Teil fehlte. Auf der anderen Seite ein mit Rotstift angezeichneter
Artikel:
"Le traitement rationel du diabète par le professeur Durand."
Offenbar die Ankündigung eines Buches über die Behandlung der Zuckerkrankheit.
Kreibigs Augen wanderten vom Zeitungsausschnitt zum Tisch. Zuckerkrankheit?
... Zucker? ... Zwei hatten am Tisch Schach gespielt und dazu
Kaffee
getrunken, aber beide hatten sie den Kaffee nicht gesüßt ... Der eine, wohl
der Mörder, hatte sein Päckchen auf der kleinen Silberplatte liegen lassen,
der Kußmaul aber hatte das Päckchen, bevor er vom Stuhl gefallen war, noch rasch
mit der linken Hand gepackt, während die Rechte ... aber das kam später. Die
Linke hatte also den Zucker gepackt, der Mörder war aufgestanden, hatte sich
ruhig durch die Tür entfernt, dann war der Kußmaul auf den Boden gefallen, war
gestorben und in einer immerhin merkwürdigen Stellung erstarrt. Denn die beiden
Unterarme, vom Ellbogen an, standen senkrecht in der Luft. Die linke Hand hielt
ein Päckchen Zucker, die rechte einen schwarzen Schachkönig ...
Der Etagenkellner Pospischil Ottokar, verheiratet, wohnhaft Mariahilferstraße
45, schien für den ermordeten Kußmaul keine übertriebene Hochschätzung aufbringen
zu können. Er habe gesoffen, deponierte er, ganze Nächte durch, gespielt habe
er auch, mit "Freunderln" ... und Weiber ... aber davon wollte er, Pospischil,
gar nicht reden. Dabei sei der Kußmaul krank gewesen, zuckerkrank, habe keine
Mehlspeisen essen dürfen, er habe auch einen Spezialisten konsultiert, der habe
ihn einmal besucht, ein nobler Herr, Zylinder und weiße Gamaschen und einen
schönen weißen Bart, aber in den Namen könne er sich nicht erinnern.
"Ja, Herr Hofrat", sagte der Kellner Pospischil, der arg verhungert aussah,
"da lassen's am besten die Finger davon, denn der Mann da, der hat Konnexionen
g'habt, ich sag' Ihnen, ein Oberst von der amerikanischen Delegation ist ihn
besuchen kommen, und sie haben zusammen englisch g'redt, und überhaupt, Besuche
hat er den ganzen Tag gehabt, Türken und Russen und argentinische - und auch
G'sindel -, wenn Sie meine Meinung wissen wollen, Herr Hofrat, der Mann war
eine düstere Existenz."
"Ja", sagte der Kommissar Kreibig und strich über sein weißes Haar, das seidig
schimmerte, "ja, mein lieber Pospischil, das hab' ich mir schon gedacht, ich
hab's von Anfang an g'sagt, die trostlose Affäre par excellence, hab' ich's
nicht g'sagt?"
Und Hochroitzpointner nickte schweigend.
"Sie können gehen, Pospischil ... oder nein, warten Sie noch. Der Zucker, Hochroitzpointner,
wäre ja erklärt, sehen Sie hier den Zeitungsausschnitt, nicht wahr, 'die Behandlung
der Zuckerkrankheit' von einem französischen Professor namens Durand. Nun weiß
man ja, daß Zuckerkranke, gerade weil ihnen der Zucker verboten ist, immer Hunger
nach Zucker haben, und da hat halt der Kußmaul, wie er gesehen hat, daß er sterben
wird, noch schnell das Packerl Zucker in die Hand genommen - gewissermaßen um
seinen letzten Wunsch zu befriedigen. Nicht wahr? Was meinen Sie, Hochroitzpointner?"
Hochroitzpointner antwortete nichts, er hielt die Hände hängend in Schulterhöhe,
was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem bettelnden Hunde verlieh. Kommissar
Kreibig haßte diese Allüren.
"Antworten Sie doch, wenn man Sie fragt!" schnauzte er. - Der Geheimpolizist
Hochroitzpointner antwortete nicht, er fragte, und zwar fragte er den Kellner
Pospischil:
"Mit wem hat der Herr immer Schach gespielt?"
"Am liebsten mit dem Swift, einem Engländer. Der Herr ... eh ... der Tote hat
gesagt, der Swift ist der einzige, der gut spielt! Die andern sind nur Rotzbuben
..."
"Und der Herr Swift war heute nachmittag auch da?" "Ja, er ist um halb vier
gekommen. Dann hat der Kußmaul ... eh ... der Verstorbene geläutet und hat zwei
Schalen Braun bestellt ..."
"Zwei Schalen Braun? Aber wo ist die Milch?"
"Die ist uns ausgegangen, da hab' ich zwei kleine Schwarze gebracht ... Und
da hat der Herr Kußmaul mich ang'schrien, warum ich hab' Zucker gebracht, ich
weiß doch, daß er keinen Zucker nehmen soll, und der andere Herr, der Herr Swift,
der darf auch keinen Zucker nehmen, von wegen - der ist auch zuckerkrank ..."
"So, so ..." sagte der Geheimpolizist Hochroitzpointner nur und verschwand.
"Sie können gehen, Pospischil", meinte der Kommissar, "Oder warten Sie noch,
haben Sie den Swift fortgehen sehen?"
"Ja. Herr Hofrat, um dreiviertel vier hab' ich ihn geholt, von wegen es hat
jemand am Telephon nach ihm gefragt."
"Und da hat der Kußmaul noch gelebt?"
"Das weiß ich nicht, halten zu Gnaden, Herr Hofrat, das weiß ich also wirklich
nicht. Ich hab' geklopft und hab' gesagt: 'Telephon für den Herrn Swift.' Da
hat eine Stimme gesagt: 'Yes', die Tür ist aufgerissen worden, und ich bin zurückgefahren,
weil, wissen'S, Herr Hofrat, der Kußmaul, der hat es nicht ganz gerne gehabt,
wenn ich ins Zimmer gekommen bin, und einmal, da hat er mir ..."
"Das interessiert mich nicht, Pospischil."
"Da hat er mir eine leere
Flasche
an den Kopf geworfen ... Ja, also, der Herr Swift, der ist mit mir zum Telephon
gegangen, und dann hat er g'redt, englisch, ich hab' nix verstanden, und dann
ist er fortgegangen. Hat mir gesagt, ich soll dem Kußmaul sagen, er kann die
Partie nicht fertig spielen ... Aber ich hab' mich verspätet, hab' zu tun gehabt,
andere Gäste haben geläutet, ah, mein! Der Hofrat wissen gar nicht, wie schwer
es unsereiner hat, den ganzen Tag laufen, und das kleine Trinkgeld, geizig sind
die Schreiber ..."
"Schon gut, Pospischil, und wann sind Sie dann ins Zimmer gekommen?"
"So um halb fünf, Herr Hofrat, und ist der Kußmaul ... eh, der Ermordete - es
weiß ja keiner, ob er wirklich Kußmaul heißt, einmal hat ihn einer ganz anders
genannt - " da ist er am Boden gelegen, und ich hab' der Polizei telephoniert
..."
"Und Sie heißen Ottokar mit dem Vornamen, Pospischil?"
"Zu Befehl, Herr Hofrat, Ottokar, ja, wie mein Großvater."
"König Ottokar's Glück und Ende" murmelte Kommissar Kreibig.
"Wie belieben, Herr Hofrat?"
"Nichts, Pospischil, so heißt ein Stück von
dem Wiener Grillparzer, aber den kennen Sie nicht ..."
"Nein, Herr Hofrat, einen Gast dieses Namens haben wir nie gehabt in unserem
Haus."
"Und Sie haben ein Messer, Pospischil?"
... Der schwarze König ... König Ottokar ... aber dann paßte der Zucker wieder
nicht ... aber der Swift war zuckerkrank, der Hochroitzpointner hatte vielleicht
doch recht, aber Swift,
Swift
... der hatte doch keine Königsdramen geschrieben, nur diese Geschichten über
die Reisen ... Gulliver? Ja. Gulliver ... Es ging ein wenig kreuz und quer zu
in Kreibigs Kopf.
"Sie haben ein Messer, Pospischil?" fragte er noch einmal, weil der Kellner
schwieg.
"Oh, nur ein Federmesserl, Herr Hofrat", und Pospischil zeigte in einem rührend
verlegenen Lächeln seine schadhaften Zähne.
"Zeigen!"
"Bitte schön, bitte gleich ..."
Aus der glänzend schwarzen Hose zog Pospischil ein Messer heraus, kurz wie der
kleine Finger. Kreibig sah es an, klappte es auf: schartig, verrostet; er zuckte
mit den Achseln.
"Sie können gehen, Pospischil."
"Gehorsamster Diener, Herr Hofrat." Und Pospischil verschwand ebenso lautlos
wie vorher der Geheimpolizist Hochroitzpointner.
Kreibig nahm einen Stuhl, stellte
ihn neben das runde Tischchen, auf dem die begonnene Schachpartie stand, stützte
das Kinn in die Hände und prüfte die Stellung der Figuren.
Herr Swift hatte also Weiß. Er schien ein Liebhaber alter, erprobter Spielweise
zu sein. Kreibig war ein guter Schachtheoretiker. Weiß hatte Königsgambit gespielt,
Schwarz hatte es angenommen, wieviel Züge hatten die beiden gemacht? Höchstens
zehn. Weiß hatte einen Springer geopfert, hatte also probiert, das uralte Kieseritzkygambit
zu spielen, aber Schwarz kannte die Erwiderung - scheinbar. - Wer hatte nur
die Widerlegung erfunden, die Widerlegung dieses Angriffes, der einmal als gut
galt? Es war ein Kerl, wie hieß er nur? Süßkind? Nein. Schokoladentorte? Dummes
Zeug! Ein bekannter Meister, ein Schachmeister aus dem vorigen Jahrhundert.
Wen gab es da? Anderssen? Nein. Morphy? Nein. Pilger? Das war ein Theoretiker
...
Kreibig gab es auf ... Er starrte auf den Toten. In der einen Hand der schwarze
König, in der anderen drei Stück Würfelzucker ... War der Zucker das Wichtige
oder der König? War der Hochroitzpointner im Recht, der jetzt hingegangen war,
den Engländer Swift zu suchen, um ihn zu arretieren? Den Swift, der ebenfalls
ein Diabetiker war? "Kußmaul", dachte der Kommissar Kreibig, der es unter der
Monarchie sicher zum Hofrat gebracht hätte und der auch aussah wie ein solcher,
kein Wunder, daß ihn alle Leute so titulieren - mein Gott, ja, sogar unter der
Republik - "Kußmaul", dachte Kreibig, "dein Tod ist zwar die trostloseste, undankbarste
Affäre par excellence, aber du scheinst doch das Bedürfnis gefühlt zu haben,
uns ein kleines Bilderrätsel aufzugeben. Dafür sollte man dir dankbar sein.
Mein Gott, das Leben ist langweilig genug. Was hat es für einen Wert, deinen
Mörder zu suchen. Kußmaul, es wird dich niemand vermissen, nicht einmal deine
Freunderln, wie der Pospischil so schön sagt. Du hast nicht viel Gutes getan
in deinem Leben, das sieht man deiner Visage an, Leute betrogen, Frauen verführt,
ich will Gift drauf nehmen, daß du ein Erpresser bist, du bist ein Aasgeier,
Kußmaul, und doch muß ich deinen Mörder suchen. Was willst du, Pflicht ist Pflicht,
und wir sind's halt so gewöhnt. Und dann, wenn ich dein kleines Rätsel mit dem
'König Zucker' nicht löse, lachst du mich vielleicht noch aus, drüben, wo du
jetzt weiter herumvagierst, wie hier auf dieser Welt ...
Die Dämmerung war dicht geworden. Kreibig sprang auf, drehte das Licht an. Der
Tote streckte noch immer seine halb geschlossenen Fäuste gegen die Zimmerdecke
...
... Wer hatte nur eine Widerlegung des Kieseritzkygambits gefunden? ...
Kreibig beugte sich noch einmal über den Toten, öffnete das Hemd, das der Gerichtsarzt
geschlossen hatte. Die Wunde war klein, sauber, mit ganz scharfen Rändern, nicht
zerfranst ...
... Wie von einer Lancette, dachte Kreibig, ging zur Tür, schloß sie von außen
ab und ging die Treppen hinunter.
"Wie sieht eigentlich der Herr Swift aus?" fragte er den Portier.
"Der Herr Swift? Der ist klein, alt und zittert sehr viel in den Knien und mit
die Händ."
"So, so", sagte Kreibig nur, zog seine Glacéhandschuhe an, die ziemlich abgeschabt
waren.
Im Büro ließ er sich ein Verzeichnis der Spezialärzte Wiens kommen. Er ging
die Namen durch. Plötzlich, fast am Ende der Liste, sprang er auf und begann
mit der Handfläche der rechten Hand eifrig auf seine Stirn zu schlagen. "Natürlich",
sagte er dazu, "selbstverständlich! Das königliche Spiel! Der König des Spiels!
Der Meister! Der Schachmeister! Der Zuckermeister!" Und klatschte weiter gegen
seine Stirn. Bis schließlich Hochroitzpointner sachte die Tür öffnete, erschrocken
ins Zimmer äugte und leise bemerkte:
"Ich hab' geglaubt, der Hofrat hat seinen Buben bei sich und haut ihm Watschen
herunter." Wozu zu bemerken ist, daß Watschen der Wiener Ausdruck für Ohrfeigen
ist.
"Und Swift ist so eine Art Kurier bei der englischen Gesandtschaft. Der ist
fort. Im Auto. Ich hab' fragen wollen, ob man die Grenzposten alarmieren soll
..."
"Nicht nötig, nicht nötig, aber nehmen'S eine Zigarette, lieber Hochroitzpointner
..." Das war nobel, denn eine simple 'Drama' kostete damals ...
"Ist der Herr Professor zu sprechen?" fragte Kreibig. "Ich glaube ..." antwortete
der Diener.
"Es ist eine wichtige Sache, Kommissar Kreibig, melden Sie mich nur."
Der Herr Professor trug einen schwarzen Gehrock, eine weiße Weste, aber sein
langer Bart war eigentlich viel weißer als die Weste. Der Herr Professor war
nervös. Er sagte, was man in einer solchen Situation scheinbar immer sagt:
"Und was verschafft mir das Vergnügen?"
"Herr Professor", sagte Kommissar Kreibig, "warum haben Sie den Falotten erstochen?"
(Falott ist ein plastischeres Wort für Lump.)
"Falott? Erstochen?" fragte der Professor.
"Haben'S keine Angst, Herr Professor", sagte Kreibig gemütlich. "Es g'schieht
Ihnen nichts. Es sind noch andere Leute da, die froh sind, daß der Kußmaul hin
ist. Es ist also mehr ein Privattriumph von mir; denn der Tote hat mir ein Rätsel
aufgegeben, und ich hab's gelöst. Er hat nämlich ganz deutlich den Namen seines
Mörders verraten."
"So? Wie denn?"
"Würfelzucker in der einen Hand, den Schachkönig in der andern."
"Und?"
"Und Schwarz hat die Erwiderung zum Kieseritzkygambit gespielt."
"Verzeihen'S schon, Herr Kommissar, aber ich hab' wirklich keine Zeit ..."
"Sie sind doch der Herr Professor Zuckertort. Spezialarzt für Diabetiker?"
"Ja, und ..."
"Sie haben im vorigen Jahrhundert einen Namensvetter gehabt, der war ein berühmter
Schachspieler, der hat auch Zuckertort geheißen. Und Sie werden zugeben, daß
der selige Kußmaul (fragt sich zwar noch, ob er selig ist) den Namen nicht besser
hätte andeuten können. Der König, der Meister, dessen Name mit Zucker anfängt
... Und jetzt sagen Sie mir, warum Sie ihn umgebracht haben. Ich hab' keinen
Verhaftbefehl, ich bin sicher, Sie sind im Recht gewesen, die Sache wird niedergeschlagen.
Aber gönnen Sie mir den Privattriumph!"
"Warum ich das Schwein abgestochen hab'? Warum?" Das Gesicht über dem weißen
Bart wurde feuerrot. "Weil mir der Falott statt Insulin Brunnenwasser geliefert
hat und weil mir zwei schwere Fälle fast an Sepsis zugrunde gegangen wären."
"Ja so", sagte der Kommissar Kreibig, "Brunnenwasser statt Insulin ..." und
er empfahl sich.
Denn Insulin ist ja das einzige, halbwegs sicher wirkende Mittel bei schweren
Fällen von Zuckerkrankheit.
Vor dem Schild des Arztes
blieb Kreibig noch einen Augenblick stehen, las murmelnd für sich. Es stand
da:
"Prof. Dr. Regis Zuckertort,
Spezialist für Stoffwechselkrankheiten."
"Auch noch 'Regis', Genitiv von Rex, und im Gymnasium hab' ich gelernt, daß
Rex König heißt. Wirklich des guten zuviel."
Kommissar Kreibig zog kopfschüttelnd seine schadhaften Glacéhandschuhe an, trat
auf die Straße und spannte seinen Regenschirm auf, weil es ganz sanft regnete.
Er verschwand im Straßengetümmel, während ihm aus einem Fenster im ersten Stock
ein weißbärtiger Herr nachsah, der vielleicht zum erstenmal in seiner langen
medizinischen Laufbahn es für nötig fand, über ein psychologisches Problem nachzugrübeln.
(von Friedrich Glauser)