E.W. Heine: "Papavera"

Der Ring des Kreuzritters


Veras Papa

Papavero war der früh verwaiste Sohn des grausamen Burgherren Ritter Randolph von Falkenstein. Seinen Spitznamen, "Der Ohrenabschneider", hatte er, weil er "allen Räubern, die sich auf sein Gebiet wagten, und allen Händlern, die den geforderten Wegzoll nicht zahlen wollten", die Ohren abschneiden ließ. Vielleicht jedoch rührte seine Vorliebe gerade für diese Strafe daher, dass ihm selber im Krieg mit den Mamelucken ein Ohr abgetrennt worden war.

Randolph und seine Frau Isabelle kamen bei einem Brand des Schlosses ums Leben, und nur Papavero wurde gerettet, weil ihn seine Amme in einen Kupferkessel setzte und aus dem Fenster warf. Obwohl die Vorzeichen nicht gut standen, wuchs und gedieh der Junge zu einem gerechten Herrscher heran, baute die Burg wieder auf, heiratete und wurde Vater der kleinen Vera. Da auf Burg Falkenstein alle einen Spitznamen hatten, erhielt Vera "Papavera" als den ihren, da sie die roten Haare ihres Vaters besaß und zwischen den beiden ein besonders inniges Verhältnis herrschte.

Als Papavera 15 Jahre alt ist, befindet sich ihr Vater bereits drei Jahre auf dem Kreuzzug ins Heilige Land gemeinsam mit dem Kaiser und vielen weiteren Edelleuten. Obwohl er versprochen hatte, spätestens nach einem Jahr zurückzukehren, fehlt immer noch jede Nachricht von ihm. Papaveras Mutter verstarb vor kurzem an Fleckfieber. Doch Papavera war davon überzeugt, dass sie an gebrochenem Herzen starb.

Grausames Mittelalter

Der Roman spielt ca. 200 Jahre nach Beginn der ersten Kreuzzüge, also ungefähr im 14. Jahrhundert. Zu dieser Zeit hatten Frauen keinerlei Rechte. Ganz im Gegenteil; es gab Vorschriften darüber, wie sie sich zu kleiden und zu frisieren hatten. Eine eigene Meinung wurde allenfalls geduldet, und eine Schulbildung hielt man nicht für nötig. Unsere Heldin Papavera ist ledig, vermutlich Vollwaise und Burgherrin und denkt gar nicht daran, zu heiraten. Dass sie auch noch in diplomatischen Dingen Geschick beweist, bringt ihr überwiegend keine Hochachtung, sondern Neid ein. Als der böse Gaugraf Rudolf von Randersacker sie zur Frau begehrt, lehnt sie ab. Der beleidigte Gaugraf schwört Rache und lässt überall verbreiten, dass Papavera eine Hexe ist. Sie flieht, um ihren Vater zu suchen. Doch ihre Feinde bleiben ihr dicht auf den Fersen.
Bei der Beschreibung der mittelalterlichen Welt in "Papavera - Der Ring des Kreuzritters" von E. W. Heine geht der Autor nicht gerade zimperlich zur Sache. Bekanntermaßen war das Leben im Mittelalter kein Zuckerschlecken, doch stellt sich die Frage, ob man in einem Kinderbuch derart dezidiert auch die Schattenseiten darstellen muss oder ob nicht eine sublimere Sprache für das Genre angebracht gewesen wäre. Von diesem Lapsus abgesehen liest sich der Roman flüssig. Allerdings darf man keinen poetischen Minnegesang oder lyrische Landschaftsbeschreibungen erwarten. Der Autor bleibt in seiner Sprachwahl eher schroff und karg und überträgt damit die damaligen Lebensverhältnisse in ein literarisches Stilmittel. Gut gefällt, dass Heine in den Text historische Fakten einfließen lässt, was erheblich zur Verständlichkeit so manchen Sachverhaltes beiträgt.

Fazit: Obwohl ein Mädchen die Protagonistin ist, handelt es nicht um ein weichgespültes Szenario. Tendenziell erinnert "Papavera" eher an den Stil früherer Ritterromane als an heutige Standards á la "Tintenblut", "Stravaganza", "Ich, Coriander" oder "Magyk". Liebhaber eines dieser Bücher werden sich vermutlich mit "Papavera" schwer tun.

(Wolfgang Haan; 02/2006)


E.W. Heine: "Papavera"
cbj Verlag, 2006. 384 Seiten. (Ab 12 J.)
ISBN 3-570-12912-8.
Buch bei amazon.de bestellen
Gekürzte Lesung. Sprecherin: Rosemarie Fendel.
Random House Audio, 2006. 3 CDs, Spieldauer ca. 210 Minuten.
ISBN 3-86604-108-X.
Hörbuch bei amazon.de bestellen

E.W. Heine, in Berlin geboren, arbeitete über ein Jahrzehnt als Architekt in Südafrika und mehrere Jahre in arabischen Ländern. Er ist ein Meister der kleinen Form satirisch-makaberer Miniaturen wie der großen Form des opulenten historischen Romans. Seine Mittelalter-Romane (u.a. "Das Halsband der Taube") machten ihn zu einem der erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwart. "Papavera - Der Ring des Kreuzritters" ist sein erster Jugendroman.

Leseprobe:

Der Knabe im Kupferkessel

Wenn die Kaufleute mit ihren schwer beladenen Planwagen, von Italien herkommend, durch das Altmühltal gen Norden zogen, so bekreuzigten sie sich beim Anblick der Burg Falkenstein und sprachen: "Gib Gott, dass sich der Ohrenabschneider auf Reisen befindet oder dass ihn wenigstens das Gliederreißen wieder so plagt, dass er vor Reißen nicht auf sein Ross kommt."
Ritter Randolph von Falkenstein, den alle Welt nur unter dem Spottnamen "Der Ohrenabschneider" kannte, hatte die üble Angewohnheit, allen Räubern, die sich auf sein Gebiet wagten, und allen Händlern, die den geforderten Wegzoll nicht zahlen wollten, die Ohren abzuschneiden. Ihm selber fehlte das linke Ohr. Das hatten ihm die Mamelucken abgehackt.
Wenn aus dem Schornstein der Burg Rauch quoll - ein untrüglicher Beweis dafür, dass der Hausherr daheim war -, so beteten die, die seine Bekanntschaft schon einmal gemacht hatten: "Heiliger Sankt Engelmar, beschütze uns vor der Willkür dieses einohrigen Teufels."
Dass sie den Alten einen Teufel nannten, war nicht recht, denn bei aller Strenge seiner Herrschaft entzündete er dennoch nach jeder Bestrafung eine Kerze auf dem Altar seiner Burgkapelle, die dem heiligen Petrus geweiht war - wahrscheinlich, so meinten die Bauern im Tal, weil auch der einem römischen Kriegsknecht ein Ohr abgehackt hatte.
Beim Laufen stützte sich der Ohrenabschneider auf seinen Säbel, denn er hatte auch nur ein Bein. Das andere war während einer Floßfahrt auf der Donau vom Blitz getroffen worden. Dennoch ritt er wie ein Hunne, und so soff er auch, mit Vorliebe Bockbier. Mehr noch liebte er gutes Essen. Salat und Gemüse stimmten ihn traurig. Nach Knödeln und Kuchen musste er sich kratzen. Deshalb aß er nur Fleisch.
"Karnickel und Esel fressen Grünzeug", pflegte er zu sagen. "Raubtiere brauchen bessere Kost."
Er hatte mehr Feinde als Freunde. Aber er hatte ein Weib mit dem schönen Namen Isabella. Trotz des wohl klingenden Namens war sie weiß Gott keine Schönheit. Isabella von Falkenstein hatte mit den Falken nur die ausdrucksstarke Nase gemein. Mit kurzsichtigen Augen blinzelte sie in die düstere Welt der fast fensterlosen Festung. Da nur selten ein Sonnenstrahl in die dickwandige Burg fiel, war ihre Haut weiß wie Fischbauch, und so roch sie auch. Ihre Zähne, sofern noch vorhanden, waren schartig oder schwarz, ihre Sommersprossen und Leberflecken so zahlreich wie die Sterne über dem Altmühltal zur Johannisnacht. Aber sie war fleischig prall an den richtigen Stellen ihres Leibes und in Liebesdingen talentierter als alle anderen Weiber, die der Ohrenabschneider je im Bett gehabt hatte. Und das waren nicht wenige.
Isabella Maultasch, wie sie mit Mädchennamen hieß, war seine dritte Ehefrau. Die beiden anderen lagen in der Gruft unter der Burgkapelle, gemeinsam mit ihren Neugeborenen. Der Tod hatte sie im Kindbett dahingerafft.
"Einer wie ich zeugt nur Söhne", pflegte der Ohrenabschneider zu sagen, womit er wohl Recht hatte, denn auch das Kind, das ihm Isabella geboren hatte, war ein Junge, ein prächtiger Säugling im wahrsten Sinne des Wortes.
"Der trinkt für zwei", sagte Isabella. "Ein Glück, dass unsere Amme Milch für drei in ihren Brüsten hat."
"Prächtige Brüste", fand der Ohrenabschneider, wenn er beim Stillen seines Sohnes zuschaute.
"Der wird einmal ein richtiger Schnapphahn. Schon bei seiner Geburt war er so schwer wie ein Zwölfpfünder-Dinkelbrot."
Die Amme nickte mit dem Kopf, obwohl sie nicht begriff, wovon die Rede war. Als Araberin aus dem Land der Mamelucken verstand sie nicht die Sprache ihres Herrn, an den sie von einem maltesischen Sklavenhändler verkauft worden war. "Betrachtet ihr edles Profil", hatte der sie angepriesen. "Sie ist von urphönizischem Adel. Obwohl sie keine Christin ist, ist sie ganz gewiss eine gute Amme."
"Recht habt Ihr", hatte der Ohrenabschneider erwidert. "Auch ungetaufte Kühe geben fette Milch. Was schert mich ihr Glaube." Und zu seinem Weib, das bei jeder Gelegenheit den Herrn Jesus und alle Heiligen anrief, sagte er: "Ich bin ja Gott so dankbar, dass er mir die Gabe verliehen hat, nicht allzu sehr an ihn zu glauben."
"Versündige dich nicht", sagte sie dann, "sonst holt dich der Teufel." Und er erwiderte lachend: "Einer wie ich endet nicht im Feuer."
In diesem Punkt jedoch irrte der Alte. Und das kam so:
Der August ist im Altmühltal nicht nur der Monat mit den meisten Mücken und den mildesten Mondnächten, er ist auch der Monat mit den wildesten Gewittern. Während solch eines Unwetters fuhr der Blitz in den Festungsturm der Burg Falkenstein, sodass die Dachschindeln hundert Fuß hoch in den Himmel geschleudert wurden. Das Getöse war so groß, dass die Eulen und Uhus, die im Gebälk Zuflucht gesucht hatten, mit versengtem Gefieder davonstoben, als sei der Teufel hinter ihnen her.
Auch der Ohrenabschneider fuhr verschreckt aus dem Schlaf, und da er ja bereits sein rechtes Bein durch einen Blitzschlag verloren hatte, tastete er sogleich nach seinem linken. Als er feststellte, dass es noch da war, schickte er erst ein Dankgebet und dann einen schaurigen Fluch zum Himmel. Er schlug ein Kreuz und schrie: "Oh heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andere an!"
Doch dazu war es bereits zu spät.
Er fasste sein schlafendes Weib bei den Schultern, schüttelte es und schrie: "Feuer, Feuer! Wach auf, wenn dir dein Leben lieb ist!" Doch die drehte sich auf die andere Seite.
Und als er sie weiter wachrütteln wollte, rief sie schlaftrunken: "Scher dich zur Hölle!"
"Weib, wir sind schon mittendrin!"
Da sprang sie aus dem Bett, roch den Rauch, stürzte zur Tür, wollte hinaus zur Treppe, aber da war keine Treppe mehr. Das ganze Stiegenhaus stand in Flammen. Die hölzernen Stufen brannten wie Kaminholz. Die Turmfenster aber waren mit daumendicken Eisenstangen fest vergittert.
"Herr, hilf!"
Aber er half nicht.
Die Amme, die eine Etage darüber schlief, erwachte von dem beißenden Rauch, der die Kammer durchwölkte wie Nebel. Sie hob den schlafenden Knaben aus dem Korb, presste ihn an ihre Brust: fort, nur fort! Der Rauch nahm ihr Atem und Sicht. Wo war die Tür? Als sie sie aufstieß, schlugen ihr die Flammen entgegen. Sie taumelte zum Fenster, das Gott sei Dank nicht vergittert war, aber viel zu hoch, um den Ausstieg zu wagen. Wer von hier oben herabsprang, war auf der Stelle tot. 80 Ellen hoch war der Turm. Und unten an seinem Fuß fiel der Abhang mit steilem Gefälle immer weiter talabwärts.
Schon begannen die Deckenbalken zu brennen. Ihr blieb keine Zeit zum Überlegen. Sie ergriff einen großen Kupferkessel, schüttete das Badewasser aus, das darin aufbewahrt wurde, und stopfte stattdessen den Knaben mit allem Bettzeug, das sie greifen konnte, hinein. Eingewickelt in weiches Lammfell und Leinentuch steckte er in dem großen Kessel wie ein Küken in seinem Ei. Hustend und keuchend riss sie die Laken in Streifen, knotete sie aneinander und befestigte den Henkel des Kessels daran.
Als sie ihn aus dem Fenster hob, brannten bereits die Dielen, auf denen sie stand. Die Flammen umzüngelten ihre Füße, versengten den Saum ihres Rockes. Obwohl sie sich weit aus dem Fenster lehnte, war der Strick aus Leinentuch nicht lang genug. Es fehlten noch gut zehn Ellen bis zum Boden. Das Feuer erfasste ihr Haar. Da ließ sie los. Laut scheppernd polterte der kupferne Kessel zu Tal. Es war das Letzte, was sie vernahm, bevor die Höllenglut sie verschlang.
Der Säugling wurde noch in derselben Nacht gefunden. Die herbeigeeilten Bauern befreiten das Kind aus seiner Verpackung und stellten mit Erstaunen fest, dass es völlig unversehrt war. Mein Gott, was für einen Schutzengel musste dieser Knabe gehabt haben! Der einzige Überlebende von Falkenstein wurde zur nahe gelegenen Burg Prunn gebracht, wo ihn die Freifrau von der Recke, die zu Eusebius ihren eigenen Säugling verloren hatte, an Kindes statt aufnahm, was ihrem Gatten gar nicht recht war, denn - so argumentierte er -: "Wer ist so dumm und holt sich Ungeziefer ins Haus? Aus der Brut dieses verdammten Ohrenabschneiders wird niemals ein rechter Christenmensch werden, geschweige denn ein Rittersmann. Er wird uns nur Kummer bereiten. Weib, lass die Finger von diesem Findling." Doch sie ließ sich das Kind nicht ausreden. Und er sollte nicht Recht behalten. Der Säugling wuchs zu einem prächtigen Knaben heran, der seine gleichaltrigen Spielgefährten an Haupteslänge überragte. Schon im Alter von elf Jahren war er ein treffsicherer Bogenschütze. Er ritt wie der Teufel und warf den Jagdspeer 200 Fuß weit. Mithilfe seines Beichtvaters hatte er das Lesen erlernt, eine Kunst, die nicht einmal der Freiherr von der Recke beherrschte.
Eine Aura scheuer Bewunderung umgab den Knaben.
Papavero - so nannten ihn alle, die ihn kannten. Den wohl klingenden Namen hatte ihm die Freifrau gegeben. Sie stammte aus der Toskana und dort heißt Papavero roter Mohn. Denn sein Haar war so rot wie der Klatschmohn, oder richtiger wie der Kupferkessel, der ihn vor dem Feuer bewahrt hatte.
Papavero heißt aber auch "wahrer Papa" oder "richtiger Vater". Das sollte er schon bald werden. Und damit beginnt unsere eigentliche Geschichte. (...)

zurück nach oben