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Der Reiher
Eilig
kam der Reiher angestelzt und begann sogleich über sich selbst zu sprechen:
"Ich habe meine schöne Behausung in der Nähe des Meeres inmitten
der Lagunen, wo niemand mein Lied hört. Ich bin so harmlos, daß keiner
sich über mich beschwert. Traurig und nachdenklich stehe ich am Ufer des
salzigen Meeres, und mein Herz ist von Sehnsucht nach dem Wasser erfüllt,
denn was würde aus mir werden, wenn es keines gäbe! Aber da ich nicht
zu den Geschöpfen gehöre, die im Meere leben dürfen, werde ich
wahrscheinlich mit ausgedorrten Lippen an der Küste verschmachten. Obwohl
das Wasser schäumt und die Wellen sich zu meinen Füßen brechen,
kann ich keinen einzigen Tropfen zu mir nehmen; doch wenn der Ozean auch nur einen
Tropfen von seinem Wasser verlöre, würde mein Herz von Kummer brennen.
Einem Geschöpf wie mir genügt die leidenschaftliche Liebe
zum Meer.
Ich habe nicht die Kraft, mich auf die Suche nach dem Simurgh zu begeben, also
bitte ich euch, mich zu entschuldigen. Wie könnte ein Wesen wie ich, das
sich nur nach einem Tropfen Wasser sehnt, Vereinigung mit dem Simurgh erlangen?"
Da sagte der Wiedehopf: "Oh, Unwissender des Meeres, weißt du nicht,
daß es voller
Krokodile
und anderer gefährlicher Tiere ist? Manchmal ist sein Wasser bitter, manchmal
salzig; manchmal ist es ruhig, manchmal aufgewühlt; immer veränderlich,
niemals beständig; manchmall
schwillt
es an, dann wieder weicht es zurück. Viele große Menschen
hat sein Abgrund schon verschlungen. Wer in seine Tiefen hinabtaucht, der hält
den Atem an, um nicht wie ein Strohhalm wieder emporgeschleudert zu werden.
Das Meer ist ein Element, das keine Treue kennt. Vertraue ihm nicht, sonst wird
es dich letzten Endes überschwemmen. Die Liebe zu einem Freunde macht es
ruhelos. Manchmal wälzt es sich in großen Wogen dahin, manchmal brüllt
und tost es. Wenn das Meer nicht findet, was es begehrt, wie willst du dann
einen Ort finden, an dem dein Herz zur Ruhe kommen kann! Der Ozean ist ein Rinnsal,
das den Weg entlangfließt, der zu seinem
Freunde führt; warum solltest
du dann zufrieden hier bleiben und nicht danach streben, das Angesicht des Simurgh
zu erblicken?"
Der Weise und der Ozean
Ein Weiser, der es
gewohnt war, über den Sinn der Dinge nachzudenken, ging zum Ozean und fragte
ihn, warum er ein blaues Gewand trage, denn das sei doch die Farbe der Trauer,
und warum er koche und schäume, obwohl gar kein Feuer da sei?
Da antwortete der Ozean dem Mann der Versenkung: "Ich bin bekümmert
über die Trennung von meinem Freund. Ich bin unzulänglich und seiner
nicht wert, deshalb trage ich ein blaues Gewand als Zeichen meiner Zerknirschung.
Mein Kummer läßt die Sträne meiner Lippen austrocknen, und das
Feuer meiner Liebe bringt mich in Aufruhr. Wenn ich nur einen einzigen Tropfen
des himmlischen Wassers von Kausar finden könnte, besäße ich
das Tor zum ewigen Leben. Doch da mir dieser Tropfen versagt bleibt, werde ich
mit den tausend anderen, die auf dem Wege umkommen, vor Sehnsucht sterben."
(aus
"Vogelgespräche" von Farid
ud-din Attar;
Ansata Verlag)