Hannu Raittila: "Sintflut"
Hannu
Raittila, ein 1956 geborener finnischer Schriftsteller, ist in seinem
Heimatland bekannt als Verfasser von Kolumnen, Hörspielen und
Drehbüchern sowie als Autor mehrerer
Erzählungsbände und Romane. Von der finnischen Kritik
wird er als einer der besten finnischen Schriftsteller annonciert; und
tatsächlich ist sein Roman "Sintflut" ein Erlebnis ganz
eigener Art.
In einer wunderbaren, von Stefan Moster hervorragend ins Deutsche
übertragenen poetischen Sprache erzählt Raittila von
Menschen verschiedener Generationen, die trotz unterschiedlichen
Alters, Glaubens und unterschiedlicher Interessen eine für den
Autor offensichtlich wesentliche Eigenschaft verbindet: der Traum eines
freien Lebens, selbstbestimmt geführt, mit Fantasie und
Erfindungsreichtum gelebt und mit Geduld und Glaubensstärke
erlitten.
Gleichzeitig gibt der Autor einen Einblick in die vielfältige
und außerordentlich bunte konfessionelle Landschaft im Norden
Finnlands, lässt den Leser am Leben und Glauben der
Laestadianer und ihren ewigen Auseinandersetzungen mit den Pietisten
teilhaben.
Die Laestadianer gehen auf den sogenannten "Apostel der Samen"
zurück, Lars Levi Laestadius (1800-1861), dessen Schriften
neben der Bibel und den Werken
Martin Luthers
zu den wichtigen
Grundlagentexten der Bewegung gehören.
Laestadianer, es gibt ungefähr
Im vorliegenden Roman wird berichtet, dass der Gemeinderat einer
finnischen Stadt beschlossen hat, das diesjährige Sommerlager
der Laestadianer in den Ort zu holen. Man verspricht sich von dieser
riesigen Veranstaltung, zu der Zehntausende mit ihren Wohnwagen und
Wohnmobilen zum Teil von weit her angereist kommen, einen bedeutenden
wirtschaftlichen Impuls für die Kommune.
Im Ort lebt der junge Johannes Leinonen; er hat die alte Mühle
gekauft und will sie wieder instandsetzen. Sein Großvater,
Opa Leinonen, dessen Lebensbeschreibung sich quer durch das ganze Buch
zieht, wohnte dereinst als kleiner Junge in dieser Mühle, die
sein Vater gebaut hatte. Dabei hatte dieser neue Verfahren geplant, um
die Produktion zu steigern und zu erleichtern. Opa Leinonen trat
später in die Fußstapfen seines Vaters und wurde
gleichzeitig ein glühender Anhänger des
Laestadianismus, für den er lange als Prediger mit seinem
Motorrad über das Land zog und die ersten, damals noch sehr
kleinen und überschaubaren Sommerlager ins Leben rief.
"Für den Opa waren Laestadianertum und Elektrotechnik
zwei Seiten derselben Medaille. Beide hatten die Aufgabe,
Trübsinn und Dunkelheit aus den Hütten und Katen
Finnlands zu vertreiben. Der verdatterte Kaufmann versuchte die
Elektrizitätsbegeisterung des Opas mit seiner eigenen
Vorstellung vom Laestadianertum in Einklang zu bringen. Ob der alte
Leinonen Ingenieur sei, wollte er wissen. Ich sagte ihm, der Opa habe
die Industrieschule besucht. Zum Erbauer von Stromkraftwerken sei er
eher zufällig geworden, weil er als junger Mann in den Dienst
der Pellervo-Gesellschaft zur Förderung des
Genossenschaftswesens eingetreten sei, worauf man ihn als Berater bei
der Planung der Elektrifizierung eines Flusstals hinzugezogen habe. Das
heißt: Zufall
kann das eigentlich nicht gewesen sein."
Er ist ein begnadeter Prediger des Fortschritts, wobei er heftige
Kämpfe mit den Pietisten auszufechten hat, denen er gar nicht
wohlgesonnen ist und die er immer wieder auf die Schippe nimmt:
"Trotz ihrer Frömmigkeit sind die Pietisten feige
Jammerlappen. Im Laufe eines Tages schaffen sie es gerade mal, so viel
Glaube an die Gnade Gottes zusammenzuspinnen, dass es am Abend zu einer
kleinen Hoffnung auf Erlösung reicht; aber am
nächsten Morgen geht es wieder von vorne los, und darauf muss
sich der Pietist dann auch schon vor dem Schlafengehen einstellen."
Seine große und lebenslange Berufung sind der Bau von
Elektrizitätswerken und die Verbreitung des Wortes Gottes.
Schon in den 1930er Jahren versucht er, eine
rückständige Landbevölkerung vom Segen der
Wissenschaft zu überzeugen. Dieser Opa Leinonen, mittlerweile
fast 100 Jahre alt, sein Enkel Johannes, der örtliche
Kaufmann, die Mitarbeiter von Roadsound, einer
Firma, die für die gesamte Beschallung des Festivals
zuständig ist, eine Frau namens Leila, Lauri Halme, der Chef
des Sommerlagers und etliche Andere mehr tauchen nun über 320
Seiten abwechselnd in der Ich-Form auf, geben jeweils den
Erzählungsstab weiter und berichten, gespickt mit
Rückblicken in die Vergangenheit, die Geschichte eines
mehrtägigen Sommerlagers von Gläubigen, das im Wasser
zu versinken droht.
"Ursprünglich waren die Versammlungen ganz kleine
geistliche Veranstaltungen gewesen, zu denen man spontan zusammentraf.
Man kam nicht mal auf die Idee, dass es sich um etwas Besonderes
handelte, dem man einen Namen geben musste, um es von den normalen
Begegnungen der Gläubigen zu unterscheiden.
Die Lehre von der Vergebung der
Sünden stärkte
jedoch
die Bedeutung der Versammlungen, und es entstanden bestimmte Formen der
Zusammenkunft. Das Bitten um Vergebung wurde mit der Predigt
verknüpft, und als
Prediger kristallisierten sich
Personen heraus, die mit den geeigneten Gnadengaben gesegnet waren."
Es regnet ohne Unterlass. Ein riesiges zusätzliches Zelt soll
aufgebaut werden, eine fahrbare komplette Druckerei soll die gehaltenen
Predigten noch vor Ort als Buch herausbringen - doch alles wird zum
Opfer des Regens.
Hannu Raittila erzählt mit viel Witz und Charme,
lässt Menschen und Generationen, wie sie unterschiedlicher
nicht sein könnten, aufeinander treffen, sich verstehen und
miteinander arbeiten. "Sintflut" ist eine wunderbare Geschichte
über bemerkenswerte Menschen.
(Winfried Stanzick)
Hannu
Raittila: "Sintflut"
(Originaltitel "Ei minulta mitään puutu")
Aus dem Finnischen von Stefan Moster.
btb, 2009. 320 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Kontinentaldrift"
Sie waren beste Freundinnen, Paula und Sara, zwei vernachlässigte Mädchen, die
alles teilten, die erste Liebe, die Träume vom Leben, die Wünsche nach Glück.
Als Halbwüchsige hingen sie auf dem Flughafen Helsinki herum, machten ihre
Leidenschaft für fremde Länder und weite Reisen schon bald zum gefährlichen
Broterwerb - und verloren einander schließlich aus den Augen. Doch dann, Jahre
später, beobachtet Sara zufällig, wie ihre ehemalige Schulfreundin,
hochschwanger und in Handschellen, aus einer "Iberia"-Maschine in einen
Grenzschutzbus geführt wird. Was sie nicht weiß: dass man Paula in die
Psychiatrie bringt und dass sie von dort bald verschwinden wird. Wenig später
erhält Paulas Mutter Pirjo per E-Mail Tagebücher zugesandt. Es dauert eine Weile,
bis sie das eigene Kind darin erkennt. denn die Verfasserin bezeichnet sich nach
einer Figur in "Twin Peaks" als Laura Palmer. Als Pirjo das begreift, macht sie
ihren früheren Mann ausfindig, Johan Lampen, Offizier der Küstenwache, der sich
vor Jahren dazu entschieden hat, keine Rolle im Leben seiner Tochter spielen zu
wollen. Nun begibt er sich auf die weltweite Suche nach ihr - um wieder
zusammenzuführen, was vor Jahren aufgrund von Missverständnissen und
Sprachlosigkeit auseinanderdriftete wie vor Urzeiten die Kontinente ...
(Luchterhand)
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