Bertrand Russell: "Lob des Müßiggangs"
Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren.
Unerwartetes,
Gewagtes, Visionäres erwartet den Leser, der sich auf das
Abenteuer "Bertrand Russell und sein Denken" einlässt. Gleich
eingangs findet sich ein Lob der Kriegswirtschaft, die bewiesen hat:
"... dass sich moderne Völker durch wissenschaftlich
organisierte Produktion auf der Basis eines geringen Teils der
tatsächlichen Arbeitskapazität der neuzeitlichen Welt
angemessen versorgen lassen". Und weiter leitet der Philosoph aus der
ausgeführten historischen Erkenntnis die moralische Forderung
ab: "Hätte man nach Kriegsende die wissenschaftliche
Organisation, die geschaffen worden war, um die Menschen für
die Front und die Rüstungsarbeiten freizustellen, beibehalten
und die Arbeitszeit auf vier Stunden herabgesetzt, dann wäre
alles gut und schön gewesen." Gut und schön, weil
sich der Mensch nicht weiterhin in tugendhafter Tüchtigkeit
und rastlosem Fleiß ein Leben lang verschleißen
müsste, sondern primär zum Zwecke seiner kulturellen
Selbstentfaltung leben dürfte. Womit letztlich allen gedient
wäre. Allein, mit Vernunftargumenten komme man gegen die
Sklavenmoral der Arbeitsethiker heutzutage offenbar noch nicht an, gehe
es diesen in der Tat ja nicht um die Verwirklichung von
Menschheitsträumen, sondern, viel profaner, um die Profitraten
der Konzernherrn und Kapitaleigner. Und eben deswegen sei Sozialismus:
"... eine Methode der Anpassung an die maschinelle Produktion, wie sie
der gesunde Menschenverstand fordert und darauf berechnet, dass nicht
nur die Proletarier, sondern alle Menschen mit Ausnahme einer winzigen
Minderheit glücklicher werden."
Um dieses Ziel allgemeinen Glückzugewinns zu verwirklichen,
bedarf es allerdings flankierender Maßnahmen auf dem Gebiet
der Wissensbildung, der charakterlichen Erziehung, der Architektur
und noch vielem mehr. Nach der einleitenden
Lobpreisung
des Müßiggangs folgen demnach vierzehn
weitere Aufsätze, die großteils in ihrem
thematischen Gehalt auf diese erste kritische Auseinandersetzung mit
dem Problem der Arbeitsethik hin ausgerichtet sind und das eine
große Ziel, die menschliche Selbstentfaltung, aus
verschiedenen Perspektiven anvisieren. Und so mag es in Zeiten des
Traums vom eigenen Häuschen und der Klage über
großstädtische Vermassungs- und
Anonymisierungstendenzen vielleicht provokant anmuten, wenn Russell
vorschlägt, die - für England so typischen -
Reihenhaussiedlungen niederzureißen und die bis dahin ihrem
kleinfamiliären Mief ausgelieferten Bewohner einer
vernünftigen Kollektivierung in gleichermaßen
zweckmäßig wie ästhetisch
überlegten Großbauten zuzuführen, wo es dem
Einzelnen - vor allem den Frauen - erst möglich wäre,
wahrhaftige Individualität zu entwickeln. Konkretes Ziel
dieser baulichen Kollektivierungsmaßnahmen wäre:
Reduzierung von alltäglicher - unproduktiver - Mühsal
auf ein vertretbares Mindestmaß
(Gemeinschaftsküchen, Kinderbetreuung vor Ort, etc.). Und was
die Bildung betrifft, singt Russell ein Loblied auf
"unnützes"
Wissen, das keinem unmittelbar verwertbaren Zweck dient (wie es
Wirtschaftslobbyisten allemal noch wünschen), aber auch nicht
als totes Bildungswissen den Geist belastet, sondern ganz im Geiste der
Renaissance genauso zur Lebensfreude gehört wie das Trinken
und Hofmachen. Russell geht nicht so weit, "nützliches" Wissen
feindselig zu befehden. Es hat die moderne Welt mit allen ihren
Segnungen geschaffen und uns gleichermaßen einen gehobenen
Gesundheitszustand wie auch Manipulation durch neuzeitliche Propaganda
beschert. Man kann es also so und so sehen. Und trotzdem! Der
Nützlichkeitswahn verdirbt den Prozess des Wissenserwerbs und
verkümmert zuletzt den Menschen zu einem bloßen
Faktor technischer Verwertbarkeit. Russell hat diese Korrumpierung des
Bildungsideals erkannt und verficht demgegenüber eine Vision
kultureller Humanität: "Wenn sich die Menschen das kulturelle
Element in Unterricht und Ausbildung mit Erfolg zu eigen machen, dann
formt es den Charakter ihres Denkens und Strebens, veranlasst sie, sich
zumindest teilweise mit großen,
überpersönlichen Zielen zu beschäftigen und
nicht nur mit Dingen, die von unmittelbarerer Bedeutung für
sie selbst sind."
Es freut, diesen so unzeitgemäßen Gedanken aus dem
Munde einer geistigen Autorität zu vernehmen, wie Bertrand
Russell zweifellos eine ist.
Der uns nun vorliegende Essayband ist voll der originellen Gedanken und
thematisiert soziale Fragen der Architektur ebenso, wie die geistigen
Väter des Faschismus, die Herkunft und das Wesen
abendländischer Zivilisation, den Zynismus der Jugend, die
moderne Gleichförmigkeit, Erziehung und Disziplin, Stoizismus
und geistige Gesundheit, die Frage nach der Seele des Menschen und,
vielleicht etwas skurril doch gut begründet, den Konflikt
zwischen Menschen und Insekten.
Eine Fülle von teils aufreizenden Einsichten, garniert mit
Bonmots, bedienen den Bildungshungrigen auf das Vorzüglichste.
So erachtet Russell in etwa in seinem Aufsatz über die
abendländische Zivilisation
das alte Ägypten der Pharaonen zwar durchaus als Respekt gebietende
Hochkultur, spricht dem Pharaonenreich jedoch wegen des für
seine ideologische Grundverfassung so charakteristischen
abergläubischen Totenkults den Charakter einer entwickelten
Zivilisation ab, welche bestimmungsgemäß auch und
unbedingt auf rationalem Wissen beruhen müsse. Hierbei handelt
es sich nun gewiss um eine recht pointierte, doch allemal diskutable
Sichtweise des Autors. Den eigentlichen Anbeginn
abendländischer Zivilisation erblickt Russell nicht - wie so
oft - im vielgelobten antiken Griechenland, wo Korruption und Verrat am
Vaterland üblich waren, sondern grundsätzlich im
römischen Treuebegriff
gegenüber dem Staat, welcher einem Beamtentum zur
ethischen Maxime wurde, das, unbeeindruckt von allen inneren Wirren und
hoheitlichen Verrücktheiten, den römischen Staat im
Geiste seines hohen Amtsethos zusammenhielt und solcherart die edlen,
doch gar fragilen Ideen hellenistischer Kultur in das Gefüge
einer beständigen abendländischen Zivilisation
eingefasst hat, ohne die alles wieder dem Vergessen anheim gefallen
wäre.
So weit einige beispielhaft herausgegriffene Details aus dem
Gedankenreichtum der vorliegenden Aufsatzsammlung.
Summa summarum: Bertrand Russell, Professor der Philosophie an
verschiedenen englischen Eliteuniversitäten, empfiehlt der
modernen Menschheit eine Art von Kriegssozialismus. Zweck dieser
Gesellschaftsordnung sei, dieser durch einen verlogenen Arbeitsbegriff
geschändeten Menschheit längerfristig einen Ausweg
aus ihrem selbstverschuldeten Elend zu weisen. Ziel einer jeden am
Menschen orientierten Politik müsse es deswegen sein, die
Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit
überzuführen, welches bis dato nur einer kleinen
Schicht von Wohlgeborenen offen stand und steht. Ein im Grunde
marxistischer Gedanke, der, mit anderen Worten, ernsthaft auf die
Verwirklichung der kommunistischen Utopie abzielt.
Wer so spricht bzw. schreibt, ist weder Bellizist, wenn er das System
der Kriegswirtschaft für die Zeit des Friedens
vorschlägt, noch blindgläubiger Sozialist, wenn er
den alles unterjochenden Profitwahn
unserer Tage verwirft und aus vernünftiger Erwägung
der modernen Gesellschaft Sozialismus empfiehlt, sondern Russell ist
ein Mann sozialer Vernunft, der betrauert, dass der Mensch sein Leben
im Geiste des Evangeliums der Arbeit verschwendet und stirbt, noch
bevor er ganz Mensch geworden ist.
Bertrand Russell
(18.5.1872-2.2.1970) lehrte von 1910 bis 1916
Philosophie an der
Universität in Cambridge und wurde berühmt durch
seine bahnbrechenden Arbeiten zur logischen Grundlegung der Mathematik
("Principia mathematica"). Sein hartnäckiges Engagement gegen
den Krieg und für den Pazifismus kostete ihm während
des Ersten Weltkriegs sein akademisches Amt. Seiner pazifistischen
Gesinnung blieb er, trotz der erfahrenen repressiven Sanktion, Zeit
seines Lebens treu. Für sein Werk "Ehe und Moral", wie
überhaupt für den präzisen Gehalt seiner
wissenschaftlichen Prosa, erhielt er 1950 den Literaturnobelpreis.
Gemeinsam mit
Sir Karl Popper steht Bertrand Russell für den
literarischen Grundsatz, entweder leicht verständlich oder gar
nicht zu schreiben. Esoterischer Elitismus im Ausdruck war dem
volksverbundenen Professor der Philosophie noch allemal verhasst, und
insofern liest sich auch gegenständliches Kompendium von
fünfzehn Essays über soziale Fragen leicht und
flüssig. Bemühte Verständlichkeit ist eine
seltene Tugend bei Philosophen, wobei die Einfachheit im Ausdruck bei
Russell doch niemals zu Lasten sprachlicher Eloquenz geht,
wofür man ihn letztlich ja auch mit dem Literaturnobelpreis
gewürdigt hat. Gewiss ist manches in den Aufsätzen
durch den Zeitfluss antiquiert, so wie etwa der - von Russell
argwöhnisch betrachtete - Sowjetsozialismus mittlerweile nur
noch Geschichte ist, doch, wie auch immer, das Allermeiste ist von
zeitlosem Gehalt und heute wie damals von dringlicher Relevanz. Denn
immer noch führen wir unser Leben in der naiven
Überzeugung, intensives Arbeiten, und zwar selbst unsinniges
und irregeleitetes, sei in jedem Falle bewundernswert und - wirft es
nur hinreichend Ertrag ab - dem Zweck nach schon gerechtfertigt.
(Harald Schulz; 23. September 2002)
Bertrand Russell: "Lob
des Müßiggangs"
Broschierte
Ausgabe:
dtv, 2002. 257 Seiten.
ISBN 3-423-30851-6.
ca. EUR 9,-.
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