III.

DIE VERWIRRUNG DES TRAUMES


In dieser Nacht schlief ich mit großen Gedanken ein. Weniger großartig war mein Traum, den ich seiner Sonderbarkeit wegen doch hierher setzen möchte. Ich sah mich selbst am großen Flusse stehen und sehnsüchtig nach der Vorstadt blicken, die ausgedehnter und pittoresker erschien, als sie wirklich war. So weit man sehen konnte, ein Gewirr von Brücken, Türmen, Windmühlen, Bergzacken, alles ineinander eingeschaltet und miteinander verbunden wie eine Luftspiegelung. Große und kleine, dicke und dünne Gestalten bewegten sich in diesem Gewirr. Wie ich so hinüber sah, fühlte ich, daß hinter meinem Rücken der Müller stand: "Ich habe ihn umgebracht", raunte er und wollte mich ins Wasser stoßen. Da zog sich mein linkes Bein zu meiner großen Überraschung in die Länge, so daß ich ohne Anstrengung in das Gewimmel auf dem andern Ufer treten konnte. Und nun hörte ich um mich herum ein vielfaches Ticken, und gewahrte eine Menge flacher Uhren der verschiedensten Größen, von der Turmuhr bis zur Küchenuhr und kleinsten Taschenuhr hinab. Sie hatten kurze Stummelbeine und krochen wie Schildkröten unter aufgeregtem Ticken durcheinander auf der Wiese umher. Ein in grünes weiches Leder gekleideter Mann, mit einer Mütze, welche wie eine weiße Wurst aussah, saß auf einem entlaubten Baum und fing aus der Luft Fische. Er hing sie dann an den Zweigen auf und im Nu waren sie gedörrt. - Ein alter Kerl mit abnorm großem Oberkörper und kurzen Beinen näherte sich; bis auf ein Paar beschmierte Arbeiterzwilchhosen war er nackt. Er hatte zwei lange senkrechte Reihen von Brustwarzen - ich zählte achtzehn -. Nun zog er seine Lungen schnaufend voll Luft, bald schwoll die rechte und bald die linke Brust mehr an, dann spielte er mit den Fingern auf diesen achtzehn Warzen die schönsten Harmonikastücke. Dabei bewegte er sich taktmäßig nach der Melodie wie ein Tanzbär, während er die Luft wieder ausstieß. Schließlich hörte er auf, schneuzte sich in die Hände und schleuderte sie von sich. Dann wuchs ihm ein ungeheurer Bart, in dessen Gestrüpp er verschwand. Nebenan in einem Dickicht stöberte ich eine Anzahl fetter Schweine auf; im Gänsemarsch liefen sie vor mir davon und wurden immer kleiner und winziger, bis sie laut quiekend in einem Mausloche am Weg verschwanden.
Hinten am Flusse saß der Müller - mir wurde unbehaglich -, er studierte ein gewaltiges Zeitungsblatt. Nachdem er es gelesen und gefressen hatte, dampfte Rauch aus seinen Ohren, er wurde kupfrig, stand auf und hielt sich seinen Hängebauch mit beiden Händen, während er das Ufer auf- und niederstürmte. Dabei blickte er wild um sich und stieß schrille Pfiffe aus. Endlich fiel er wie vom Schlage getroffen zu Boden, erblaßte, sein Leib wurde licht und durchsichtig, und man sah deutlich in seinen Eingeweiden zwei kleine Eisenbahnzüge herumsausen; sie schienen sich fangen zu wollen, blitzschnell wurde eine Darmschlinge nach der andern durchfahren. Kopfschüttelnd und etwas verblüfft wollte ich dem Müller meine Hilfe antragen, die Worte wurden mir aber von einem Schimpansen abgeschnitten, der um mich mit größter Geschwindigkeit eine ringförmige Gartenanlage pflanzte, wobei dicke apfelgrüne Strünke wie Riesenspargel dichtgedrängt aus dem feuchten Boden sprossen. Ich fürchtete in diesem lebenden Zaun wie in einem Käfig gefangen zu werden, wurde jedoch, ehe ich mir recht überlegte, was zu tun sei, befreit. Der tote Müller, nun nicht mehr durchsichtig, hatte in Krämpfen einen Kranz von vielen Hunderttausenden milchiger weißer Eierchen gelegt, aus denen sich Legionen von Schnecken entwickelten, die ihren Erzeuger sogleich begierig auffraßen. Ein durchdringender Geruch von Selchfleisch verbreitete sich und brachte die fleischigen Stengel zum Faulen, so daß sie in sich zusammenfielen. In der Ferne verschwand die Vorstadt in einem Gespinst violett schimmernder Fäden.
Ich bemerkte eine kolossale Muschel, die wie ein Felsenriff am Flußufer lag; ich sprang auf ihre harte Schale. Da, ein neues Unheil! Die Muschel öffnete sich schwerfällig, mein Standort wurde abschüssig, in ihrem Innern zitterten gelatineartige Massen ------- ich erwachte. -


(Aus "Die andere Seite. Ein phantastischer Roman" von Alfred Kubin.)

In seinem einzigen Roman, der düstere Endzeitstimmung vermittelt, schildert Kubin in metaphernreicher und symbolhafter Sprache seine Halluzinationen und Weltuntergangsvisionen beklemmend detailliert. Der fiktive Ich-Erzähler wird von seinem früheren Schulfreund Patera  eingeladen, mit seiner Frau nach Perle, die nebelumwobene Hauptstadt eines in Zentralasien errichteten Traumreichs, wo es keinerlei Fortschritt gibt, zu ziehen. Dort wird er Zeuge des chaotischen Niederganges und der Zerstörung des Reiches, als dessen Herrscher zusehends verfällt. Nach einem zunehmend entsetzlichen drei Jahre dauernden Aufenthalt vermag er es gerade noch, sich als einer der wenigen Überlebenden in die "Realität" zurück zu retten ...
"Jeder findet, was ihm zukommt, seine Geburt, sein Glück, sein Unglück und sein Ende. Je eigenartiger, phantasievoller ein Mensch ist, desto ausgeprägter wird sich alles für ihn abspielen. Schicksal ist alles. Daher bin ich Fatalist." (Alfred Kubin)
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