Für gewöhnlich war Katabolonga als erster im Palast auf den Beinen. Er
durchmaß die leeren Gänge, während draußen die Nacht noch mit ihrem
ganzen Gewicht auf den Hügeln lag. Seine Schritte waren lautlos. Ohne
jemandem zu begegnen, gelangte er von seinem Zimmer in den Saal des
Goldenen Schemels. Die nebelhaften Umrisse seiner Gestalt glitten an den
Mauern entlang. So war es immer. Lautlos ging er seinen Pflichten nach,
bevor der Tag anbrach.
Doch an diesem Morgen war er nicht allein. An diesem Morgen herrschte
ein fieberhaftes Treiben in den Gängen. Dutzende und Aberdutzende von
Arbeitern und Trägern eilten mit Bedacht hin und her und sprachen nur
leise, um niemanden aufzuwecken. Als würde ein großes Schmugglerschiff
im Schutze der Nacht entladen. Stille lag über dieser Geschäftigkeit. Im
Palast von Massaba hatte es keine Nacht gegeben. Die Arbeit wurde nicht
unterbrochen.
Schon seit Wochen glich Massaba dem angstvollen Herzen eines
Ameisenhaufens. König Tsongor würde seine Tochter mit dem Herrscher der
Salzländer vermählen. Ganze Karawanen kamen aus den entlegensten
Gebieten und brachten Gewürze,
Vieh und Stoffe. Architekten
waren damit beauftragt worden, den weiten Platz vor den Toren des
Palastes zu vergrößern. Jeder Brunnen war geschmückt. Händler kamen in
langen Reihen und brachten unzählige Säcke voller Blumen. Massaba lebte
in einem Rhythmus, den es bis dahin nicht gekannt hatte. Tag für Tag
wuchs die Bevölkerung. Tausende von Zelten drängten sich jetzt eng an
die Stadtmauern und bildeten riesige Vororte aus bunten Stoffen, in
denen sich die Rufe der im Sand spielenden Kinder mit dem Blöken des
Viehs vermischten. Nomaden waren von weit her gekommen, um an diesem Tag
dabei zu sein. Sie zogen aus allen Ecken des Landes herbei. Sie kamen,
um Massaba zu sehen. Sie kamen, um die Hochzeit von Samilia, der Tochter
des Königs Tsongor, mitzuerleben.
Seit Wochen hatte jeder Einwohner Massabas und jeder Nomade auf dem
Hauptplatz Geschenke für die zukünftige Braut niedergelegt. Sie waren zu
einer riesigen Ansammlung von Blumen,
Amuletten, Getreidesäcken und Weinkrügen angewachsen. Ein Berg aus
Stoffen und heiligen Statuen. Jeder wollte der Tochter König Tsongors
zum Zeichen der Bewunderung ein Geschenk darbieten und seinen Segen
geben.
Doch in dieser Nacht hatte man den Palastdienern befohlen, den Platz zu
räumen. Nichts sollte übrig bleiben. Der alte König von Massaba wollte
die Esplanade herrlich geschmückt sehen. Der ganze Vorplatz sollte mit Rosen
bedeckt sein und die Leibgarde sollte in prunkvollen Gewändern
Aufstellung nehmen. Fürst Kouame würde Gesandte schicken, um dem König
seine Geschenke zu Füßen zu legen. Der Tag der Hochzeitsgaben leitete
die Trauungsfeierlichkeiten ein. Alles musste bereit sein.
Die ganze Nacht hatten die Palastdiener nicht geruht und waren zwischen
den Bergen von Geschenken auf dem Platz und den Sälen des Palastes hin-
und hergeeilt. Hunderte von Säcken, Blumen und Schmuckstücken hatten sie
transportiert. So harmonisch wie möglich verteilten sie Amulette,
Statuen und Teppiche in den verschiedenen Wohnräumen des Palastes und
gaben dabei wohl acht, keinen Lärm zu machen. Der große Platz musste
leer sein. Der Palast hingegen sollte reich geschmückt werden mit den
Zeichen der Zuneigung des Volkes. Prinzessin Samilia sollte in einem
Rausch der tausend Wohlgerüche
und Farben erwachen. Daran arbeiteten in aller Stille die langen Reihen
der Träger. Sie mussten fertig sein, bevor die Prinzessin und ihr
Hofstaat erwachten. Die Zeit wurde knapp. Denn sie waren Katabolonga
begegnet, und einige hatten ihn auch erkannt. Sie wussten, dass, wenn
Katabolonga auf den Beinen war, der Tag bald anbrechen und König Tsongor
sich erheben würde. So nahm die Geschäftigkeit zu, je länger Katabolonga
durch die Flure schritt, je näher er dem Saal des Goldenen Schemels kam.
Die Diener arbeiteten immer schneller und hastiger.
Katabolonga selbst ließ sich von keiner Furchtsamkeit anstecken. Er ging
langsam wie gewöhnlich. In seinem eigenen ruhigen Rhythmus. Er wusste,
dass er genug Zeit hatte. Der Tag würde nicht sofort anbrechen. Er
wusste, dass er - wie seit Jahren jeden Tag - am Bett des Königs sein
würde, wenn dieser die Augen aufschlug. Er dachte nur, dass es das erste
und zweifellos letzte Mal war, dass er auf seinem nächtlichen Gang so
vielen Menschen begegnete und dass der Klang seiner Schritte von so viel
Gemurmel begleitet war.
Doch als Katabolonga den Saal des Goldenen Schemels betrat, erstarrte er
plötzlich. Ein Lufthauch strich über sein Gesicht und schien eine
Botschaft zu enthalten, die zu entziffern ihm nicht gelang. In dem
Moment, als er die Tür öffnete, hatte er den Eindruck, dass alles zu
Ende gehen würde. Er fing sich wieder, durchquerte den Raum und nahm den
Goldenen Schemel. Doch kaum hielt er den heiligen Gegenstand in Händen,
entglitt er ihm wieder. Ein Zittern befiel seine Arme und bedeutete ihm
erneut, dass alles dem Ende zuging. Dieses Mal lauschte er dem Gefühl,
das in ihm aufstieg. Er lauschte, und Unruhe befiel ihn. Er lauschte.
Und wusste, dass heute tatsächlich alles enden würde. Er wusste, dass er
an diesem Tag König Tsongor töten würde. Heute war der Tag, dem er zu
entgehen geglaubt hatte. Er begriff, dass der König heute zum letzten
Mal aufstehen würde, zum letzten Mal würde Katabolonga der Wilde ihm von
Saal zu Saal folgen, wie ein Schatten, und auf die kleinsten Anzeichen
von Müdigkeit achten, sein Seufzen hören und der ehrenvollsten aller
Tätigkeiten nachgehen. Heute war sein letzter Tag als Träger des
Goldenen Schemels.
Er erhob sich und versuchte, die aufsteigende Unruhe zu unterdrücken.
Mit dem Schemel an sich gepresst lief er durch die Gänge des Palastes.
Seine Kiefer verkrampften sich in der düsteren Gewissheit, dass der Tag
angebrochen war, an dem er seinen Freund, König Tsongor, tötete.
Tsongor erwachte mit dem Gefühl, dass der vor ihm liegende Tag zu kurz
sein würde, um alles zu erledigen, was er zu tun hatte. Er atmete tief
durch. Er wusste, dass er bis zum Abend keine ruhige Minute mehr hätte.
Er begrüßte Katabolonga, der an seiner Seite saß. Und dieser Anblick tat
ihm gut. Er begrüßte Katabolonga, doch anstatt seinen Gruß zu erwidern
und ihm sein königliches Geschmeide umzuhängen, wie er es jeden Morgen
tat, flüsterte dieser ihm leise zu:
"Tsongor, ich muss mit dir reden."
"Ich höre", antwortete der König.
"Der Tag ist gekommen, mein Freund", sagte Katabolonga.
Die Stimme des Trägers klang seltsam, doch Tsongor achtete nicht darauf.
Er sagte: "Ich weiß." Und der Tag begann.
In Wahrheit hatte Tsongor nicht verstanden, was Katabolonga ihm sagen
wollte. Oder vielmehr hatte er geglaubt, dass sein Träger ihm in
Erinnerung rief, was er bereits wusste, woran er seit Monaten ständig
dachte, nämlich dass seine Tochter heiratete und dass die
Feierlichkeiten heute begannen. Er hatte automatisch geantwortet. Ohne
nachzudenken. Hätte er den Gesichtszügen seines alten Untergebenen
Beachtung geschenkt, er hätte eine tiefe Traurigkeit darin entdeckt, ein
Seufzen, das ihm vielleicht verraten hätte, dass Katabolonga nicht über
die Hochzeit sprach. Sondern von etwas anderem. Von dieser alten
Geschichte, die die beiden Männer schon so lange verband.
Es geschah zu jener Zeit, als König Tsongor noch jung war. Er hatte
soeben das Königreich seines Vaters verlassen, ohne sich noch einmal
umzuwenden. Ließ den alten König auf seinem müden Thron erlöschen.
Tsongor war gegangen. Er wusste, dass sein Vater ihm nichts hinterlassen
würde, und er war nicht bereit, diese Schmach hinzunehmen. Er war
gegangen, hatte auf das Antlitz des Alten gespuckt, der die Zügel nicht
aus der Hand geben wollte. Er hatte entschieden, dass er nichts
verlangen, um nichts betteln würde. Er hatte beschlossen, ein eigenes
Reich zu gründen, viel größer als jenes, welches man ihm verweigerte.
Seine Hände waren fiebrig, die Füße ruhelos. Er wollte durch neue Länder
ziehen. Mit Eisen und Schwert. Eroberungen machen, die ihn ans Ende der
bekannten Welt führen würden. Er war hungrig. Und noch im Schlaf sprach
er von den Gebieten, die er sich zu unterwerfen träumte. Sein Gesicht
sollte die Züge des Eroberers tragen. Noch war der Körper seines Vaters
im Grab nicht erkaltet, da hob er schon eine Armee aus und machte sich
auf den Weg nach Süden. Niemals wollte er zurückweichen, sondern
vorwärts stürmen, die Weite durchmessen, ohne Luft zu holen, und überall
sollten die Banner seiner Vorfahren im Wind flattern.
Die Feldzüge König Tsongors dauerten zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre im
Feldlager, zahllose Kämpfe, stets auf dem Vormarsch. Zwanzig Jahre lang
schlief er nur in behelfsmäßigen Betten. Zwanzig Jahre lang beugte er
sich über Karten, entwickelte Strategien, schlug zu. Er war unbesiegbar.
Nach jeder gewonnenen Schlacht sammelte er die feindlichen Truppen und
gliederte sie in sein Heer ein, bot ihnen die gleichen Privilegien wie
seinen eigenen Soldaten. Und so wuchs seine Armee trotz aller Verluste,
trotz aller verstümmelten Körper und Hungersnöte. König Tsongor alterte
im Sattel, mit dem Schwert in der Hand. Im Sattel nahm er sich eine
Frau, auf einem seiner Feldzüge. Und die riesige Schar seiner Männer,
deren Körper noch von den Kämpfen auf dem Schlachtfeld dampften,
bejubelte jedes Kind, das ihm geboren wurde. Zwanzig Jahre Kampf und
Eroberung bis zu jenem Tag, als er das Land der Kriecher erreichte. Hier
lagen die letzten unerforschten Regionen des Kontinents. Am Ende der
Welt. Danach kamen nur noch der Ozean und die Dunkelheit. Die Kriecher
waren ein Volk von Wilden, die verstreut in winzigen Schlammhütten
lebten. Sie hatten weder einen Anführer, noch eine Armee. Es handelte
sich um einzelne Weiler, in denen jeder Mann mit seinen Frauen lebte.
Ohne sich um die Welt zu kümmern, die ihn umgab. Sie waren große, magere
Menschen. Spindeldürr manchmal. Sie wurden Kriecher genannt, weil sie
trotz ihrer beachtlichen Körperlänge in Hütten lebten, die kaum die
Größe eines Pferds erreichten. Niemand wusste, warum sie sich keine
ihrer Statur entsprechenden Wohnstätten bauten. Das tägliche Leben in
diesen winzigen Hütten hatte sie alle eine gebeugte Haltung annehmen
lassen. Ein Volk von Riesen, die sich niemals aufrichteten. Ein Volk von
großen dürren Menschen, die nachts mit krummem Rücken, als laste das
ganze Gewicht des Himmels auf ihnen, die staubigen Wege entlang liefen.
Im Zweikampf waren sie die gefürchtetsten Gegner, wendig und gnadenlos.
Sie reckten sich zu ihrer vollen Größe empor und stürzten sich wie
ausgehungerte Geparden auf ihre Gegner. Man musste sie sogar in
entwaffnetem Zustand noch fürchten. Gefangene zu machen, war unmöglich,
denn solange noch ein Quäntchen Kraft in ihnen schlummerte, warfen sie
sich auf den nächstbesten Mann in ihrer Nähe und versuchten, ihn zu
bezwingen. Nicht selten erlebte man, dass aneinandergekettete Kriecher
sich auf ihre Bewacher stürzten und sie allein mit ihren Zähnen töteten.
Sie bissen. Sie kratzten. Sie schrien und tanzten auf den Körpern ihrer
Feinde, bis diese nur noch eine fleischige Masse waren. Man fürchtete
sie, doch König Tsongor boten sie nur schwachen Widerstand. Es gelang
ihnen niemals, sich zu organisieren. Niemals konnten sie seinem
Vormarsch eine geordnete Frontlinie entgegensetzen. Der König drang in
das Land der Kriecher ein und musste kein einziges Mal um den Sieg
fürchten. Er brannte die Dörfer eins nach dem anderen nieder. Er legte
alles in Schutt und Asche, und schon bald war das Land nur noch ein
leeres und verdorrtes Gebiet, in dem nachts die Schreie der Kriecher
widerhallten. Sie brüllten ihren Schmerz hinaus und verfluchten den
Himmel für das ihnen widerfahrene Unheil.
Katabolonga war einer von ihnen. Vermutlich einer der Letzten, die zu
dem Zeitpunkt, als der König seine Eroberungen fast zu Ende geführt
hatte, noch am Leben war. Seine Hütte war, wie so viele andere, dem
Erdboden gleich gemacht worden. Seine Frauen vergewaltigt und ermordet.
Er hatte alles verloren. Doch aus irgendeinem Grund, für den niemand
jemals eine Erklärung fand, hatte er nicht auf die gleiche Weise
reagiert wie seine Brüder. Er warf sich nicht auf den nächstbesten
Soldaten, um ihm die Nase abzubeißen und seine Hände im Blut der Rache
zu baden. Nein, er wartete. Lange. Er wartete, bis das ganze Land
unterworfen war und König Tsongor sein letztes Feldlager in diesem
besiegten Land errichtete. Erst dann verließ er die Wälder, in denen er
sich versteckt hatte.
Es war ein wunderbarer Tag, in Licht getaucht und voller Ruhe. Kein
Soldat kämpfte mehr. Keine Schlacht wurde mehr geschlagen. Keine Hütte
stand mehr. Die ganze Armee ruhte sich in einem riesigen Heerlager aus
und feierte den Sieg. Einige putzten ihre Waffen. Andere legten die Füße
hoch. Man unterhielt sich und tauschte Trophäen aus.
Katabolonga erschien am Eingang des Lagers. Nackt. Ohne Waffen. Den Kopf
hoch erhoben. Ohne zu zittern. Den Soldaten, die ihm den Weg
versperrten, sagte er, dass er den König sprechen wolle. Und in seiner
Stimme lag eine solche Autorität, eine solche Ruhe, dass man ihn zu
Tsongor führte. Er durchquerte das gesamte Lager. Sein Marsch dauerte
mehrere Stunden, denn diese Armee, aus allen unterworfenen Völkern
zusammengewürfelt und in Reih und Glied gestellt für das blutige
Unterfangen der Eroberung, war riesig. Er lief in der prallen Sonne, den
Kopf hoch erhoben. Und es lag etwas Merkwürdiges in der Tatsache, einen
Kriecher auf diese Art marschieren zu sehen. Er war so ruhig,
entschlossen, stolz, und etwas so Schönes lag in seinen Bewegungen, dass
die Soldaten ihm das Geleit gaben. Sie wollten wissen, was der Wilde
wünschte. Sie wollten wissen, was geschehen würde. König Tsongor
erblickte von weitem schon eine Staubwolke. Er erkannte eine
hochgewachsene Gestalt, die einen Haufen belustigter und neugieriger
Soldaten überragte. Er unterbrach sein Mahl und erhob sich. Und als der
Wilde vor ihm stand, betrachtete er ihn lange und gründlich, ohne ein
Wort zu sagen.
"Wer bist du?" fragte er den Mann, der sich jeden Moment auf ihn werfen
und mit bloßen Zähnen in Stücke reißen konnte.
"Ich heiße Katabolonga." Es herrschte eine ungeheure Stille unter den Soldaten,
die sich um das Zelt des Königs drängten. Die Männer wunderten sich über
die schöne Stimme des Wilden. Über die Leichtigkeit, mit der ihm die
Worte über die Lippen gekommen waren. Er war nackt. Zerzaust. Seine
Augen waren von der Sonne gerötet. Ihm gegenüber wirkte König Tsongor
wie ein schmächtiges Kind.
"Was willst du?" fragte der Herrscher.
Katabolonga antwortete nicht. Als hätte er die Frage nicht gehört. Der
Moment schien kein Ende zu nehmen, in dem sich die beiden Männer nicht
aus den Augen ließen. Dann begann der Wilde zu sprechen.
"Ich bin Katabolonga, und ich antworte nicht auf deine Fragen. Ich rede,
wann es mir gefällt. Ich bin gekommen, um dich zu sehen. Und um dir vor
allen deinen Leuten zu sagen, was gesagt werden muss. Du hast mein Haus
dem Erdboden gleichgemacht. Und meine Frauen getötet. Du hast mein Land
unter den Hufen deines Pferdes zermalmt. Deine Männer haben meine Luft
geatmet und aus meinen Angehörigen Tiere gemacht, die auf der Flucht
sind und mit den Affen
um Nahrung streiten. Du bist von weither gekommen. Um mein Hab und Gut
zu verbrennen. Ich bin Katabolonga, und niemand verbrennt ungestraft
meinen Besitz. Ich stehe hier, vor dir. Ich stehe hier, inmitten deiner
versammelten Männer. Ich bin gekommen, um dir das zu sagen. Ich bin
Katabolonga, und ich werde dich töten. Denn bei meiner zerstörten Hütte,
bei meinen toten Frauen, bei meinem verbrannten Land, dein Leben gehört
mir."
Im Lager war kein Laut zu hören. Kein Waffenklirren. Alle warteten auf
die Entscheidung des Königs. Alle waren bereit, sich auf ein kleines
Kopfnicken des Herrschers hin auf den Wilden zu stürzen und ihn zu
töten. Aber Tsongor rührte sich nicht. Sein Geist wurde von Erinnerungen
heimgesucht. Zwanzig Jahre Ekel vor sich selbst hatten sich angesammelt.
Zwanzig Jahre Krieg und Massaker verfolgten ihn. Er sah den Mann vor
sich an. Aufmerksam. Respektvoll und fast zärtlich.
"Ich bin König Tsongor", sagte er. "Mein Land kennt keine Grenzen.
Verglichen mit meinem Reich war das Königreich meiner Väter ein
Sandkorn. Ich bin König Tsongor, und im Sattel bin ich gealtert. Mit der
Waffe in der Hand. Seit zwanzig Jahren kämpfe ich. Seit zwanzig Jahren
unterwerfe ich Völker, die nicht einmal meinen Namen kannten. Ich habe
die ganze Welt durchmessen und sie in meinen Garten verwandelt. Du bist
der letzte Feind im letzten Land. Ich könnte dich töten und deinen Kopf
auf eine Lanze spießen als Zeichen für alle Menschen, dass ich jetzt
über einen ganzen Kontinent herrsche. Doch das werde ich nicht tun. Die
Zeit der Schlachten ist nun vorbei. Ich möchte kein blutrünstiger König
mehr sein. Vor mir liegt die Aufgabe, das Königreich, das ich geschaffen
habe, zu regieren. Und mit dir, Katabolonga, werde ich beginnen. Du bist
der letzte Feind im letzten Land, und ich bitte dich, ab heute an meiner
Seite zu bleiben. Ich bin König Tsongor und ich biete dir an, mich als
Hüter meines Goldenen Schemels überallhin zu begleiten."
Nach diesen Worten erhob sich ein ungeheures Stimmengewirr unter den
Soldaten. Die Sätze des Königs wurden für diejenigen wiederholt, die zu
weit weg standen. Man versuchte zu verstehen, doch nun ergriff der Wilde
erneut das Wort.
"Ich bin Katabolonga, und ich nehme meine Worte nicht zurück. Ich habe
es dir gesagt. Ich werde dich töten."
Der König biss sich auf die Lippen. Er empfand keine Furcht vor dem
Wilden, doch ihm schien, dass er im Begriff war zu scheitern. Und ohne
dass er genau wusste, warum, hatte er das Gefühl, dass es von größter
Wichtigkeit war, diese magere Gestalt zu überzeugen. Sein Seelenfrieden
schien davon abzuhängen.
"Ich bitte dich nicht, deine Worte zurückzunehmen", antwortete er. "Im
Angesicht meiner versammelten Armee mache ich dir folgenden Vorschlag,
Katabolonga: Mein Leben gehört dir. Das bezeuge ich hier und jetzt. Es
gehört dir. Ich biete dir an, in den kommenden Jahren der Träger meines
Goldenen Schemels zu sein. Du wirst mich überallhin begleiten. Ich werde
dich an meiner Seite wissen, und du wirst über mich wachen. An dem Tag,
an dem du dir nehmen willst, was dir gehört, am Tag deiner Rache, werde
ich mich nicht wehren. Du wirst mich töten, wann es dir gefällt,
Katabolonga. Morgen. In einem Jahr. Am letzten Tag deines Lebens, wenn
du alt und müde bist. Ich werde mich nicht wehren. Und niemand wird dann
Hand an dich legen. Niemand wird sagen können, dass du ein Mörder bist.
Denn mein Leben gehört dir, und du wirst nur nehmen, was ich dir heute
gebe."
Die Soldaten brachten kein Wort heraus. Niemand wollte glauben, was
soeben gesagt worden war. Niemand konnte glauben, dass das größte aller
Königreiche von nun an in den Händen dieses Wilden liegen sollte, der
nackt und ungerührt inmitten all der Rüstungen und Lanzen stand. Langsam
ging Katabolonga auf den König zu. Bis er ganz nah vor ihm stand. Er
überragte Tsongor um mehrere Haupteslängen. Er bewegte sich nicht.
"Ich nehme dein Angebot an, Tsongor. Ich werde dir dienen. Respektvoll.
Ich werde dein Schatten sein, dein Träger, der Hüter deiner Geheimnisse.
Ich werde überall sein, wo du bist. Der Demütigste deiner Diener. Und
dann werde ich dich töten. In Erinnerung an mein Land und die
Verbrennungen in meinem Innern."
Von diesem Tag an war Katabolonga der Träger des Goldenen Schemels und
der ständige Begleiter des Königs. Die Jahre vergingen. Tsongor gab sein
kriegerisches Leben auf. Er baute Städte, kümmerte sich um die Erziehung
seiner Kinder, ließ Kanäle ziehen, verwaltete sein Land. Sein Königreich
blühte. Die Jahre vergingen. Langsam begann sich sein Rücken zu beugen.
Seine Haare wurden weiß. Er herrschte über ein riesiges Reich. Pausenlos
zog er umher und wachte über die Seinen. Immer war Katabolonga an seiner
Seite. Katabolonga ging hinter ihm, der Schatten seines Gewissens. Er
war die gebückte Erinnerung an die Jahre des Krieges. Allein seine
Gegenwart erinnerte Tsongor stets an seine Verbrechen und all die
Trauer. Auf diese Weise konnte der König niemals vergessen, was er in
den zwanzig Jahren seiner Jugend getan hatte. Der Krieg war immer
gegenwärtig, in diesem großen mageren Körper an seiner Seite. Der nicht
sprach. Und ihm jeden Moment die Kehle durchschneiden konnte.
Die beiden Männer wurden gemeinsam alt. Im Laufe der Jahre wurden sie
einander zu Brüdern. Die Abmachung von einst schien vergessen. Sie waren
vereint in einer tiefen Freundschaft.
Ohne Worte.
(Aus "Der Tod des Königs
Tsongor" von Laurent Gaudé.
Übersetzt von Angela Wagner.)