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Jede normale Familie braucht ein schwarzes Schaf.
Eine Familie ohne schwarzes Schaf ist keine richtige Familie, denn ihr
fehlt das Element, das sie einerseits in Frage stellt und ihr zum
anderen die Existenzberechtigung verleiht.
Der Onkel ist vierzig und er wohnt in einer Einzimmerwohnung von
dreißig Metern im Quadrat; das ist wie ein Kinderzimmer, aber
ohne Eltern. Die Fläche, die der Onkel belegt, entwickelt sich
umgekehrt proportional zu seinem Alter; als er dreißig war,
lebte er in einer Wohnung von fünfzig Quadratmetern.
Der Onkel würde sich wünschen, dass seine Mutter ihr
leidenschaftliches Interesse an
Krankheiten
und ihr uninteressantes Geschwätz unter den Toten
weiterverfolgen würde. Nicht, dass man sich auf diese Weise
den Splitter aus der Seele zieht - aber das körperliche
Hinscheiden einer Person hat doch seine ausgesprochenen Vorteile.
Der Onkel hat in seinem Leben schon viele erheiternde Schlappen erlebt,
die die Familie in ihren hehren und gerechten Ansichten
bestärken - als da wären Arbeitslosigkeit, Scheidung,
das Ausbleiben von Nachkommen, wilde Ehe mit geschiedenen Frauen oder
missglückte Eingliederung in die Haushalte Alleinerziehender.
Der Onkel hat die besten Schulen besucht, hat aber nie die
Früchte hervorgebracht, die man erwartet hätte. Denn,
seien wir ehrlich, ein Kind ist und bleibt immer eine Investition.
Früher, in der guten alten Zeit, hat die Kindersterblichkeit
dafür gesorgt, plärrende Irrtümer
auszumerzen. Der Vater des Onkels, ein glühender Militarist,
sehnt sich sehr nach jenen glücklichen Zeiten zurück,
da jedes Jahr im Sommer ein Krieg zur Beseitigung des
Überschusses an jungen Männern beitrug. Mit dem
medizinischen Fortschritt und der Verbesserung der hygienischen
Verhältnisse sowie mit einer Abnahme der Konflikte in den
reichen Ländern fällt nun der Familie die Aufgabe zu,
die morschen Zweige heimlich, still und leise zu kappen. Man kann
sagen, was man will - auch wenn es ein Gemeinplatz ist: Eine normale
Familie ist in erster Linie eine Selektionsmaschine, und von Kind zu
Kind zeigt sie sich mehr oder weniger großzügig bei
der Aufnahme eines leibhaftigen Neuzugangs.
Neben dem anstößigen Fehlen von Glück und
Kindern, mit dem die Irrungen des Onkels in seinem gesellschaftlichen
Umgang unleugbar bestraft wurden, vereinigt er auch noch eine Reihe
typischer Laster in seiner Person. Er raucht ungefähr zwei
Schachteln am Tag, das sind - wenn man davon ausgeht, dass er auch mal
schläft - zweieinhalb Zigaretten pro Stunde. Er trinkt. Er ist
antriebsschwach. Er ist sexbesessen.
Indem sich der Onkel seinen Reproduktionspflichten verweigert hat -
oder sie ihm verweigert wurden? - und indem er vor den Seinen das
besorgniserregende und zugleich wünschenswerte Image des
exotischen Abweichlers pflegt, verkörpert er ganz hervorragend
das berühmte schwarze Schaf, das für das
Gleichgewicht der Familie so unentbehrlich ist.
Er ist Sohn und Onkel, er hat Nichten und Neffen, doch er kann
mitnichten von sich sagen, dass er Vater wäre, auch wenn ihn
der Kinderwunsch
mit vierzig Jahren fast genauso umtreibt wie eine Frau. Doch in diesem
Alter stößt ein Mann an eine Grenze, die freilich
nicht körperlicher, sondern symbolischer Natur ist.
Eines Vormittags im Februar, während er diese Zeilen schreibt
und mit Hochgenudd ein Bierchen schlürft, überkommt
ihn das altbekannte und freudige Gefühl, dadd er trotz allem
recht hat. Es ist Mittag. Die Sonne scheint. Das kühle Bier
rinnt ihm durch Herz und Seele.
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Womit beginnen?
So fangen die schlechten, die missratenen Bücher an. Doch mit
zunehmendem Alter und mit der wachsenden Sicherheit, gewisse
Qualitäten zu besitzen, lassen sich Klischees nun mal
gefahrlos heranziehen.
Der Onkel hatte nämlich Qualitäten. Zumindest wird
dieser Mythos hinter vorgehaltener Hand aufrechterhalten. Eine Familie,
die sich für außergewöhnlich hält,
bringt zwangsläufig ein ganz
außergewöhnliches schwarzes Schaf hervor. Der Onkel
ist womöglich der größte Erfolg seiner
Familie, eine sehr langfristige Investition mit minimalem Risiko. Wie
oft musste er sich anhören, dass er im Bereich des geistigen
Schaffens dieses und jenes hätte leisten können? Doch
der Onkel hat keinerlei Ehrgeiz, seine morgendlichen Vorsätze
verwehen wie Sand im Abendrot. "Träge und wehrlos" ist seine
Seele, wie es ein beneidenswerter Portugiese ausdrückte -
Opiumraucher, Dichter und Verfasser eines einzigen Gedichtbandes; er
ließ es sich um 1900 in Macau, in Gesellschaft einer Chinesin
und einer Tuberkulose, ausgesprochen gutgehen.
Sehen wir uns nun eine normale fünfköpfige Familie
an. Mit Erstaunen stellen wir fest, dass von den drei Söhnen
lediglich einer für Nachwuchs gesorgt hat. Welche Familie kann
sich schon einer solchen Hoffnungsfreude, eines solchen Lebensdranges
rühmen? Um zwei Menschen hervorzubringen, mussten mindestens
sechs Personen zusammenarbeiten, und es brauchte die Hilfe einer
großmütigen Gebärerin, die man notgedrungen
angeschleppt hatte. Doch vielleicht muss man zu den Bedingungen, die
eine so außergewöhnliche Produktivität
begünstigten, auch noch die Zehntausende wissenschaftlicher
Werke und die dreißig Jahre, im wesentlichen
dreißig männlichen Jahre, mehr hinzuzählen,
über die dieser schillernde Ameisenhaufen insgesamt
verfügt.
Jeder Mensch hat merklich eine Tendenz, über andere zu
urteilen - im allgemeinen negativ - und sich über sie zu
stellen. Ein Mensch mit so einer Haltung will natürlich andere
beherrschen oder zumindest in dem Glauben leben, dass er sie
beherrscht. In dieser Hinsicht ist die Familie des Onkels eine sehr
leistungsstarke Produktionsstätte für Urteile und
Hierarchien. Ihr Gebiet ist die Geisteskraft, bei anderen Familien ist
es Geld, Macht oder soziale Stellung. Manchmal sind auch alle Faktoren
in einer Familie vereint. Die intellektuelle Koryphäe in der
Familie des Onkels ist der Erstgeborene, auf ihn konzentrieren sich
alle Investitionen. Die Familie hockt auf ihrem Felsen wie in einem
Zoo, sie schleudert den Bannfluch und nimmt Anteil an den
Fehlschlägen; die Welt gliedert sich in
Aufnahmeprüfungen, Eliteuniversitäten, edle
Fächer und niedere Fächer, Titel und
Karrieren ...
Ein Beispiel: Sie sind Lehrer. Um den Olymp zu erklimmen, von dem aus
man Sie gütig und etwas spöttisch betrachtet,
müssen Sie gewisse Kriterien erfüllen, die zumindest
in den Augen Ihres Richters allesamt banal erscheinen: dieses
Auswahlverfahren, jenes Fach, einschließlich Griechisch und
Latein, diese angesehene Schule, jener Titel. Gehen wir nun davon aus,
dass Sie diese Hürden genommen haben - dann hört man
Ihnen plötzlich zerstreut und mit einem bedauernden
Lächeln zu, wenn sich herausstellt, dass sich Ihre angesehene
Schule nicht in dieser oder jener Straße befindet, an die man
gedacht hatte ... In welcher Straße? In der Straße.
Aber egal ... Gehen wir des weiteren davon aus, dass Ihre Schule
tatsächlich in dieser berühmten Straße
liegt, dann haben Sie alle Sympathien gewonnen, und man gibt sich
locker kameradschaftlich. Doch Ihnen steht eine zweite Befragung bevor.
Spüren Sie schon Mitleid bei Ihrem Gegenüber? Dann
liegt es daran, dass Ihr Werdegang und Ihre Veröffentlichungen
zwar ganz nett sind, aber ziemlich weit von dem entfernt, was man sich
hier unter Elite vorstellt - einer Elite, die so kümmerlich
ist wie das Herz dessen, der so denkt.
Daraus kann man folgern, dass der Onkel Verlierern, Verletzten,
Verwundeten und Verwaisten aller Art zugetan ist. Er war
übrigens mit einer Frau verheiratet, die den ausgesprochenen
Vorteil besaß, keine Familie mehr zu haben. Sie kam aus
Polen. Sie war sehr schön und sie war sehr verletzlich. Die
Familie des Onkels schätzte diese Frau
außerordentlich und nannte sie liebevoll "die Polin" - aus
dem einleuchtenden Grund, weil nämlich alle Polinnen gleich
sind; bekanntermaßen kommen sie nur nach Frankreich, um zu
heiraten. Die Familie der "Krankenschwester" wiederum - der
Nachfolgerin der "Polin" - mochte der Onkel so gerne, weil sie in
krassem Gegensatz zu seiner Familie stand; das bestausgebildete
Mitglied dieser Familie war ebendiese Krankenschwester, ein anderes war
Verkäuferin oder Tippse, ein drittes Mechaniker. All diese
netten Leute lebten in der Provinz, sie pichelten tapfer, sie machten
herrliche Fehler auf Französisch, sie hatten ein gutes Herz,
und insgesamt war diese Familie genauso kaputt wie die Familie des
Onkels, nur eben auf andere Weise. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte
der Onkel Schwäger. Und wer noch nie Schwäger hatte -
etwas ungehobelte Männer, mit denen man trinken und
zweideutige, geschmacklos-derbe Witze reißen kann -, der
kennt die Liebe und das Leben nicht.
Vielleicht, so könnte man meinen, ist der Onkel an diesem
ungewissen Beginn seiner Odyssee nur verdrossen, vielleicht ist er
störrisch oder schroff. Sicherlich ... Aber er betrachtet sich
auch als eine Art wohlwollenden und rebellischen Schicksalsgott, der
von ferne über das Los der Seinen wacht und um so mehr mit
ihnen in Einverständnis steht, als er aus dem gleichen
erbärmlichen und so schrecklich menschlichen Holz geschnitzt
ist.
(...)
Niemand kann dauerhaft in einer Paarbeziehung leben. Wer es dennoch
schafft, ist kein hoffnungsfroher Heiliger, sondern ein zutiefst
depressiver Mensch. Das ist eine Gewissheit, auf die man ruhig bauen
und von der man sich klares Geleit erhoffen kann, egal, ob sich dieser
Weg nun als gut oder schlecht erweist.
Innerhalb von zehn Jahren hat der Onkel zwei emotionelle
Selbstmordversuche
begangen. Was ist ein emotioneller Selbstmordversuch? Er zeichnet sich
zunächst durch eine ungewöhnlich lange Dauer aus.
Wenn der Onkel sein Leben und vor allem die letzten zehn Jahre
betrachtet, sieht er eine groteske Ehe mit einer interessanten Polin;
die Ehe hat ungefähr vier Jahre gehalten, was für den
Onkel einen Rekord bedeutet. Der zweite Versuch mit einer geschiedenen
Frau, die mit drei Kindern und einer schönen Terrasse gesegnet
war, hat fast genauso lange gedauert, war aber von zahlreichen
Trennungen durchzogen.
Dem kann man entnehmen, dass die vollkommensten emotionellen
Selbstmordversuche das ganze Leben zweier Menschen in Anspruch nehmen,
die am Anfang einmal beide normal waren. Zu gerne zitiert der Onkel die
enthüllenden und auf herrliche - oder hellsichtige - Weise
naiven Sprüche berühmter Selbstmörder,
Sprüche, die sowohl für sie selbst gelten als auch
für die bereitwilligen Opfer, die sie in alten Zeiten einmal
aufs Korn genommen hatten, Opfer, an die sie sich nicht mehr erinnern
und daher glauben, sie lebten mit einem Gespenst oder einem gebrauchten
Werkzeug zusammen, das nur noch lästig ist. Den ersten Spruch
vernahm der Onkel am Familientisch; es war die brillante Rede seiner
Mutter, die munter vor ihren Kindern und ihrem von
Schwerhörigkeit geschlagenen Mann erklärte: "Wenn ich
euren Vater nicht getroffen hätte, hätte ich mir
einen Pudel
gekauft." Das zweite Zitat ist bekannter, man findet es ansatzweise
auch bei Freud; es wurde dem Onkel von seinem besten Freund
übermittelt, dessen Großmutter über ihren
Mann und sich selbst immer wieder gesagt hatte: "Wenn einer von uns
beiden stirbt, kaufe ich mir einen Fernseher." Die Gemeinsamkeiten
dieser Zitate
liegen auf der Hand: In beiden Fällen ist der Lebenspartner
zur Unterhaltung da. Er ist völlig beherrschbar und er ist
austauschbar, denn die Lebenserwartung eines Pudels und eines
Fernsehers ist in etwa gleich.
Ein emotioneller Selbstmord besteht also darin, lange Zeit mit einem
Menschen zusammenzuleben, der Ihnen nur wenig Befriedigung schenkt.
Bestenfalls besprechen Sie mit ihm, was es abends zu essen gibt, und
tun so, als würde Ihnen das kindliche Freude bereiten. Sie
erzählen ihm von Ihren Hobbys oder einfach nur von Ihrer
Arbeit, und im geheimen stellen Sie sich die gleiche Frage wie er: Wann
werde ich ihn verlassen? Bestenfalls waren Sie ein paar Wochen oder ein
paar Monate verliebt. Und dann benutzen Sie den anderen wie ein
sexuelles Werkzeug, das Ihnen gelegentlich und eher zufällig
Lust schenkt. Und ein jeder sagt sich, dass seine Unzufriedenheit daher
rührt, dass der andere ihn auf Discount liebt.
(Aus dem Roman "Säugetiere" von Pierre
Mérot.
Aus dem Französischen von Gaby Wurster.)
Eine bitterböse
Gesellschaftssatire aus der Sicht eines typischen "schwarzen Schafs"
der Familie: Ein vierzigjähriger Single frönt
ungehemmt seiner Lust an
Alkohol,
Zigaretten und Sex
und wettert gegen seine angepassten Zeitgenossen. Der von
Frédéric
Beigbeder entdeckte Roman ist ein Lesevergnügen
für Freunde des abgründigen Humors.
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