In den letzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts, die der französischen Revolution vorausgingen, hielt am Fuß der Cevennen in einem kleinen Ort des Forez ein Kapuziner die Abendgottesdienste ab. Man schrieb den ersten Fastensonntag. Matt fiel das Tageslicht in die Kirche, noch zusätzlich verdüstert von den Schatten der Berge, die diesen außergewöhnlichen Marktflecken umgeben, ja gar umklammern und die, schroff hinter seinen letzten Häusern aufragend, wie die Wände eines Gefäßes wirken, auf dessen Boden er gesunken wäre. Vielleicht wird manch einer ihn an diesem originellen Detail wiedererkannt haben... Jene Berge glichen einem umgekehrten Kegel. Man stieg zu dem kleinen Ort die steilen Serpentinen eines Wegs hinab, der sich wie ein Korkenzieher um sich selbst drehte und von unten gesehen mehrere, in verschieden hohen Etagen aufgehängte Balkone bildete. Die, die in diesem Abgrund lebten, mußten zweifellos so etwas wie das beängstigende Gefühl verspüren, das eine arme Fliege überkommt, die in die - für sie ­ gewaltige Tiefe eines leeren Glases gestürzt ist und die mit ihren nassen Flügeln aus dieser kristallenen Fallgrube nicht mehr zu entkommen vermag. Es gibt wohl nichts Trostloseres als diesen Marktflecken, trotz des Smaragdgrüns seines Gürtels aus bewaldeten Bergen und der Bäche, die überall rauschend entspringen und deren kochendes Silbergebrodel Unmengen von Forellen mitschwemmt. So viele gibt es davon, daß man sie mit der Hand greifen könnte... Die Vorsehung hat gewollt, daß aus allerhöchsten Gründen der Mensch das Stück Erde liebe, auf dem er geboren ist, genauso wie er seine Mutter liebt, und wäre diese auch seiner Liebe unwürdig. Andernfalls könnte man kaum verstehen, wie breitschultrige Männer, die Luft zum Atmen um sich herum brauchen, einen offenen Horizont und Raum, sich in diesem engen Trichter verkriechen können, umringt von Bergen, die sich gegenseitig auf die Füße zu treten scheinen, so gedrängt stehen sie einer neben dem andern, ohne weiter hinaufzusteigen, um frei zu atmen; und unweigerlich muß man an Bergarbeiter denken, die unter Tage leben oder an jene Klosterinsassen früherer Tage, die, in düsteren Verliesen eingekerkert, jahrelang vor sich hin beteten. Was mich betrifft, so habe ich dort achtundzwanzig Tage gelebt, im Zustand eines niedergeschmetterten Titanen und unter dem physisch erdrückenden Eindruck dieser unerträglichen Berge, und wenn ich daran zurückdenke, fühle ich ihr Gewicht noch immer auf meiner Brust lasten. Ohnehin schon von der Zeit geschwärzt, denn die Häuser dort sind alt, wird dieses Dorf, das aussieht wie eine Tuschezeichnung und in dem die Adelsherrschaft ihre Ruinen hinterlassen hat, noch zusätzlich - schwarz auf schwarz - von den lotrechten Schatten der Bergketten verdunkelt, die es umgeben wie die Mauern einer Festung, die die Sonne nie zu erklimmen vermag.

Sie sind zu schroff, als daß die Sonne sie überwinden und einen Strahl in dieses Loch, das sie öffnen, hinabschicken könnte. An manchen Tagen ist es dort um die Mittagszeit noch nicht hell. Dort hätte Byron sein Darkness schreiben können. Dort hätte Rembrandt seine Helldunkel malen können, eher noch hätte ihm dort die Eingebung dazu kommen können. Selbst schöne Sommertage müssen die Bewohner in Zweifel ziehen, wenn sie das kleine blaue Fensterchen tausend Fuß über ihren Köpfen betrachten. Aber an jenem Tag war das Fensterchen nicht blau. Es war grau. Die schweren Wolken verschlossen es wie ein eiserner Ring. Die Flasche war verkorkt.
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Er war ein Mann in den besten Jahren, robust und mit einem kurzen Bart, gelockt wie der des antiken Herkules und von dunklem Bronzeton. Er erinnerte an den noch unbekannten dreißigjährigen Sixtus Quintus. Agathe Thousard, die alte Zugehfrau der Damen de Ferjol hatte ihm, wie es der Respekt in frommen Häusern gebietet, im Korridor alles bereitgestellt, um sich die Füße zu waschen, und diese Füße, die jetzt frisch aus dem Wasser kamen, glänzten in ihren Sandalen, als seien sie aus Marmor oder aus Elfenbein und von Phidias geformt. Er grüßte die Damen sehr vornehm nach orientalischer Weise mit über der Brust gekreuzten Armen, und für niemanden, selbst nicht für Voltaire, hätte er jenen verachtungsvollen Beinamen "Schwarzkittel" verdient, mit dem man damals seinesgleichen titulierte. Auch wenn die roten Knöpfe eines Kardinalsmantels wohl nie seine Kutte zieren würden, wirkte er doch wie gemacht, sie zu tragen. Die Damen, die von ihm lediglich die Predigerstimme gekannt hatten, die von der Kanzel in jene Kirche hinabfiel, in der der Vorhang abendlicher Dunkelheit wehte, fanden, als sie ihn erblickten, daß seine Erscheinung und seine Stimme perfekt zueinander paßten. Da man die Fastenzeit schrieb, und da dieser Mann der Armut und Abstinenz darüber predigen und sie versinnbildlichen würde, reichte man ihm die für die Fastentage vorgeschriebene Vesper, die aus in Öl eingelegten Bohnen bestand, sowie aus Sellerie und Kohlrabisalat mit Anchovis, Thunfisch und marinierten Austern. Er griff herzhaft zu, wies jedoch den Wein, den man ihm anbot, zurück, obwohl es sich um einen katholischen Wein handelte, einen alten Château du Pape. Bei den Damen erweckte er den Eindruck, sowohl den Geist wie auch den Ernst seines Standes zu besitzen, ohne dabei geziert oder gleisnerisch zu sein. Sobald er die Kapuze, unter der er eingetreten war, auf die Schultern zurückgeschlagen hatte, ließ er den Hals eines römischen Prokonsuls und einen enormen Schädel erblicken, der glänzte wie ein Spiegel und den eine leichte Haarkrone umgab, die denselben Bronzeton hatte wie sein Bart und ebenso lockig war. Alles, was er zu den beiden Frauen sagte, die ihn beherbergen würden, war Ton und Wort eines Mannes, der die Gastfreundschaft gewohnt war, welche die höchste Gesellschaft jenen Bettlern in Christo offeriert, die niemals in irgendeinem Milieu deplaziert sind und die die Religion den Höchsten dieser Welt von gleich zu gleich begegnen läßt. Gleichwohl erweckte er die Sympathie weder der einen noch der anderen Dame de Ferjol. Sie fanden, daß ihm die Einfachheit und die Jovialität abgehe, die ihnen bei anderen in den vergangenen Jahren aufgenommenen Fastenpredigern begegnet waren. Er beeindruckte, brachte aber auch gegen sich auf. Warum konnte man sich in seiner Gegenwart nicht entspannt fühlen?... Es war unmöglich, das genau herauszufinden, aber es lag in dem kühnen Blick dieses Mannes und vor allem im Bogen seines Mundes unter dem Schnauzer seines kurzgeschnittenen Bartes eine unglaubliche und beängstigende Unverfrorenheit... Er wirkte wie einer jener Männer, von denen man sagt: "Er war zu allem fähig." Eines Abends, während Madame de Ferjol ihn nach dem Abendessen im Schein der Lampe betrachtete - mittlerweile hatte sich eine gewisse Vertrautheit zwischen ihm und den Damen de Ferjol hergestellt, deren Tischgenosse er war - sagte sie gedankenvoll zu ihm: "Wenn man Sie so ansieht, Pater, ist man fast versucht, sich zu fragen, was Sie wohl sein würden, wenn Sie kein heiliger Mann geworden wären." Er zeigte sich von dieser Bemerkung nicht im geringsten schockiert. Er lächelte dazu. Aber welch ein Lächeln war das... Nie würde Madame de Ferjol dieses Lächeln vergessen, das einige Zeit später eine solch entsetzliche Überzeugung in ihr Herz brennen sollte.
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Und es war da. Es war offenbar, daß Lasthénie litt. Sie bekam Ringe unter den Augen. Das Maiglöckchenweiß ihres Teints bröckelte, und die Falte zwischen den Brauen auf ihrer Opalstirn war etwas anderes als nur das Echo einer Träumerei, die kommt und geht... Sie drückte mehr aus. Ihr äußerliches Leben hatte sich nicht gewandelt. Es bestand noch immer aus der gleichen Routine häuslicher Beschäftigungen, den gleichen Nadelarbeiten am Fenster des gleichen Erkers, den gleichen Kirchenbesuchen mit ihrer Mutter und, ebenfalls mit ihrer Mutter, einigen Spaziergängen am Fuß der Berge entlang, über die grünen Hänge, auf denen die Bächlein glitzerten, die, je nach Jahreszeit, an- und abschwellen, aber nie aufhören, zu Tal zu rinnen. Die beiden gingen oft an späten Nachmittagen spazieren ­ die Stunde, wo man überall auf Erden spazierengeht. Nur taten sie es nicht wie die glücklicheren Bewohner der Ebenen und Meeresufer, um den Sonnenuntergang zu sehen. Es gab keine Sonne in diesem Landstrich zwischen den Bergen, die ihn ewig vor ihren Strahlen abschirmten. Von den Gipfeln aus hätte man sehen können, wie sie am Horizont unterging, aber bis dort hin hätte man hinaufsteigen müssen, und das war recht hoch!... Selbst auf ihren längsten Ausflügen gingen die Damen kaum die halbe Wegstrecke. In diesen Bergen aus fetter Erde, die nichts von der Kargheit und der warmen Röte der Pyrenäen haben, herrschte abends eine besondere Stimmung: der Wiesenteppich, der sie bedeckte, die kugeligen, hier und da hochwuchernden Büsche, die kräftigen Bäume, die sich auf ihren Hängen niederbeugen, krümmen und die vom Wind zerzaust sind, eine Stimmung, die gut, die vielleicht sogar ein wenig zu gut, den Gedanken und Eindrücken der beiden traurigen Spaziergängerinnen entsprach. Die einfallende Nacht, in der die Sterne aufblinkten, dunkelte das blaue Rund, das sie über ihren Köpfen hatten, noch stärker ein, und wenn ein Mond da war, so beleuchtete dieser Mond, den man nicht sehen konnte, mit einem blassen milchigen Schimmer den ärmlichen Himmelsausschnitt, der dem suchenden Blick bestätigte, daß es überhaupt einen Himmel gab... Wie alle Landschaften abends etwas Irreales bekommen, so auch diese. Die kreisförmig angeordneten Berge, deren Gipfel sich fast zu küssen schienen, mochten auf die Vorstellungskraft wie ein Ring gigantischer, aufrecht stehender Feen wirken, die einander leise ins Ohr flüsterten wie Frauen, die gegen Ende eines Besuchs schon aufgestanden sind, sich bei den letzten Sätzen, die sie sich sagen, umarmen und dann gehen. Und das um so mehr, als die Dämpfe, die aus dem Boden und all den Wasserläufen stiegen, die durchs Gras flossen, die von den silbernen Zierborten der Bäche gesäumten weiten grünen Kleider dieser gigantischen Feen mit einer Art weißen Burnus perlmuttschimmernden Nebels umhüllten. Nur gingen sie nicht. Sie verharrten am selben Ort, und waren am folgenden Tag noch immer da... Die Damen de Ferjol kehrten von diesen abendlichen Spaziergängen meist erst zu der Stunde zurück, wenn sie zu ihren Füßen das Angelusläuten aufsteigen hörten, vom Grund des kleinen Tals her, in dem die schwarze romanische Kirche kauerte, deren Geläute in Dantes Worten "die Agonie des sterbenden Tages" anzeigte. Da stiegen sie in den schattenschweren Ort hinab und betraten jene Kirche, die an eine Grabkammer erinnerte und wo sie regelmäßig ihr Gebet aufsagten, bevor sie zu Abend aßen. Von Zeit zu Zeit wagte Lasthénie sich allein auf einen solchen Spaziergang, wenn Madame de Ferjol aus irgendeinem Grund im Haus zurückgehalten wurde. Darin lag nichts Unvorsichtiges. Die Gegend war sicher, und ihre Sicherheit lag vor allem in ihrer Abgeschiedenheit. Kaum je geriet ein Unbekannter oder Verdächtiger in dieses Loch, das von allen Seiten hermetisch abgeriegelt war und wo, wie eine Art Höhlenbewohner eine seßhafte Bevölkerung lebte, von der viele nie aus diesem Ring von Bergen herausgekommen waren, als halte ein seltsamer Zauber sie im Mittelpunkt dieses dunkel verwunschenen Zirkels gefangen! (...)


(Aus dem Roman "Finsternis" von Jules Barbey d'Aurevilly.
Aus dem Französischen von Michael Kleeberg.)

Mit diesem Roman befindet sich der Autor der "Teuflischen Geschichten" im Zentrum des Höllenkreises. Im ausgehenden 18. Jahrhundert nehmen im bergumschlossenen Forez am Fuß der Cevennen Madame de Ferjol und ihre aufblühende Tochter anlässlich der Fastenzeit für mehrere Wochen einen wandernden Mönch bei sich auf, wie es in den wohlhabenden Häusern jener Zeit Brauch war. Der Prediger und Beichtvater pflanzte nicht nur die Furcht Gottes sondern die Hölle in die Herzen der beiden Damen de Ferjol. Dies ist der Ausgangspunkt einer Muttertochterbeziehung, die in ihrer Gnadenlosigkeit wahre Abgründe berührt. Aus scheinbar unbedeutenden Anzeichen einer Verfehlung entwickelt sich ein unentrinnbares Schicksal zweier Menschen, das alles in Frage stellt. Wie das Crescendo einer dramatischen Symphonie steigert der stilistische Perfektionist Barbey d`Aurevilly den Erzählrhythmus bis zur Atemlosigkeit, orchestriert eine Seelenlandschaft der Ausweglosigkeit. "Finsternis" ist ein Schlüsselroman des Fin de siècle, 1883 als Spätwerk geschrieben, öffnet es den Blick für das Undenkbare. (Manholt)
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