Schule

»... öffne dich, goldene Tür«, rief der Prinz.
Schwingt die Tür zur Seite auf, kannst Du leicht eintreten.
Ö ffnet sich die Tür aber nach oben oder nach unten,
wirst Du von ihr emporgerissen oder zerdrückt.
Bist Du gebildet, kleiner Prinz,
wirst Du das Scharnier schneller verstehen.
Baabar

Mit dem Eintritt in die Schule begann für mich gleichzeitig das Ende der Märchenzeit, durch die meine Großmutter mich als Geschichtenerzählerin begleitet hatte. Als Schülerin mußte ich die Erfahrung machen, daß die Märchenzeit nicht etwa ein unendlicher Zustand in der Menschheitsgeschichte ist, sondern daß sie mit einemmal schmerzlich rasch zu Ende sein kann.
Da meine Eltern beide berufstätig waren und ich noch schlief, wenn sie morgens zur Arbeit gingen, kam ich ungekämmt zur Schule. Mit Schleife und Kamm in den Händen übernahm nun die genervte Lehrerin das Flechten meines Zopfes; meine Großmutter, die zu jener Zeit starb, konnte es ja nicht mehr tun.
Ich liebte meine Schuluniform, schlüpfte mit ihr jeden Tag in diese besondere und doch gemeinsame Rolle und genoß das Gefühl, ein Mädchen von vielen zu sein. Ich erfuhr keinen Neid, keine Konkurrenz, ganz im Gegensatz dazu, wie ich es heute bei meiner Nichte erlebe, die ohne Schuluniform aufwächst und dadurch einen viel individuelleren Auftritt hat.
Zu meiner Schulzeit Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war das Wort »Analphabet« in der Mongolei ein Fremdwort. Vor der politischen Wende im Jahr 1989 lag die Quote der Analphabeten bei nahezu null Prozent, was außergewöhnlich für ein Nomadenvolk ist.
Das mongolische Schulsystem hat große Teile aus dem russischen Schulsystem übernommen, es gibt einige Sonderregelungen für die Kinder der Nomadenfamilien auf dem Land.
Heute ist jedes Kind ab seinem sechsten oder siebten Lebensjahr schulpflichtig. Früher gingen die Kinder der Nomaden häufig erst mit neun oder zehn Jahren in die Schule, da fast alle Schulen in den Zentren gelegen sind. Der tägliche Schulbesuch bedeutet für die Kinder, daß sie nicht mehr zu Hause leben können, weil die Entfernungen viel zu weit sind, als daß sie sie regelmäßig hinter sich bringen könnten. Die wenigen Nomadenfamilien, die die Gelegenheit haben, ihre Kinder bei Verwandten unterzubringen, ziehen diese Möglichkeit dem Internat vor, denn die Trennung von der Familie ist auch für die Nomadenkinder nicht einfach.
Die Schulausbildung ist kostenlos, aber die Unterbringung im Internat muß durch die Eltern finanziert werden. Meistens begleichen die Eltern einen Teil der Summe, indem sie einen Beitrag in Form von Tieren, Fleisch oder anderen Rohstoffen leisten. Anders als für uns Stadtkinder waren für die Schulkinder auf dem Land neben den großen Sommerferien, die von Juni bis September dauerten, bereits im März vier Wochen schulfreie Zeit eingerichtet. Das lag daran, daß im Frühling alle Jungtiere in den Herden geboren werden und die Familien zu dieser Zeit ihre Kinder als Arbeitskräfte im Lager benötigten.
Ich kenne die Einteilung in Hauptschule, Realschule oder Gymnasium aus meiner Schulzeit nicht. Jedes Schulkind besucht drei Jahre lang die sogenannte Grundklasse, drei Jahre die Mittelklasse und anschließend die Oberklasse bis zur achten Klasse. Wenn ein Schulabgänger die Universität in Ulaanbaatar besuchen möchte, muß er bis zur zehnten Klasse zur Schule gegangen sein.
Um an Universitäten in Deutschland zum Studium zugelassen zu werden, mußte ich einen Nachweis von mindestens zwei Studienjahren an der mongolischen Universität vorlegen, um die fehlenden Schuljahre auszugleichen.
Heute existiert dieses Modell noch immer an allen staatlichen Schulen. Die im Lauf der vergangenen fünfzehn Jahre entstandenen Privatschulen richten sich nach verschiedenen westlichen Schulmodellen: dem französischen Lycée, der amerikanischen Highschool oder dem deutschen Gymnasium.
Ein wesentlicher Aspekt des neuen Lebensabschnittes, der für mich mit der Schulzeit begann, war, daß ich mich nun bis zur Mittelklasse jeden Tag von dreizehn Uhr bis etwa achtzehn Uhr in der Schule aufhalten mußte. Während der Vormittage nutzten die höheren Klassen die Schulräume.
Nachdem die Lehrerin keinen Zweifel daran gelassen hatte, daß sie nicht jeden Tag meine Haare flechten wollte, entschloß sich mein Vater, mir die Haare abzuschneiden. Nie hätte meine Großmutter zugelassen, daß jemand meinen Zopf, der mich vor bösen Geistern schützen sollte, einfach so abschnitt.
Mit den Haaren fiel das letzte Stück meines Glaubens an eine Märchenzeit. (...)


aus:
Byambasuren Davaa; Lisa Reisch: "Die Höhle des gelben Hundes – Eine Reise in die Mongolei"
Wie in ihrer berührenden »Geschichte vom weinenden Kamel« zeigen Byambasuren Davaa und Lisa Reisch eine Nomadenfamilie in der Mongolei, den besonderen Bund zwischen Mensch und Tier – und ein faszinierend ursprüngliches Leben, dessen Tage längst gezählt sind.
Ihre »Geschichte vom weinenden Kamel« ist das berührendste Kinoerlebnis und der Überraschungserfolg des vorigen Jahres. Auch in ihrem ersten Buch bringt uns Byambasuren Davaa gemeinsam mit Lisa Reisch den faszinierend fremden Alltag der letzten nomadisch lebenden Mongolen nahe, wie sie ihn selbst in ihrer Kindheit noch kennengelernt hat: Sie erzählt vom freien Leben in der Steppe, von der sechsjährigen Nansaa, die zum erstenmal gegen ihren Vater rebelliert, als sie einen streunenden Hund zu sich nimmt – und von den Gefahren, denen sie ihre Familie dadurch aussetzt. Voller Poesie und dokumentarischer Präzision eröffnet dieses Buch Dimensionen, die weit über den Film hinausgehen. Eindrucksvoll zeigen Davaa und Reisch das Miteinander der Generationen in einer Jurte, die unerhört reichen Traditionen ihrer Landsleute und ihre alles bestimmende Achtung vor der Natur.
Byambasuren Davaa, in Ulan Bator geboren, lebt seit sechs Jahren in München, wo sie an der Hochschule für Fernsehen und Film studiert. Ihre »Geschichte vom weinenden Kamel«, der Überraschungserfolg bei Publikum und Kritik, brachte ihr eine Oscar-Nominierung für den besten Dokumentarfilm ein.
Lisa Reisch, Studentin der Ethnologie und Dokumentarfilmregie an der HFF München, arbeitete als Regieassistentin eng mit Byambasuren Davaa an »Die Höhle des gelben Hundes« zusammen. (Malik)

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