Giuseppe Genna: "Fass nicht an die Haut des Drachen"
Rasanter
Thriller um Macht, Drogen, Menschenhandel und rätselhaftes
"Frischfleisch"
Guido Lopez hat sich für die Mitarbeit bei der neu
gegründeten Europäischen Sicherheitsagentur
qualifiziert. Sein erster Auftrag entpuppt sich als
Enttäuschung: Er soll eine verbrauchte, psychisch kranke
Jet-Set-Dame von Zürich zu ihrem Mann nach Italien
chauffieren. Die unter Beruhigungsmitteln stehende, offensichtlich
unter Todesangst leidende Frau
fantasiert während der Fahrt vor sich hin; Lopez versteht nur
einige Stichwörter: "der Chinese", "De Vlaeminck", "verbrennen
im Badezimmer", "verschwundene Leichen" und immer wieder
"Frischfleisch".
Am nächsten Tag werden die Frau und ihr Mann ermordet
aufgefunden. Lopez stößt auf immer neue
Ungereimtheiten, als er der Sache nachgeht. Entgegen den Anweisungen
seines Vorgesetzten leitet er umfangreiche Untersuchungen ein.
Ein weiterer Haupthandlungsstrang beinhaltet die sich
überschlagenden Ereignisse um den in Peking lebenden
Ex-CIA-Mann James Cameron, der mit Duldung der
CIA
und des chinesischen Geheimdienstes in gewaltigem Umfang
Opium nach Europa und Amerika exportiert. Bei der Übergabe von
Ware an einen mysteriösen französischen
Geschäftspartner tötet dieser Camerons Compagnon
durch einen Sprengstoffanschlag, ohne zu wissen, dass Cameron selbst
unversehrt blieb.
Cameron hat nichts mehr zu
verlieren und heftet sich an die Fersen des Franzosen, um Rache zu
nehmen. Die Spur führt
nach
Monaco und zu einem, der mächtiger ist, als
Cameron angenommen hat. Es geht um "Frischfleisch" und um Geldmengen,
die den Drogenhandel lächerlich aussehen lassen.
In Monaco trifft schließlich auch Lopez ein. Aber weder er
noch Cameron ahnen zunächst, was dem Leser vermutlich schon
relativ früh dämmert, nämlich welcher Art
das Frischfleisch ist, mit dem sie immer wieder konfrontiert werden.
Lopez gelingt es, einen gewaltigen Schlag gegen die
"Frischfleisch"-Mafia einzuleiten. Haben sie dem Drachen wirklich eine
tödliche Wunde versetzt? Diese Frage bleibt offen.
Die aufgrund der zwei Haupt- und diversen
Nebenhandlungsstränge stark zersplitterte Handlung wird rasant
vorangetrieben. Nur der allgegenwärtige, im Kontext
rätselhafte Begriff "Frischfleisch" - wie erwähnt,
kann der politisch interessierte Leser sich allerdings rasch denken,
worum es geht - vereint zunächst die Handvoll Menschen, die
leidenschaftlich nach der Lösung des Rätsels suchen
und sich dabei in ein Spinnennetz zu verstricken scheinen. Wer ist die
Spinne? Schwer zu erfassen, fast ein Schemen, stellt sie sich dem Leser
vor, instrumentalisiert auch jene, die sie jagen. Die Handlung ist so
fulminant, dass der Autor weitgehend auf "tote Enden" verzichtet,
andernfalls würde sie ohnehin zu komplex. Charaktere und Orte
werden klar gezeichnet und anschaulich geschildert. Allerdings
irritiert das allzu "machohafte" Frauenbild ein wenig: Warum sind
eigentlich alle Frauen in diesem Roman Huren, pervers,
Verräterinnen oder alles davon?
Nicht minder verwunderlich ist die häufiger anzutreffende
Verwechslung oder Gleichsetzung von "Koks" und "Opium",
denn die Prämisse, der Status Kolumbiens als Drogenexporteur
Nummer Eins sei ein bewusstes Konstrukt der USA, wo doch der Westen 90
Prozent seines Opiums (als Rohstoff für Heroin) aus China
bezöge, wirkt hier, milde ausgedrückt, konfus.
Insgesamt handelt es sich dennoch um einen sehr spannenden, gut
konstruierten Thriller mit interessanten, glaubwürdigen
Protagonisten, der sich aktueller Probleme und eines keineswegs
unrealistischen Szenarios annimmt.
(Regina Károlyi; 12/2006)
Giuseppe
Genna: "Fass nicht an die
Haut des Drachen"
(Originaltitel "Non toccare la pelle del drago")
Aus dem Italienischen von Luis Ruby.
dtv, 2007. 459 Seiten.
Buch
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Giuseppe Genna wurde 1969 in Mailand geboren. Lien zu seiner Netzseite: https://www.giugenna.com/.
Leseprobe
Monte Carlo - Fürstentum Monaco
Avenue Ostende 16/A
6. Dezember 1999, 04:20
Die menschliche Fackel tappt durch das von ihr erleuchtete Dunkel.
Was da in den Flammen auf die Tür zustolpert und mit den
Fäusten dagegen schlägt, war einmal ein Mensch und
wird gerade zu einem verkohlten Torso. Es krümmt sich unter
unmenschlichen Schreien und ist im Begriff zu sterben. Hoch lodern die
Flammen, das Haar ist schon geschmolzen, die Haut hängt in
Fetzen herunter. Die menschliche Fackel taumelt gegen die
Wände. Das war einst einer der mächtigsten
Männer der Welt; jetzt ist er eine brennende Puppe, wenn auch
nicht mehr lange. Er schlägt mit den Fäusten gegen
die einbruchsichere Tür. Man kann das Feuer hören.
Die Wasserleitungen explodieren, aber das hilft nichts. Zwei Meter von
dem Mann entfernt liegt die zusammengekrümmte, verkohlte
Leiche seiner Krankenschwester. Die menschliche Fackel nimmt das nicht
mehr wahr. Hilflos und blind rennt sie gegen die Wand, bäumt
sich auf, das Feuer verzehrt ihr Fleisch.
Dieser Mann ist der Multimilliardär Edmond Jaffa. Hier wird
gerade ein Mord verübt. Wo bleibt die Polizei? Wo ist die
Feuerwehr? Wo sind seine Leibwächter?
Noch im Juni hatte das Magazin
"Forbes" die Liste der reichsten Männer der Welt
veröffentlicht. Edmond Jaffa befand sich auf Platz 28. Der
Spekulant George Soros zählt zu seinen Freunden. Der Avvocato
Gianni Agnelli hat ihm seine Immobilie in der Nähe des
Fürstentums verkauft. Der Prinz von England, Philip
Mountbatten, ist ein persönlicher Freund. Viermal hat man ihn
eingeladen, mit darüber zu entscheiden, wer der
nächste Präsident der Vereinigten Staaten werden
soll. Seine Privatbank, die Elite Private Bank, bestimmt das Schicksal
dreier Kontinente. Seine Frau Liza ist eine reiche Erbin, schlau und
rücksichtslos, die ihn nicht liebt, aber gewähren
lässt. Seine Geschwister besitzen Unternehmensbeteiligungen
überall auf der Welt. Der Nobelpreisträger Elie Levi
hat ihn vor Gericht einen Ehrenmann genannt. Shimon Peres
gehört zu seinen Förderern, und er fördert
seinerseits Shimon Peres.
Dieser Mann ist nicht einfach nur
mächtig.
Er ist die Macht
selbst.
Und jetzt verbrennt er im Badezimmer seiner Wohnung in Monte Carlo. Es
ist eine Winternacht, das einbruchsichere Bad misst sechzig
Quadratmeter, auf dem Boden liegt die Leiche seiner Krankenschwester,
und vor der Stahltür wartet das Killerkommando, das ihn
liquidieren soll.
Sein Mobiltelefon liegt unversehrt auf dem Rand der Badewanne. Wie
durch ein Wunder haben die Flammen dem Gerät nichts anhaben
können. Es klingelt, doch das kann die menschliche Fackel
nicht hören, denn Ohren gibt es nicht mehr. Es ist seine Frau
Liza. Sechsmal haben sie telefoniert. Auch die Krankenschwester hatte
ihr Handy mitgenommen, sie rief eine Freundin an, bat sie, die
monegassische Polizei zu rufen. Der letzte Anruf seiner Frau Liza: Komm
raus, draußen ist die Polizei, sie bekommt die gepanzerte
Tür nicht auf. Er hat das Badezimmer nicht verlassen. Wenn die
Polizei wirklich da wäre, wäre auch schon die
Feuerwehr gekommen, das Feuer müsste gelöscht sein.
Er hat sich zwei Stunden lang im Bad verbarrikadiert, dann drangen die
Flammen durch die Sprinkleranlage: Sie hatten von draußen den
Feuerschutz deaktiviert.
Liza bat ihn herauszukommen, doch er hörte nicht auf sie. Er
misstraute ihr. Dann war keine Zeit mehr für Misstrauen. Die
Flammen hatten ihn erreicht.
Die Krankenschwester wurde von dem Gas ohnmächtig.
Komischerweise hat sie stumm das Bewusstsein verloren, kein Schrei
drang aus ihrer Kehle. Er hatte sich in die Badewanne
geflüchtet, wo ihn das eiskalte Wasser vor den Flammen
beschützte, doch dann zerbarst die Leitung, und das Wasser
löschte das Feuer nicht, es verdampfte. Unfassbar, wie schnell
das Wasser verdampft ist. Er wollte aus der Wanne steigen. Das Parkett
stand in Flammen. Dann kam die Stichflamme. Das Gas aus den Leitungen
im Fußboden hatte sich entzündet. Er blieb bei
Bewusstsein. Er konnte einfach nicht fassen, was da gerade geschah. Es
war ein Albtraum. Er lief zur einbruchsicheren Tür und schlug
mit den Fäusten dagegen. Der elektrische
Türöffner reagierte nicht, die Sicherung war
durchgebrannt.
Dann haben sich die Flammen ans Werk gemacht. Sie haben ihn
verschlungen.
Dieser unmenschliche Schrei.
Die Zeit ist abgelaufen. (...)