Lorbeeren

Die Hände in den Schoß gesenket,
ganz still, verlassen und allein
in ihrem kleinen Stübchen sitzet
ein altes, altes Mütterlein.
Das Auge blickt so müd und trübe,
so wehmutsvoll, so lebensmatt;
und in magern Fingern dreht sie
ein altes, welkes Lorbeerblatt.
Ein Lorbeerblatt! vergangne Tage
erwachen neu in ihrem Sinn,
gar viele Jahre sind entschwunden
in raschem Flug darüber hin.
Doch oftmals frisch im Geiste wieder
sieht sie vor sich den schönen Tag,
wo ihr bewundernd und verehrend
wohl eine Welt zu Füßen lag.
Wie fühlte damals sie sich mächtig,
erhaben und unsterblich groß.
Und doch - nun sieht sie´s - eitler Tand nur
war dies schöne, schöne Los.
So schnell, wie´s kam, war es verflogen
mit seinen Träumen wunderbar.
Nach wen´gen Jahren war vergessen,
die einstens aller Liebling war.
Die schöne Stimme war entschwunden,
war ohne Stärke und Gewalt;
jetzt hätt sie niemand hören mögen;
und so, so ward sie grau und alt.
Sie mied die Menschen; nur alleine
da fühlte sie sich wieder jung,
wenn durch die Seele zog versöhnend
manch liebliche Erinnerung.
Wars wirklich sie, der das gegolten,
fürwahr heut glaubt sie´s selber kaum,
es war ja alles schnell vorüber,
so wie ein süßer, selger Traum.
Und ihre Augen schließt die Alte,
im Sessel lehnt sie sich zurück
und träumt jetzt wohl, halb wach, halb schlafend
von dem so rasch zerschellten Glück.
Dann plötzlich fährt sie aus den Kissen,
blickt selig lächelnd rings umher,
sinkt dann zurück. Es ist zu Ende,
es schlägt ihr Herze nimmermehr.
Für immer hat sie nun geschlossen
die alten Augen müd und matt;
doch fest in den erstarrten Händen
hält sie das welke Lorbeerblatt!


(von Rainer Maria Rilke; 4.12.1875 - 29.12.1926)