Audrey Niffenegger: "Die Zwillinge von Highgate"


Von der unstillbaren Sehnsucht, dem Anderen ewig nahe zu sein

Selten war einem Romandebüt so viel internationaler Erfolg vergönnt wie anno 2004 dem ersten Buch der us-amerikanischen Autorin und bildenden Künstlerin Audrey Niffenegger mit dem Titel "Die Frau des Zeitreisenden". Wunderbar und poetisch hatte sie es damals verstanden, die Realitätsebene mit einer zweiten, fantastischen, zeitweise übersinnlichen Ebene zu verknüpfen.

Dies hat sie mit der aus dem ersten Buch bekannten Sorgfalt und Empathie auch in ihrem lange mit Spannung erwarteten zweiten Roman "Die Zwillinge von Highgate" getan.

Highgate ist ein alter Friedhof im Norden Londons, wo viele berühmte Menschen begraben liegen, unter Anderem befindet sich dort das Grab von Karl Marx. Die "Freunde des Friedhofs" halten dieses wunderbare Stück Natur mitten in der Millionenstadt London seit Langem durch viel ehrenamtliches Engagement in Schuss und veranstalten täglich mehrere Führungen für die zahllosen Touristen. Nur während solcher Führungen darf der westliche Teil des Friedhofs betreten werden, ein verwunschener Park mit hohen Bäumen und Büschen und vielen alten Gräbern, die zum Teil von Wurzeln und Ästen überwuchert sind. Zahllose kunstvolle Grabsteine und Denkmäler aus der viktorianischen Zeit machen diesen Teil des Friedhofs zu einem kunstgeschichtlichen Schatz.

Dieser Friedhof spielt in Niffeneggers Roman die zentrale Rolle. Selbst in London lebend, kennt sie den ihn ganz genau, auch weil sie selbst schon Führungen veranstaltet bzw. für die "Freunde" übernommen hat. Der Roman spielt in einem Haus, das direkt an den Friedhof grenzt. Die Handlung dreht sich hauptsächlich um die Zwillinge Julia und Valentina aus den Vereinigten Staaten von Amerika, die von ihrer Tante Elspeth eine Wohnung in diesem Haus erben, das durch ein Tor im Garten einen direkten, diskreten Zugang zum Friedhof hat: "Hier auf der Seite der Terrasse befindet sich eine Mauer. In dieser Mauer sehen Sie ein modernes, hübsches Tor."

Robert ist der Witwer der verstorbenen Elspeth. Auch er wohnt, in einer anderen Wohnung, in dem besagten Haus und veranstaltet immer wieder Führungen, die ihn oft von der Arbeit an seiner immer umfangreicher werdenden Dissertation über die Geschichte des Friedhofs abhalten. Und manchmal erliegt er auch nachts dessen Charme: "Robert beobachtete gern den Wechsel der Jahreszeiten in Highgate. Der Friedhof war nie ohne Grün. Nachts warfen Steine und Schnee das Mondlicht zurück; wenn Robert knirschend über die verschneiten Pfade schritt, kam er sich manchmal fast schwerelos vor."

Das Erbe an die Zwillinge ist mit einer Auflage verbunden. Ihre Eltern dürfen die Wohnung nie betreten, und sie müssen ein Jahr darin leben. Schon am Anfang des Romans spürt man etwas von einem dunklen Geheimnis, das über der ganzen Geschichte zu liegen scheint. Die tote Elspeth lebt als Geist weiter und schwebt durch ihre ehemalige Wohnung:
"Sie stellte fest, dass sie bis in kleine Räume gelangen konnte, und das führte sie zu ihrem ersten Experiment. In ihrem Schreibtisch befand sich eine Schublade, die sie nie hatte öffnen können. Jetzt schwebte Elsbeth durch das Schlüsselloch in die Schublade ... es gefiel ihr irgendwie."

Von dort beobachtet sie die beiden sehr unterschiedlichen Zwillinge und spürt, wie sich die schüchterne Valentina über die Zeit immer mehr von ihrer dominanten Schwester Julia löst, bis dahin, dass sie sich in Robert verliebt. Das wiederum kränkt Elspeth sehr, und die Handlung beginnt sich langsam zuzuspitzen ...

Audrey Niffenegger hat einen schönen Roman geschrieben, der den übersinnlichen und fantastischen Teilen vielleicht für manchen Geschmack zu viel Raum gelassen hat. Doch man liest "Die Zwillinge von Highgate" mit großer Freude und erlangt viele historische Informationen.

(Winfried Stanzick; 02/2010)


Audrey Niffenegger: "Die Zwillinge von Highgate"
Deutsch von Brigitte Jakobeit.
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Ein weiteres Buch der Autorin:

"Die Frau des Zeitreisenden"

Clare ist Kunststudentin und eine Botticelli-Schönheit, Henry ein verwegener und lebenshungriger Bibliothekar. Clare fällt aus allen Himmeln, jedes Mal aufs Neue, wenn Henry vor ihr steht. Denn Henry ist ein Zeitreisender, ohne jede Ankündigung verstellt sich seine innere Uhr. Plötzlich und unerwartet stürzt er los, nie ist sicher, aus welcher Zeit er kommt und in welcher Zeit er bei Clare landet, aber immer ist sicher, dass er wieder bei ihr landet. Als sie sich das erste Mal begegnen, ist Clare sechs und Henry 36, aber in Wahrheit ist Henry nur acht Jahre älter als sie und schon lange mit ihr verheiratet. Absurdes wird zur Normalität. Seine Zeitreisen sind das brennende Geheimnis, das Henry und Clare mit jeder Trennung noch inniger vereint.
Audrey Niffenegger ist es gelungen, über die Schönheit der Dauer und das Staunen der Sehnsucht zu schreiben, von der Liebe wie zum ersten Mal zu erzählen. Meisterhaft verknüpft Niffenegger die originelle Idee der Zeitreise mit der einzigartigen, tief bewegenden Liebesgeschichte. Genial inszeniert, mitreißend erzählt.
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