John Le Carré: "Geheime Melodie"
John
Le Carré verfasste bereits einige recht beeindruckende
Romane zur Arbeit der westlichen und östlichen Geheimdienste,
wobei er wohl auf eigene Erfahrungen in diesem Bereich
zurückgreifen kann. Dabei bedient er sich häufig eher
leicht naiver, aber auch sehr intelligenter Fokusfiguren, die sich in
der Schattenwelt der Geheimdienstarbeit zurechtfinden müssen.
In "Geheime Melodie" ist diese Figur der verwaiste 29 Jahre alte Bruno
Salvador, Sohn eines irisch-katholischen Missionars und einer
kongolesischen Häuptlingstochter, der in verdeckter
kirchlicher Obhut nach dem Tod seiner Eltern aufwuchs und dabei sein
großes Sprachtalent immer weiter entwickelte. Nun ist er
Spracheninterpret speziell für afrikanische Sprachen und
Dialekte und arbeitet in dieser Funktion für verschiedene
offizielle und wirtschaftliche Stellen in Großbritannien, wo
er sich seit seinem zehnten Lebensjahr aufhält - und eben auch
für den britischen Geheimdienst. Verheiratet mit einer
Starreporterin, hat er gerade sein Herz an eine kongolesische
Oberkrankenschwester verloren, als er einen ungewöhnlichen
Einsatzbefehl bekommt, der ihn als "Leihgabe" seines Dienstes zum
ersten Mal in den Außeneinsatz gehen lässt. Zusammen
mit einigen Vertretern der britischen Industrie und einigen politischen
und wirtschaftlichen Vertretern des Kongos und Ruandas wird er - von
einer Preisverleihungsfeier für seine Frau wegbeordert - auf
eine abgelegene, ungenannte Insel in der Nordsee gebracht, um dort als
Dolmetscher für Englisch, Französisch und
Suaheli
tätig zu sein. Seine Auftraggeber, Vertreter eines namenlosen
Syndikats, legen großen Wert darauf, dass er seine
weitergehenden Sprachkenntnisse, die alle Anwesenden mit ihren
Muttersprachen und einige Brückensprachen
einschließt, für sich behält, um seine
Auftraggeber mit möglichst umfassenden Informationen versorgen
zu können. Denn in den regelmäßigen
Verhandlungspausen sitzt er mit einigen Technikern in einem
Kellergewölbe, von dem aus das Haus und das gesamte umliegende
Gelände abgehört werden können.
Was Bruno hören darf, erfreut ihn zunächst sehr, denn
Ziel der Verhandlungen scheint es zu sein, den
Kongo - und speziell
Kivu, die Provinz aus der er und Hannah, seine Geliebte, stammen -
durch Geheimverträge und Hilfsmateriallieferungen noch vor den
offiziellen Wahlen zu befrieden und zu einer friedlichen Einheit zu
bringen, die dazu führen soll, dass die in der Gegend
häufigen Bodenschätze zum Wohl und Nutzen
der dortigen Bevölkerung eingesetzt werden.
Doch im weiteren Verlauf der Verhandlungen wandelt sich Brunos
Wahrnehmung des Plans, und ihm wird bewusst, dass das Syndikat
versucht, mit einigen mächtigen Männern aus den
Provinzen Vereinbarungen zu treffen, die an der Hauptstadt Kinshasa
vorbei laufen und das Ergebnis der dort abzuhaltenden demokratischen
Wahlen unterlaufen werden. Außerdem gehört zu diesen
Vereinbarungen eine eingeschränkte kriegerische
Auseinandersetzung; und "ein bisschen Krieg" kann sich Bruno im Kongo
nicht vorstellen.
Sobald er wieder in London ist, beginnt er gegen diese Pläne
vorzugehen - und muss dabei feststellen, dass er die Menschen, mit
denen er seit Jahren zusammen lebt und arbeitet, eigentlich nicht
kennt, was ihn innerhalb kürzester Zeit dazu zwingt,
unterzutauchen. Doch dies ist wesentlich komplizierter, als es der
eintägige Sicherheitskurs für freie
Innendienstmitarbeiter erscheinen ließ. Vor allen Dingen,
wenn man nicht mehr weiß, wem man noch trauen darf.
Ab der Buchmitte löst sich der erzählerische Fluss
ähnlich auf wie die Lebensumstände des gehetzten
Ich-Erzählers, was künstlerisch interessant ist,
"Geheime Melodie" aber spätestens ab diesem Moment schwieriger
lesbar macht. Doch wer dem Ich-Erzähler emotional folgen will,
muss mit dieser Erschwernis zurechtkommen - genau wie der
Ich-Erzähler mit allem, was ihm die Geheimdienstwelt nun in
den Weg stellt.
Ein interessantes und thematisch aktuelles Buch, das die typischen von
Le Carré erwarteten Qualitäten aufweist.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 10/2006)
John
Le Carré: "Geheime Melodie"
(Originaltitel "The Mission Song")
Deutsch von Regina Rawlinson und Sabine Roth.
List, 2006. 496 Seiten.
Buch
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