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Wir haben gehört, wie die Kaiserin bei dem Brunnen eingeschlafen war und das
eine Kind ihr von dem
Affen
gestohlen wurde. Sie schlief noch, als bald darauf eine Löwin durch den Wald
gelaufen kam und das andere Kindlein bei seiner Mutter schlummern sah; sie schlich
hinzu, nahm das Kind in den Rachen und wollte es ihren jungen Löwen zu essen
bringen. Indem sie nun das Kind mit den Zähnen fasste, erwachte die Kaiserin
und sah, wie das reissende Tier das eine ihrer Kinder von dann trug und ihr
anderes nicht mehr da war. Sie meinte nicht anders, als dieses hätte die Löwin
schon gefressen, und das andere werde sie auch zerreissen. Deswegen fing sie
an zu weinen und nach Gott zu schreien, nahm das weidende Pferd, setzte sich
darauf und tat einen Schwur, dass sie nicht aufhören wollte zu reiten, bis sie
die Löwin eingeholt und sich an ihr gerächt hätte. Die Löwin aber rannte vor
ihr her und hörte nicht auf zu laufen, bis der Wald zu Ende war, so schnell,
dass die Kaiserin nicht nachfolgen konnte und das Tier aus den Augen verlor.
Doch bekam diesem seine Beute auch nicht gut; denn sowie die Löwin den Wald
verliess, ward sie von einem gewaltigen Greifen erblickt, der wütend auf sie
zuflog und sie mitsamt dem Kinde so heftig mit seinen Klauen packte, dass die
Löwin sich nicht zu regen vermochte. Der Greif schwang sein Gefieder mächtig,
flog über Berg und Tal, Wald und Wasser, und endlich eilte er einer Insel zu.
Die Löwin aber wollte nicht von dem Kinde Lassen; denn Gott hütete es, und so
behielt sie es in ihrem Rachen, bis sich der Greif auf einem meerumflossenen
Eilande zur Erde niederliess.
Da legte die Löwin das Kind in den Sand und ergriff den Vogel Greif im grimmigen
Zorn so scharf beim Hinterfusse, dass er entzweibrach. Der Greif fiel zur Erde
nieder vor Schmerz; doch wehrte er sich, so gut er konnte: er schlug auf die
Löwin mit Flügeln und Klauen ein wie ein erbittertes Tier, aber es half nichts;
die Löwin stürzte mit Hast auf den Vogel und zerriss ihn; so wurde er der Stärkeren
Speise. Nachdem die Löwin satt war von des Greifen Fleisch, legte sie sich neben
dem Kinde nieder, als ob sie bei ihren jungen Löwen wäre. Das Kindlein aber
erreichte das Euter der Löwin, und als es spürte, dass es voller Milch war,
hub es an zu saugen. So ward das Kind gespeist; denn Gott der Herr wollte es
nicht verderben lassen.
Hierauf grub die Löwin eine tiefe Grube in der
Insel mit ihren spitzen Klauen,
nahm das Kind, trug es in die Grube und blieb bei ihm acht Tage und Nächte.
Sie leckte es mit der Zunge, damit es gesäubert würde, und von ihrer langen
Mähne machte sie ihm ein Bett, darin es gut lag. Trinken konnte es, wann es
wollte, und war die Löwin hungrig, so ass sie von des Greifen Fleisch.
Nun begab es sich, dass Schiffsleute, denen der Wind ungünstig war, genötigt
wurden, mit ihrem Fahrzeug an der Meeresküste zu landen, wo eben die Kaiserin
ihr Kind und die Löwin suchte. Sie hörte das Geschrei, eilte herbei und sah,
wie die Pilger mit ihrer Galeere ans Land gefahren waren. Die Seefahrer kamen
ihr vor wie Christenleute, daher sprach sie zu ihnen: "Liebe Herren, wo wollet
ihr hinreisen? Ich komme aus fernen Landen und bin eine arme verirrte Frau,
ich weiss nicht, wo in der Welt ich bin und wo ich hinsoll!" - "Frau", antworteten
ihr die Schiffsleute, "wir wollen in das Heilige Land fahren; wenn der Wind
uns nicht zuwider ist, so hören wir nicht auf zu schiffen, bis wir
nach
Jerusalem kommen." Da bat die Frau aufs inständigste, sie doch mitzunehmen,
bis der Patron und die Schiffsleute ihr gestatteten, sich zu ihnen in die Galeere
zu setzen; und als das Meer still wurde, fuhren sie weiter. Die
Pilger wurden
der schönen Frau bald geneigt, und als sie in sie drangen, ihnen zu sagen, wie
sie an diese wilde Stätte gekommen wäre, fing sie an, ihnen ohne Hehl zu berichten,
wer sie sei und wie es ihr ergangen.
Sie waren wieder eine gute Weile geschifft und eben der Insel gegenüber, auf
welche die Löwin samt dem Kinde von dem Greifen getragen worden war, als der
ungünstige Wind sie wieder ergriff und zu ankern nötigte. Es waren unter den
Pilgern einige kühne Leute, die an Land gingen. Als sie nun so hin und der wandelten,
kamen sie vor die Höhle, worin jene Löwin lag und schlief. Die Pilger sahen
das schöne Kind in der Grotte liegen und hatten sich von ihrem Staunen noch
nicht erholt, als die Löwin erwachte und mit einem grässlichen Satze aufsprang,
so dass die Pilger kaum fliehen konnten und ausser Atem auf dem Schiffe ankamen.
Die andern Pilger, die sie so atemlos daherkommen sahen, fragten sie nach der
Ursache und nun meldeten jene, was sie erblickt hatten, und bejammerten es,
dass sie das Kind nicht erretten konnten. "Denn wenn auch die alte Löwin es
schont", sprachen sie, "so werden doch die jungen Löwen es später auffressen!"
Als die Kaiserin das hörte, sagte sie: "Ach, liebe Männer, Gott sei gelobt,
dass ich das höre; denn es ist fürwahr mein Kind, das die Löwin hinweggetragen
hat! Lasst mich zu ihm!" Die Pilger stellten der Frau das Verderben vor, das
ihrer bei der Löwin warte. "Was wollt Ihr von uns ziehen", sprachen sie, "erbarmt
Euch über Euch selbst und lasst das Kind fahren. Es ist besser, ein Mensch sterbe
als zwei!" Da sie sich aber nicht wehren liess, sagten die Pilger: "Nun, wenn
Ihr es durchaus wollt, dort sitzt ein Priester, beichtet ihm; denn Ihr geht
dem Tod in den Rachen, und bittet Gott, dass er Euch helfen möge!" Die Kaiserin
kniete vor dem Priester nieder, beichtete und empfing den Segen; dann bat sie
die frommen Pilger, zu warten, und trat ans Land.
Es währte nicht lange, so kam sie zu der Grube. Da erblickte sie ihr Kind, welches
mit der Löwin spielte und fröhlich war. Als die Frau das sah, erschrak sie,
fiel nieder auf die Knie und beschwor die Löwin: "Ich sage dir bei Gott, dem
Allmächtigen, bei seinem Sohn und seinem Tod am Kreuz, dass du keine
Macht
und Gewalt über mich habest." Kaum hatte die Kaiserin diese Worte gesprochen,
als die Löwin wie ein gehorsames Haustier das Kind vor sich auf den Boden legte.
Nun ging die Kaiserin ohne Furcht in die Höhle, umarmte das Kind, küsste es
wieder und wieder und trug es auf den Armen nach dem Schiffe.
Die Löwin, die sich ihres Kindes beraubt sah, folgte traurig nach und wollte
mit in die Galeere; die Pilger aber fürchteten sich und wollten sich zur Wehre
setzen und auch die Kaiserin nicht einlassen. Diese gab jedoch so guten Bericht
über das Tier, dass wenigstens sie selbst auf das Schiff zugelassen wurde. So
stiessen sie schnell von Land; die Löwin wollte auch in das Schiff hineinspringen,
aber der Sprung fehlte; denn die Schiffsleute waren zu behend. Da schwamm das
Tier neben dem Schiffe her. Die Pilger spannten eilig die Segel auf, um zu entfliehen;
aber es half nichts; die Löwin klammerte sich mit ihren spitzigen Klauen und
scharfen Zähnen an das Schiff und versuchte von Zeit zu Zeit den Sprung, bis
es ihr endlich gelang. Die Pilger schrien vor Entsetzen. "Beschirmt uns vor
der Löwin", riefen sie die Frau an, "sonst werfen wir Euch samt dem Kind über
Bord." - "Fürchtet nichts!", sprach die Kaiserin.
Und wirklich ging die Löwin mitten durch die Pilger hindurch wie ein zahmer
Hund, bis sie zu der Kaiserin kam. Als sie das Kind auf der Fürstin Arm erblickte,
hob sie den Kopf über sich zum Zeichen, dass sie dem Kinde wohlwolle. Hierauf
legte sie sich der Kaiserin zu Füssen und verliess sie nicht mehr. Die Kaiserin
sorgte von nun an für die Löwin. Die Löwin aber beschirmte sie, dass ihr auf
dem ganzen Wege von dem Schiffsvolk kein Leid geschah; und als nur einmal einer
es wagte, der Herrin auf unziemliche Weise zu nahen, so sprang die Löwin auf,
ergriff den frechen Schiffsmann und zerriss ihn in vier Stücke. Als die Schiffsmannschaft
das sah, sprachen sie alle, ihm wäre recht geschehen, und warfen seinen zerrissenen
Leichnam in die See.
(...)
(aus "Kaiser Oktavianus" von Gustav Schwab)