George Steiner: "Im Raum der Stille: Lektüren"
Europäisches
Denken für gebildete US-Amerikaner - in New York
veröffentlicht und schließlich nach Europa
reimportiert
In zahllosen Symposien und Kongressen, in Buchreihen und Feuilletons
wird debattiert, was an
Elias
Canetti,
Bertold
Brecht, Simone Weil, Bertrand
Russell,
E.M.
Cioran oder Samuel
Beckett - außer dem Geburtsort oder dem Land der
Sozialisierung - europäisch ist. Ich bin mir sicher, dass
dieser philologische Diskurs noch lange nicht zu Ende ist.
George Steiner, geboren 1929, wuchs als Kind
jüdisch-österreichischer Eltern mit drei Sprachen in
Paris und New York auf. Seit frühester Kindheit las er im
Original, was viele oft einsprachige Philologen erst in
universitären Lehrveranstaltungen kennen lernen. Die
Verbundenheit mit drei Sprachräumen eröffnete ihm die
Literatur des halben Kontinents und den Überblick
über die europäische Kulturtradition.
"Im Raum der Stille" versammelt siebzehn Essays, die der emeritierte
Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in Genf,
Oxford und Harvard zwischen 1967 und 1992 für die
Wochenschrift "The New Yorker" schrieb. Meist ist
das Werk eines Literaten Thema der Lektüre, doch auch dem
renommierten britischen Kunsthistoriker und Sowjetspion Anthony Blunt,
den Philosophen Simone Weil und Bertrand Russell oder Albert Speer, dem
Architekten Hitlers, sind Essays gewidmet.
Lektüre versteht George Steiner als gewissenhafte Arbeit, als
Schlüssel zum Weltverständnis, v.a. aber als hohen
Anspruch an das Gelesene und sich selbst. Das Leben der Autoren darf
nicht mit dem Werk gleichgesetzt werden, aber die Werke sind Wege zu
den Menschen, zu ihren Zeiten, zu Gedanken und zu literarischen
Gattungen. Lektüre ist konzentrierte und präzise
Hinwendung.
Den Essay zu Bertold Brecht veröffentlichte George Steiner im
September 1990, wenige Tage vor der deutschen Wiedervereinigung. In der
Lektüre von Brechts Stücken, Prosatexten und Briefen
erschließt er sich und seinen Lesern den Marxismus, die "dritte
große Blaupause der Hoffnung" nach dem mosaischen
Gesetz und dem frühen Christentum. Wo spiegelt sich diese
positive Erwartung in seinen Werken? Warum aber wählte er
nicht Moskau als Ort seines Exils? "Ich bin ein Kommunist,
kein Idiot", soll er auf die Frage geantwortet haben.
Später konnte er mit österreichischem Pass und
Schweizer Konto gut in Ostberlin leben. Seine Position trug
Früchte - für sein eigenes Werk sowieso, aber auch
für sein Berliner Ensemble und das kulturelle Leben der DDR.
Die ungleiche Freundschaft zwischen dem Philosophen, Literaturkritiker
und Übersetzer
Walter
Benjamin (1892-1940) und dem Erforscher jüdischer
Mystik Gershom Scholem (1897-1982) untersucht er in deren
Briefwechsel, z.B. über Franz Kafka und seine Haltung zum
Judentum in einer Serie von Auslegungen, und kritischer Skizzen, die
von eindringlicher Originalität zeugen.
Für Österreich interessant sind die Passagen
über
Thomas
Bernhard und Karl
Kraus, "An der schwarzen Donau". Der Essay beginnt wie fast
immer in George Steiners Schriften, nicht nur in diesem Band, mit einem
Satz, der den Leser weit in den Inhalt des Texts hineinführt -
fast hineinzieht: "Die Schärfe der Satire ist
ortsgebunden." Daraus folgert er, dass sich nur wenige
wortsatirische Texte der "Fackel" als dauerhaft erwiesen. Thomas
Bernhard hält er trotz schwankendem Niveau für den
hervorstechendsten Künstler deutscher Prosa nach
Kafka
und
Musil.
Doch auch in seinem Fall führt der ortsgebunden Hass auf
Österreich zu Kurzatmigkeit, so dass Bernhards obsessive
Misanthropie eine Auseinandersetzung mit dem Faszinosum und dem
genuinen Mysterium, wie ein Land Hitler
und Freud,
den Nationalsozialismus und die wichtigsten Entwicklungen der modernen
Musik hervorbringen konnte, verhindert. Mit dem Aphorismus im Stile von
Karl Kraus,
"Purer Hass ist ein einäugiger Führer in dieses
Kernland", beendet George Steiner sein
Österreichkapitel.
Viele Einzelsätze des literarisch gebildeten und wortgewandten
Essayisten kulminieren in verdichteten Erkenntnissen, seine
Meisterleistung liegt jedoch in den Eröffnungs- und
Schlusssätzen, den Angelpunkten für die dichten und
gleichzeitig leicht und flüssig lesbaren, auch meisterhaft
übersetzten Texte.
(Wolfgang Moser; 06/2011)
George
Steiner: "Im Raum der Stille: Lektüren"
Übersetzt von Nicolaus Bornhorn.
Suhrkamp, 2011. 271 Seiten.
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George
Steiner, geboren 1929 in
Paris, lehrte vergleichende Literaturgeschichte in Genf und Cambridge.
Seit 1994
war er Professor für Komparatistik an der Universität
Oxford
(Lord-Weidenfeld-Lehrstuhl).
George Steiner starb am 3. Februar 2020 in Cambridge.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe"
Mit einem Nachwort von Durs Grünbein.
"Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle
Persönlichkeit ruht auf
einem dunklen Grund, der allerdings auch Grund der Erkenntnis sein
muss."
(Schelling)
Anwesend waren Traurigkeit, tristitia oder tristesse in George Steiners
Prosa
seit jeher: als Gedanke, Thema und Gestimmtheit. Nun aber stellt er
sie, von
Schelling ausgehend, in den Mittelpunkt einer Meditation über
Glanz und Elend
der Reflexion. Grundiert ist alles Denken durch Schwermut, die in jedem
Gedanken
vernehmbar bleibt und sich fortpflanzt - so die von Steiner
gewählte kosmische
Analogie - wie das Hintergrundrauschen als Echo des "Urknalls".
Zweiflerisch ist dieses Denken und durchdrungen vom Gefühl
seiner
Vergeblichkeit. Es ist unberechenbar und heillos individuell,
verschwenderisch
und kreisschlüssig, eingeschränkt in den Grenzen der Sprache,
axiomatisch,
neurophysiologisch determiniert. Es ist, als "Großes Denken",
weit
entfernt von Mehrheitsentscheidungen und allgemeiner Anerkennung. Es
ist
aussichtslos, führt schließlich auf nichts. Und doch
ist es die einzig
menschenwürdige Anstrengung.
Was ist das, seiner Form nach, für ein Buch? "Vom
Essay nimmt es den
rhetorischen Spieltrieb, vom Traktat die logische Textur, um hie und
da
Zäsuren
zu setzen im imperativischen Stil eines Manifests." (Durs
Grünbein)
George Steiners Schrift ist eine Variation in zehn Sätzen auf
ein Thema von
Schelling, das Produkt einer persönlichen Ästhetik,
ein Stück Gedankenmusik,
ein logisches Gedicht. (Suhrkamp)
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"Gedanken
dichten"
Denken und Dichten: beide sind sie Kinder der Sprache. Eine
sehr lange Zeit hat es gebraucht, bevor sich aus orphischen
Gesängen, rhapsodischen Fiktionen und schamanischen Analogien
autonomes Denken kristallisierte. Doch so sehr, seit der griechischen
Klassik, dieses Denken sich auf Abstraktion zuspitzte - über
Jahrtausende blieb es gebunden an das uralte Erbe der Dichtung: an
Rhythmus, Phrasierung, Klangfarbe und Intonation, an rhetorische
Figuren, Bilder und Symbole.
Eine Sprache der Sinnlichkeit, vibrierend von Bedeutung und innerer
Bewegung: das ist die Ausdrucksform der größten
Denker von Heraklit über Platon,
Descartes und Spinoza, Hegel und Nietzsche
hin zu Wittgenstein, Heidegger, Sartre.
Umgekehrt drängt es die Dichter immer wieder zum gedanklichen
System: Den großen Meistern und Meisterwerken solcher
Synthese, der schönen Verschmelzung von Dichtung und Denken
gilt Steiners neuer mit poetischem Schwung geschriebene
philosophisch-historische Essay. (Suhrkamp)
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"Der
Meister und seine
Schüler"
Ein vielschichtiges und spannendes Panorama der Geistesgeschichte.
Sokrates und Platon, Tycho
Brahe und Johannes Kepler, Edmund Husserl
und Martin
Heidegger: Die bedeutenden Errungenschaften in Wissenschaft,
Philosophie,
Religion und Kunst gehen auf meisterliche Lehrer und ihre
großen Schüler zurück.
Sie standen oft in einem spannungsgeladenen Verhältnis
zueinander, in dem es
nicht nur um Wissen und Wahrheit, sondern auch um Macht, Vertrauen,
Rivalität
und Leidenschaften ging. (dtv)
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"Errata"
Die mit Geist und Witz erzählte Autobiografie eines
kosmopolitischen Gelehrten.
George Steiner, aufgewachsen in einer gutbürgerlichen
österreichisch-jüdischen
Familie in Paris und New York, lehrte vergleichende Literatur- und
Sprachwissenschaft an renommierten europäischen und
us-amerikanischen Universitäten.
Konsequent hat er die enge Spezialisierung abgelehnt und in seinem
umfangreichen
Werk nicht nur Sprache und Literatur, sondern auch Philosophie,
Religion, Musik
und Kunst behandelt. So sind auch seine so geistvoll wie
amüsant erzählten
Lebenserinnerungen zugleich weit gespannte Betrachtungen zu
zentralen
Fragen der
Kultur, Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts und eine
kritische
Auseinandersetzung mit den Widersprüchen der modernen Welt.
(dtv)
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Noch ein Buchtipp:
Claudio
Magris: "Das Alphabet der Welt. Von Büchern und
Menschen"
Claudio Magris, der große italienische Schriftsteller,
Gelehrte und Reisende
erzählt von den Büchern, die seinen Werdegang
begleiteten und von denen viele
sich mit dem Leben selbst vermischen. Die Kindheitslektüre,
die bei Magris mit
Salgari
beginnt, dem "italienischen Karl May", vermittelt
den
Geschmack am Erzählen und am Abenteuer und führt zur
Entdeckung der Welt. Später
kommen die "Odyssee"
hinzu, für Magris das Buch der Bücher, und
natürlich
das Alte und das Neue Testament. Seine Neugier und sein Wissensdurst
weisen ihm
den Weg auch zu den Literaturen außerhalb Europas und
beziehen die Gegenwart
ein. Es gibt Bücher, die es erlauben, die Welt kennenzulernen
und zu ordnen,
und andere, die ihr zerstörerisches Chaos enthüllen,
ihren Zauber und zugleich
ihren Schrecken, Bücher, die das Heil versprechen, andere, die
an die Schwelle
des Abgrunds führen.
Mit Leidenschaft und Beredtsamkeit führt Magris den Leser in
diesen Aufsätzen
durch die Literatur der Welt. (Hanser)
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