Dezső Kosztolányi: "Lerche"
Fatale
Ménage à trois
Acht Tage lang wird "Lerche", eine Frau Mitte dreißig, im
September
1899 ihre Eltern, mit denen sie lebt, verlassen und einen
Verwandtenbesuch
machen.
Lerche, ausnehmend hässlich und beleibt, hat keinen Mann
gefunden und führt
mit ihren Eltern eine eigenartige Ménage à trois.
Nun, da Lerche verreist ist
und ihnen nicht mit energischer Hand den Haushalt führt,
fühlen sich die
Eltern so hilflos, dass sie zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder in
einem
Restaurant ihrer ungarischen Provinzstadt essen gehen. Die
Mitbürger nehmen die
plötzliche Anwesenheit des Paars erfreut zur Kenntnis und
beziehen es sofort
intensiv ins städtische Leben ein, Theaterbesuch und
ausufernden Herrenabend
eingeschlossen; es ist, als ob es Lerche mit ihrer Abneigung gegen die
Aktivitäten
der Mitbürger nie gegeben hätte. Die Eltern,
insbesondere der Vater, wirken
wie verjüngt und entwickeln Witz und Charme, die ihnen durch
Lerches sauertöpfische
Gesellschaft längst abhanden gekommen sind.
Ein Brief von Lerche lässt es dem Vater wie Schuppen von den
Augen fallen:
Lerche kann und will das Leben nicht genießen, unter der
Maske von
Selbstaufopferung für die Eltern verbirgt sich schierer
Egoismus. Und der Vater
erkennt in einem klaren, paradoxerweise durch ein Besäufnis
hervorgerufenen
Moment, dass Lerche nicht nur vom Äußerlichen her,
sondern auch von innen hässlich
ist. Als er dies seiner Frau mitteilt, wehrt sie sich vehement gegen
die
Anschuldigung gegenüber der "armen" Tochter und führt
zornig-verzweifelt all jene Argumente auf, mittels derer sich die
Eltern seit
vielen Jahren belügen und von Lerche gefangen halten lassen.
Im Grunde ist der
Vater gern bereit, sich von ihren Ausführungen bekehren zu
lassen, denn er möchte
natürlich nicht glauben müssen, dass ihm die eigene
Tochter nur zur Last
falle.
Lerches Ankunft steht bevor, der Zug aber verspätet sich immer
mehr, und die
Eltern wagen es nicht, sich einzugestehen, dass ihre zunehmende Sorge
einen
ausgesprochen ambivalenten Charakter aufweist.
Der außergewöhnliche ungarische Autor Dezső
Kosztolányi hat mit diesem
Werk einen düsteren Roman vorgelegt, in dem schonungslos,
dabei jedoch in einem
tänzerisch leichten Stil fatale zwischenmenschliche
Abhängigkeiten geschildert
werden. Lerche, Täterin wie Opfer ihrer selbst, findet, wie
der Leser schnell
begreift, ja nicht aufgrund ihres durch fade Kleidung noch gesteigerten
reizlosen Äußeren keinen Mann, sondern wegen der
Ödnis in ihrem Inneren, die
sich längst auf ihre Eltern übertragen hat -
reversibel, wie das Aufblühen
der beiden Alten zeigt, die eigentlich gar nicht so alt sind, als sie
dem
Einfluss der Tochter vorübergehend entzogen werden.
Mit Lerche hat Kosztolányi eine eigenartige und doch in
allem realistische,
bestürzende Figur geschaffen, eine Verkörperung
innerlichen Abgestorbenseins
und Selbsthasses, die den seelischen Leichengeruch wie ein Miasma
beharrlich
nach außen absondert. Aufgrund der engen Bindung, die auch
auf Mitleid basiert,
sind die Eltern, anders als die anderen Menschen in Lerches Umfeld,
nicht
willens und meistens nicht in der Lage, Lerches krank machende
Ausstrahlung
wahrzunehmen.
Freilich kann das gewöhnliche Leben in der Stadt des Fin de
siècle Lerches
scheinbarer Tiefgründigkeit, die doch nur Leere birgt, nur
einen oberflächlichen
Kontrast entgegensetzen, denn die Aktivitäten der Eltern
während Lerches
Abwesenheit wirken genau genommen ebenso sinnentleert wie ihr sonstiger
fader
Alltag: und doch haben sie noch einmal die Süße und
Unbeschwertheit des
sorglosen In-den-Tag-Hineinlebens gekostet.
Jeder Leser mag diesen stimmungsvollen, mit scharfsinnig angefertigten
literarischen Karikaturen gespickten Roman interpretieren, wie er will;
kaum
einer jedoch wird sich nicht von ihm fesseln lassen. Die hervorragende
Übersetzung
von Christina Viragh sollte ebenso Erwähnung finden wie das
Nachwort von Péter
Esterházy, das dem Leser Kosztolányi und dessen
Werk näher bringt.
(Regina Károlyi; 10/2007)
Dezső
Kosztolányi: "Lerche"
Aus dem Ungarischen übersetzt von Christina
Viragh.
Nachwort von Péter Esterházy.
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, 2007. 302 Seiten.
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