(...) Nachdem meine Mutter und ich einen
Tag nach meiner Ankunft in Linz und einen Tag vor dem Begräbnis zum Friedhof
gefahren waren, wo mein Vater aufgebahrt lag, und ein blasser Mensch mit ovalem
Gesicht uns aus einer Ecke hinter dem Sarg heraus gefragt hatte, ob wir den
Verstorbenen noch einmal sehen wollten und meine Mutter gleich "ja" gerufen
und der blasse Mensch zuerst die Blumen und Kränze zur Seite geschafft und dann
behutsam den Deckel des Sarges geöffnet hatte und wir auf die verkrümmte, aufgebäumte
Leiche meines Vaters gesehen hatten - der Kopf nach hinten gestemmt, der Mund
weit, die Augen halb geöffnet -, so daß ich einen schrecklichen Augenblick lang
sicher war, die Augäpfel hätten sich unter den Lidern bewegt und mein Vater
hätte von meiner Mutter zu mir geschaut, so wie er es all die Monate im Pflegeheim
gemacht hatte -, nachdem meine Mutter und ich also meinen Vater, sich aufbäumend
und dabei wie im Krampf erstarrt, daliegen sahen, so dünn und verzerrt, und
seine Arme unter dem kurzärmeligen, beigen Hemd, das meine Mutter gleich nach
der Todesnachricht mit der dunkelblauen Krawatte ins Pflegeheim gebracht hatte,
sichtbar waren, knochig und übersät mit roten und braunen und blauen Flecken,
und das Gesicht, das ich doch einmal, vor langer Zeit, bis in alle Falten und
Furchen hinein so genau gekannt hatte, ganz fremd und ausgetrocknet schien -
die sonst faltige Haut jetzt straff gespannt von Knochen zu Knochen, die Nase
spitz -, nachdem der blasse Leichenbestatter mithin den Deckel vom Sarg gehoben
hatte und wohl selbst erschrocken war über den sich aufbäumenden, mageren und
verzerrten Körper, über den weit geöffneten Mund und die halb geöffneten Augen
und ich gedacht hatte, daß er nun etwas sagen würde, etwas Tröstendes oder auch
Erklärendes, er aber, nachdem meine Mutter plötzlich laut und mehrmals hintereinander
gerufen hatte: "Genau so hat er ausgesehen zum Schluß, genau so", nichts gesagt,
sondern nur zur Seite gesehen hatte, zu den Blumen und Kränzen, die er auf eine
Art Ablage gelegt hatte und wieder auf den Sarg legen würde, wenn er geschlossen
wäre, und nachdem ich meine Mutter dann untergehakt und regelrecht weggezogen
hatte von dem Leichnam meines Vaters, dem sie noch, als ich sie schon zur Tür
der Aufbahrungshalle hinausgezogen hatte, zurief: "Genau so hast du ausgesehen,
genau so", und nachdem wir dann am nächsten Tag beim Begräbnis hinter dem Sarg
hergegangen waren, der von der Aufbahrungshalle in die Verabschiedungshalle
getragen wurde - der blasse Mensch mit dem ovalen Gesicht und einer Art Zepter
in der Hand voran, dann meine Mutter, meine Halbschwester und ich und hinter
uns die Trauergäste und Verwandten -, und derPfarrer
Innerlohinger, ein alter Bekannter meiner Eltern, in der Verabschiedungshalle
eine Rede hielt, in der er vom Leben sprach und vom Tod, als bestünde da nur
ein feiner, kaum merklicher Unterschied, und der Sarg, auf dem das Bouquet weißer
Rosen lag, das
meine Mutter, meine Halbschwester und ich bestellt hatten, an der Fensterfront
der Verabschiedungshalle stand, genau in der Mitte des Raums und ausgerichtet
auf ein weit sichtbares Feld, über das während der Abschiedsrede des Pfarrers
Hasen hoppelten, und
wir endlich, gefolgt von Verwandten und Bekannten, wieder hinter dem von vier
dunkel gekleideten Männern getragenen Sarg meines Vaters die Halle verließen,
um ihm zu folgen, bis er schließlich am Ende eines Feldweges auf ein Auto geladen
wurde und das Auto langsam in Richtung Krematorium losfuhr, mit angeschalteten
Scheinwerfern, so daß wir noch lange die beiden roten Rücklichter sahen, und
als plötzlich etwas in mir hochschwappte, von dem ich nicht gewußt hatte, daß
es in mir war, und ich mich auf einmal am liebsten über den fest verschlossenen
Sarg mit meinem Vater, der sich unaufhaltsam entfernte, geworfen und mit beiden
Fäusten auf ihm herumgetrommelt und geschrien und geweint hätte, so daß ich
mühsam versuchte, mich zu beherrschen, denn schon kamen die Bekannten und Verwandten,
um zu kondolieren, da steckte mir meine Mutter plötzlich etwas Hartes, Spitzes,
Glattes zu.
Ich ahnte gleich, daß ich es besser nicht vor den Augen aller ansah. Also hielt
ich den Gegenstand in meiner linken Hand, während ich mit der rechten die Hände
der Trauergäste schüttelte. Als ich mich endlich abwenden und die schweißnasse
Hand öffnen konnte - ich weiß noch, die Sonne kam gerade zwischen den Wolken
hervor und Vögel zwitscherten -, sah ich, daß ich ein künstliches Gebiß in der
Hand hielt. Das heißt den oberen Teil eines Gebisses. Ich weiß nicht, wie ich
reagiert hätte, wenn nicht in dem Moment mein blutjunger, hübscher, langhaariger
Cousin zweiten Grades auf mich zugetreten wäre. Ich steckte das Gebiß in die
Tasche des Persianermantels, den mir meine Mutter für das Begräbnis geliehen
hatte, und hakte mich bei meinem Cousin unter. (....)
(Aus "Nackte Väter" von Margit Schreiner.)
"Nackte Väter" ist die eindringliche
Geschichte der Liebe einer Tochter zu ihrem Vater und eine eigenwillige
nüchtern-innige Huldigung an den Über-Vater ihrer Kindheit, der nun - an
Alzheimer erkrankt - geistig verwirrt dem Tod entgegengeht.
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