Leseprobe:
(....) Der Gorbatschow´sche Sozialismus mit menschlichem Antlitz hatte dem
Land zwei neue Spielzeuge beschert: "Business" für die Väter und "Freiheit"
für die Söhne. Für mich fing diese leider mit Läusen an.
Die alternative Jugendkultur stand Mitte der achtziger
Jahre in voller Blüte, und überall wimmelte es von Anhängern der Hippie- bzw.
Punk-Bewegung. Allein der Leningrader Rockklub zählte 800 Bands, und per Anhalter
herumzureisen war große Mode. "Von Moskau nach Nagasaki, von Europa bis zum
Mars", sang Umka, die russische Janis Joplin, eine der Stimmungskanonen
der damaligen Zeit.
Die Jugendlichen reisten von einer Stadt zur anderen,
alle kannten sich und konnten überall "Flat and Food" finden, wie es hieß.
Mein Freund Katzman und ich wollten im Sommer
1985 wieder einmal zu unserem Lieblingszeltplatz nach
Lettland trampen. Dort ging der Spaß schon im Mai los und endete
erst im November, wenn der erste Schnee vom Himmel fiel. Doch dieses Jahr hatten
wir uns meinetwegen verspätet. Ich hatte mich in ein junges Mädchen aus Kiew
verliebt, das eine Weile in Moskau gewohnt hatte und kurz davor war, nach Kiew
zurückzufahren, als wir uns kennen lernten. Katzman, der sie schon etwas länger
kannte, meinte: "Pass auf, diese Angela ist nett, aber sie hat Läuse." Ich hatte
mir jedoch eingebildet, unsterblich in sie verliebt zu sein, und begleitete
sie deswegen per Anhalter die halbe Strecke nach
Kiew, anschließend fuhr ich alleine wieder zurück.
Das Mädchen hatte lange, dicke, blonde Haare,
ich lange, dicke, schwarze. Wir küssten uns unterwegs, ihre Läuse kletterten
zu mir herüber. Als ich nach Moskau zurückkam, waren es schon sehr viele. Ich
wollte meine langen, dicken Haare auf keinen Fall abschneiden, wusste jedoch
nicht, wie ich diese Viecher sonst wieder loswerden könnte. Also ging ich zu
meiner Mutter, die sehr kreativ war, eine viel größere Lebenserfahrung besaß
und mir bestimmt helfen konnte. Meine Mutter suchte sich ein paar Läuse von
meinem Kopf, holte ein Vergrößerungsglas aus ihrem Schreibtisch und betrachtete
sie erst einmal genau.
"Das sind keine Läuse", sagte sie nach einer Weile
entschieden. "Auf jeden Fall nicht solche, wie ich sie kenne. Damals in Samarkand,
als wir 1941 aus Moskau evakuiert wurden, hatten alle Kinder Läuse. Doch unsere
waren viel, viel kleiner. Und auch nicht so dick, nicht so schnell. Außerdem
hatten unsere Läuse nur vier Beine. Diese hier haben sechs."
"Das sind eben andere Läuse, Mama", sagte ich.
"Eure damals waren Läuse der Armut, des Hungers und der Vertreibung, die über
geschwächte Menschen herfielen. Diese hier, das sind die Läuse der Freiheit!"
Dann ging ich zur Apotheke.
"Was haben Sie gegen Läuse?", fragte ich eine
nette junge Verkäuferin hinter der Theke.
"Wir haben zwei Sorten Hundeseife und ein Hundeshampoo
für ganz junge Tiere. Wie alt ist Ihr Hund
denn?", fragte sie mich.
"Bald achtzehn", sagte ich und wurde rot. "Ein
ganz alter Hund. Er braucht besondere Pflege. Ich nehme am besten beides."
Sie guckte mich neugierig an und hatte wahrscheinlich
begriffen, dass ich der Hund war. Zu Hause seifte ich meinen Kopf mit beiden
Seifensorten ein, goss noch das Hundeshampoo oben drauf und ein wenig Benzin.
Letzteres auf Empfehlung meines Freundes Katzman. Danach zog ich eine Plastiktüte
über den Kopf und lief so 24 Stunden in der Wohnung herum. Meine Mutter machte
ständig Witze über mich. Sie sagte, dass meine Läuse
in einer solchen Situation gar keinen Fluchtweg hätten und bestimmt versuchen
würden, in mein Gehirn einzudringen. Ich fand das alles überhaupt nicht komisch.
Mein Vater hatte nichts bemerkt. Er war zu sehr mit den neuen Ideen beschäftigt
und dachte über "Business" nach.
Aus: Wladimir Kaminer: "Militärmusik". Roman. |
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Manhattan im Goldmann Verlag, 2001. |
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ISBN 3-442-54532-3. 192 Seiten. |
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ca. EURO 18,- |
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