Evelyn Schlag: "Yemen Café"
Politisches
Kalkül und die Verantwortung als Mensch
In diesem Roman entführt Evelyn Schlag ihre Leserschaft in den
Jemen. Natürlich ist "Yemen Café" keine Geschichte
von tausendundeiner Nacht, sondern eine, die sich mit der Frage
beschäftigt, ob man, im Kriegsgebiet lebend, Politisches und
Privates trennen kann. Wir befinden uns im Jahr 2010, und das Land
befindet sich seit Jahrzehnten in einer Art Bürgerkrieg, den
der ebenfalls seit Jahrzehnten regierende Präsident Saleh
gegen schiitische Rebellen, die Huthis, führt. Im Vorjahr hat
der Krieg unter Beteiligung us-amerikanischer Drohnen und der Armee
Saudi-Arabiens einen weiteren blutigen Höhepunkt erreicht. Der
Terror und der Krieg sind überall in Sana’a
gegenwärtig.
"Draußen auf der Straße umfing sie eine
Menschentraube. Ein Haufen junger Männer brüllte
aufeinander ein, sie streckten die Arme hoch und rangelten um einen
Buben herum, der die Hände vor da Gesicht gehoben hatte. Der
verletzte Bub vom Vormittag fuhr ihm durch den Kopf."
Protagonist ist Dr. Jonathan Schmidt, österreichischer
Chefarzt im
"Private Hospital Swiss House in Sana’a". Die
meisten Ärzte sind wie Dr. Schmidt Europäer.
Behandelt werden hauptsächlich Patienten mit gewissen
Privilegien. Privilegien, die durch Geld und eine gewisse
Regierungsnähe begründet sind. Auch
Ausländer und Botschaftsangehörige finden sich unter
den Patienten des Spitals. Somit stützt die Arbeit Jonathans
und des ganzen Spitals in Wahrheit die Regierung, die letztendlich
für Krieg und Terror im eigenen Land verantwortlich ist. Auch
wenn im Spital grundsätzlich versucht wird, eine Art
politikfreie Zone zu sein, ist natürlich nichts unpolitisch.
Jonathans große Liebe Delphine, mit der er vor seiner Zeit im
Jemen gemeinsam in einem äthiopischen Buschkrankenhaus
gearbeitet hat, lebt bereits wieder in Europa und kümmert sich
um ihre eigene Mutter. Sie scheint eine Art Traum- oder gar Lebensfrau,
so etwas wie eine Vision Jonathans zu sein, obwohl er eigentlich
Junggeselle ist. Jonathan weiß, wie skeptisch sie seine
derzeitige Beschäftigung sieht. Delphines Ideale sind
für Jonathan auch moralische Instanz. Das stürzt ihn
in Selbstzweifel, in innere Konflikte, auch in imaginäre
Gespräche mit Delphine, in denen er zu ergründen
versucht, ob er, in dem was er tut, überhaupt noch das
auslebt, was er sich idealistisch als medizinische Hilfeleistung
für alle, die es sich nicht leisten können, vorstellt.
"Er verdeckte seine Erregung mit dem Bademantel, und als er
sich sicher fühlte, warf er den Mantel auf die Liege und stieg
ins Wasser. Er sah, wie Susanna ihm winkte, dann sank er mit dem Kopf
unter Wasser. Ihre Beine waren zu weit weg, außerdem konnte
er unter Wasser die Augen nicht öffnen. Er hüpfte
hoch, tauchte unter, schwamm ein paar Tempi hin zum oberen Rand des
Beckens, wo Susanna ihm den Arm entgegenstreckte. Ihrer beider
Hände griffen für ein paar Augenblicke ineinander. Er
fuhr sich schnell durch die kurzen Haare. Susanna hatte ihr Haar
hochgesteckt. Ihre Augen waren gerötet vom Chlor."
Er ist für weibliche Reize ganz und gar nicht
unempfänglich, flirtet mit der Frau seines neuen
Arbeitskollegen Christian Malte, was ihn in einen weiteren Gewissens-
und Loyalitätskonflikt stürzt. Er sinniert
darüber, wie gerne er einmal das unverhüllte Gesicht
der jemenitischen Anästhesistin sehen würde, das er
nur ganz kurz erhascht hat, als er zufällig in den falschen
Aufenthaltsraum getreten ist.
Als die US-Amerikanerin Katie Lindgren in sein Leben tritt, sieht er
neue Möglichkeiten für die Zukunft. Eine Zukunft ohne
politische Unruhen, ohne Bürgerkrieg und ohne Gewalt.
Knapp
vor ihrer Heimreise stellt sie ihn vor die alles entscheidende Frage.
"Wir hätten nicht in diese Pizzeria gehen sollen,
sagte Blanchot. - Es hatte in letzter Zeit Warnungen gegeben, man
sollte das Lokal meiden. Ich hätte darauf bestehen sollen,
dass wir das ernst nehmen. Sie kennen solche Situationen. Man will
nicht als Hasenfuß dastehen, schon gar nicht in dieser
Gesellschaft. Man darf sich keine Blöße geben."
Evelyn Schlag schafft es, vor allem auch über die Nebenlinien
der Handlung, ein eindrucksvolles Panorama einer krisengebeutelten
Stadt zu zeichnen. Der Dialysepfleger Hassan, der sein Studium zur
Sicherheit des Bruders nicht beendet hat, Jonathans Chauffeur Ali, der
zu einem Regierungsfreund wird und seinen Sohn zum Militär
schicken will, ebenso wie Abdul, der sich, nachdem seine Eltern
gewaltsam getötet wurden sein Bruder verhaftet wurde,
radikalisiert und zu den Rebellen überläuft. Auch die
Geschichte der indischen Schwestern, denen so lange ihr Salär
vorenthalten wird, bis sich Jonathan über die Gepflogenheiten
hin hinwegsetzt und für sie eintritt. Nichts davon wirkt
unecht oder aufgesetzt, sondern dient allein dem Bild der Stadt, das
wirklich überzeugend gelungen ist.
Schlags Prosa ist in aktiven Momenten, in denen sich Handlung wie von
selbst entwickelt, schnörkellos präzise und
zweckdienlich, was positiv dazu beiträgt, als Leser
dranzubleiben.
Alles in allem ist "Yemen Café" ein starker, polyphon
komponierter Roman, der zum Nachdenken anregt: über eigene
Moralvorstellungen,
Ideale und die Frage, wo sich die Grenze zwischen
politischem Kalkül und der eigenen Verantwortung befindet.
(Roland Freisitzer; 09/2016)
Evelyn
Schlag: "Yemen Café"
Zsolnay, 2016. 366 Seiten.
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