Peter Høeg: "Durch deine Augen"


Der Wunsch, Gedanken von Anderen lesen zu können

Peter Høeg ist ein mutiger Autor mit einer gewissen Tendenz zu skurrilen oder gar überzogenen thematischen Ideen. Das funktioniert immer sehr gut, weil der 1957 in Kopenhagen geborene Autor ein großartiger Schriftsteller mit einer erzählerischen Pranke ist, die den Leser selbst durch die absurdesten oder abwegigsten Erzähllinien führt.

"Durch deine Augen" will viel. Vielleicht sogar zu viel. Es ist wahrscheinlich unmöglich, genau zu sagen, was die Kernaussage dieses unterhaltsamen Romans sein soll. Die Vielzahl der Themen und Ideen führt dazu, dass jeder Leser mitunter unterschiedliche Wahrnehmungen haben wird. Allerdings war Eindeutigkeit noch nie ein Bestandteil des Schaffens dieses Autors. Das beginnt schon damit, dass sich seine Romane durch verschiedene Genres schlängeln, ohne dabei auch nur annähernd Genreromane zu sein. Die Feinsinnigkeit des Autors ist der Kontrollfaden, der dafür sorgt, dass jegliche Genreanbiederung unterbleibt. So ist "Der Susan Effekt" wahrlich kein Reißer und "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" kein Kriminalroman, obwohl beide durchaus Ansätze der jeweiligen Genres vorzuweisen haben.

Was ist also nun mit "Durch deine Augen"? Die drei Hauptprotagonisten Lisa, Simon und Peter, (der ein alter ego des Autors zu sein scheint), sind Freunde aus Kindertagen. Wie sich langsam herausstellt, konnten die Drei bereits in ihrer Kindheit in die Träume Anderer gelangen und so Vergangenheit oder auch Zukunft beeinflussen. Was vielleicht märchenhaft klingt, muss relativiert werden, weil Peter Høeg das so überzeugend darstellt, dass man sich die Frage der (Un-)Möglickeit gar nicht stellt.
Nun, 30 Jahre später, verursacht ein Selbstmordversuch Simons, dass die alte Clique reaktiviert wird. Peter bringt ihn in das "Institut für neurologische Bildgebung", das, wie sich herausstellt, von Lisa geführt wird. Sie hat eine Methode entwickelt, die es ihr ermöglicht, das Bewusstsein der Patienten in Hologrammen sichtbar zu machen, was dazu führt, dass diese in Beziehung zu sich selbst und anderen Personen treten können.
Sie erkennt Peter zu Beginn nicht, weil sich an gar nichts erinnert, was sich vor dem Zeitpunkt des Unfalltodes ihrer Eltern ereignet hat. Interessanterweise wird allerdings nun eher Peter ständiger Gast im Institut. Als Medium oder auch Gehilfe bei Therapiestunden anderer Patienten, die durch diese Prozedur ihre traumatischen Erlebnisse aus ihrer Kindheit, von Vergewaltigung, anderem Missbrauch, traumatische Erlebnisse aus jüngeren Kriegseinsätzen oder auch bisher vergrabene Erinnerungen aus der Zeit des NS-Terrors aufarbeiten können.
So treten natürlich immens viele Lebensgeschichten ans Licht, die zwar mit dem immer wieder im Hintergrund verschwindenden Haupterzählstrang nichts zu tun haben, letztendlich aber sekundär die Grundidee untermauern.
Die Beschreibung dieser Sitzungen oder Therapiestunden wird von Peter Høeg so dargestellt, dass man teilweise das Gefühl hat, einen alten Lem oder gar Philip K. Dick zu lesen.
Weiße Kittel und Helme, die so gezeichnet sind, dass es sich auch um Frisör-Trockenhauben handeln könnte. So entsteht teilweise eine Art ungewollte Situationskomik, die vermutlich so nicht beabsichtigt war.
Diese Tätigkeit im Institut hat voyeuristisch verstörende Momente, die natürlich genau das sind, was der Autor mit der Idee des In die Köpfe Schauens beabsichtigt.

Die Erzähllinie von Simon gerät dadurch, wie übrigens einige andere hier nicht erwähnte Erzählstränge, immer wieder in Vergessenheit, weil sich die Beziehung zwischen Peter und Lisa, die mittels Rückblenden ihre Kindheit aufarbeiten und Lisas Erinnerungen zurückholen, in den Vordergrund drängt. Lange, philosophisch geprägte Betrachtungen, die Lisa und Peter in Gesprächen behandeln, sind so etwas wie der Gegenpol zur nüchternen wissenschaftlich dominierten Linie der Ereignisse im Institut. Dazu kommen dann erwartungsgemäß auch poetisch-romantische Momente, die sich zwischen Peter und Lisa anbahnen.

Der bereits im vorigen Roman "Der Susan Effekt" mitschwingende Hintergrund eines Überwachungsstaats ist auch im neuen Roman allgegenwärtig. Das Institut ist eine fast paramilitärische Sicherungszone, und wie weit die Regierung oder andere Mächte überhaupt involviert sind, als Förderungsgeber, Auskunftsempfänger oder sonst wie, bleibt mehr oder weniger im Nebel verborgen. Dass größere Mächte ihre Finger im Spiel haben, ist allerdings klar. Dennoch ist "Durch deine Augen" kein paranoider Roman über Verschwörungstheorien, zu gut ist er dazu, zu überzeugend, auch wenn man beim nüchternen Betrachten der Ereignisse den Kopf schütteln möchte.

Der Ich-Erzähler Peter, dessen Mutter, wie man relativ spät im Roman erfährt, Frau Høeg ist, der ebenso wie der Autor im Stadtteil Christianshavn von Kopenhagen aufgewachsen ist, ist eigentlich der ganz besondere Moment dieses Romans. Wie fein Høeg den Leser verwirrt, auf falsche Fährten führt, um das Erzählen (oder eigentlich den Moment des Entstehens der Erzählung) per se zum Sinn zu erklären, die Sprachlosigkeit als Keimzelle des schöpferischen Akts quasi, das ist höchste literarische Kunst. Und dank dieser Kunst folgt der Leser dem Text Høegs mit absoluter Begeisterung, auch wenn der eine oder andere Erzählstrang vermeintlich im Nichts verläuft.

In diesem ausgezeichnet übersetzten Roman ist nichts sicher, nichts ist definitiv, die Kreativität muss sich an keine Grenzen halten, die womöglich ihre Freiheit einschränken würden. Nur das Erzählte zählt und ist definierend. So wird "Durch deine Augen" zu einer Art Paradebeispiel von Metafiktion, die sich frei in allen Genres bedient, diese jedoch virtuos ad absurdum führt. Das ist, wie bereits angedeutet, teilweise etwas verwirrend, vielmehr aber höchst faszinierend.

(Roland Freisitzer; 04/2019)


Peter Høeg: "Durch deine Augen"
(Originaltitel "Gennem dine ojne")
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
Hanser, 2019. 335 Seiten.
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