Peter Handke: "Versuch über den Stillen Ort"


Ein stiller Versuch

Nach ursprünglichen Zweifeln an der wahren Bedeutung des Titels dieses Textes von Peter Handke kann der Rezensent bestätigen, dass es sich beim im Titel genannten "Stillen Ort" wohl um den vermuteten Ort handelt, den Ort, welcher der wahrscheinlich privateste und ruhigste Zufluchtsort ist. Eine Art Asylort oder Versteck auch, das dem jungen Peter Handke endlose Möglichkeiten zur Gedankenfindung bescherte.

Natürlich geht es in diesem Text nicht um eine Art Fäkalliteratur, zu sehr ist Peter Handke Ästhet, um sich in solche Zonen zu begeben.

Wie bereits in der vorangegangenen "Trilogie der Versuche" ("Über die Müdigkeit", "Über die Jukebox", "Über den geglückten Tag") ist auch dieser Versuch ein autobiografisches Ausleuchten und Auskunftgeben. Hier vielleicht noch stärker als in der Trilogie.

So ist "Versuch über den Stillen Ort" auch ein Erzählen von den Jugendjahren des Autors, eine Art Entwicklungsprosa, entspannt und heiter geschildert, literarisch ein typischer Peter Handke.

Durchgehend steht die Toilette per se im Mittelpunkt, auch die nicht gefundene, die dem jungen Peter Handke im Internat des katholischen Priesterseminars eine unangenehme und peinliche Situation beschert.

Verschiedene Stille Orte an allen möglichen Orten, die der reisende Autor während seiner drei Jahre dauernden Weltreise aufgesucht hat, sind in den Text verwoben. Vom Stillen Ort in einer Tempelanlage in Japan, der den Autor zu einer eindringlichen Beschreibung der Tempelanlage in Nara im Spiegel der Äußerungen von Jun'ichiro Tanizaki zu den japanischen Tempelaborten inspiriert, bis hin zu einer unfreiwillig auf einer Bahnhofstoilette in Klagenfurt verbrachten Nacht reicht die Palette der poetischen Schilderungen der persönlichsten Rückzugsorte des österreichischen Autors.

"Es ist jetzt der Moment, klarzustellen: Die so oder so stillen Orte haben mir nicht allein als Zuflucht, Asyl, Verstecke, Rückzugsgebiete, Abschirmungen, Einsiedeleien gedient. Zwar waren sie das zum Teil, von Anfang an. Aber sie waren, ebenfalls von Anfang an, zugleich etwas Grundanderes, auch mehr; viel mehr. Besonders dieses Grundandere, dieses viel Mehr hat mich ja bewegt zu dem Versuch hier, über es im Aufschreiben ein wenig, naturgemäß bruchstückhafte Klarheit zu schaffen."

Auch das bereits im Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht" beschriebene Haus des Autors ist Teil dieses meditativen Textes. Ein weiteres Refugium, das Generator für die stillen Gedanken Peter Handkes ist.

Fiktion, Reisebericht, Essay, Erinnerung, Erzählung - all das findet man in den Versuchen. Die poetische, im besten Sinne des Wortes, wunderschön feine Prosa ist Motor der stillen Genugtuung, diesen Text gelesen zu haben.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 07/2013)


Peter Handke: "Versuch über den Stillen Ort"
Suhrkamp, 2012. 109 Seiten.
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"Peter Handke - Siegfried Unseld. Der Briefwechsel"

Herausgegeben von Raimund Fellinger und Katharina Pektor.
Einen feierlichen Ton wählt Siegfried Unseld im Eingangssatz seines ersten Briefs an Peter Handke: "ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß wir nach genauer Lektüre Ihres Manuskriptes uns entschieden haben, Ihre Arbeit in den Suhrkamp Verlag zu übernehmen." Mit diesem Schreiben vom August 1965 setzt eine Korrespondenz ein, in der nach annähernd 600 Briefen Peter Handke dem Verleger zum 75. Geburtstag gratuliert: "Du bist und warst wie selten einer zum stillen, wohltätigen Dasein und Mitgehen (und Vorausschwimmen) fähig."
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Peter Handke: "Versuch über den Pilznarren"
Anno 2012 nahm Peter Handke mit seinem "Versuch über den Stillen Ort" die Reihe seiner Versuche wieder auf. Nur ein Jahr später beschließt er sie, endgültig, wie der Dichter selbst sagt, mit einem fünften und letzten erzählenden Essay, dem "Versuch über den Pilznarren" - worin die Pilze für den Helden der Geschichte nicht nur Passion, sondern das letzte Abenteuer, das Abenteuer an sich sind.
"'Und wieder wird es ernst!' sagte ich vorhin unwillkürlich zu mir selber, bevor ich mich auf den Weg zu dem Schreibtisch hier machte, wo ich jetzt sitze in der Absicht, mir über die Geschichte meines verschollenen Freundes, des Pilznarren, eine gewisse - oder eine eher ungewisse - Klarheit zu verschaffen. Und weiter sagte ich unwillkürlich zu mir selber: 'Das darf doch nicht wahr sein! Daß es sogar ernst wird beim Angehen und Niederschreiben einer Sache, welche doch wohl ganz und gar nichts Weltbewegendes an oder in sich hat'; einer Geschichte, zu welcher mir im Vorfeld (ein Wort, das einmal am Platz ist) dieses Versuchs der Titel eines jahrzehntealten italienischen Films in den Sinn kam, ich glaube, mit Ugo Tognazzi in der Titelrolle: 'Tragödie eines lächerlichen Mannes' - nein, nicht der Film selber, allein dieser Titel. Dabei ist die Geschichte meines ehemaligen Freundes nicht einmal eine Tragödie, und ob er jemand Lächerlicher war, oder ist: Schon das ist mir nun unklar, und wird und wird mir auch nicht klar; und wieder unwillkürlich sage und schreibe ich jetzt: 'Möge das auch so bleiben!'" (Suhrkamp)
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Leopold Federmair: "Die Apfelbäume von Chaville. Annäherungen an Peter Handke"

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Anna Kinder (Hrsg.): "Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen"
Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor hat Peter Handke das literarische und intellektuelle Leben der Bundesrepublik Deutschland bestimmt. Seit dem Jahr 1966, in dem sein erstes Buch bei Suhrkamp erschien, er bei der Tagung der "Gruppe 47" in Princeton Aufmerksamkeit erregte und sein erstes Theaterstück "Publikumsbeschimpfung" aufgeführt wurde, gilt er als Provokateur und "enfant terrible", aber auch als Garant sprachlicher Innovation. Formale Vielfalt und stilistischer Reichtum kennzeichnen sein Werk ebenso wie ein breites thematisches Spektrum.
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Thorsten Carstensen: "Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition"
Die romanische Architektur des Mittelalters als Vorbild für eine neue epische Erzählweise bei Handke.
Stets hat Peter Handke sein Schreiben auch als archäologische Auseinandersetzung mit einer ästhetischen Tradition begriffen, zu der neben Goethe und Stifter die moderne Landschaftsmalerei und das Kino John Fords gehören. Einen für Handke und die Narratologie gleichermaßen bedeutenden Aspekt hat die Forschung bislang nicht beachtet: die romanische Architektur des Mittelalters als Vorbild für eine neue epische Erzählweise. Thorsten Carstensen zeigt, wie Handke in den großen Reiseerzählungen seines Spätwerks ("Die Wiederholung", "Mein Jahr in der Niemandsbucht", "In einer dunklen Nacht", "Der Bildverlust", "Don Juan") mythische Urbilder des Daseins variiert, die er in den Skulpturen der Romanik aufbewahrt sieht. Anmut und Hingabe, Gelassenheit und Enthusiasmus - Gesten und Mimik romanischer Skulpturen verweisen für Handke auf ein ungebrochenes Verhältnis zur Welt, die er in seinen Texten beharrlich zu rekonstruieren versucht. Zugleich begegnet seine romanische Epik der exzessiven Beschleunigung des Lebens in der Spätmoderne mit Fantasien der longue durée, in der Gegenwart und Erinnerung zu einer heilsamen Zeiterfahrung zusammenfließen. (Wallstein)
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