(...) Es lag Schnee, der Himmel dehnte sich weit und klar, und die Luft schwirrte in durchsichtigem Blau, als sei die Stadt in einen gläsernen Briefbeschwerer gegossen.
In der Dämmerung nach dem Schneefall kletterte, gestützt auf einen dicken Stock, Lü Feng die Ruinen der alten Stadtmauer hinauf. Plötzlich fühlte er sich wie jemand, der in alten Zeiten von einem Felsvorsprung aus auf den Fluß in der Tiefe hinabsieht - wie das Wasser fließt die Zeit dahin, mußte er mit Konfuzius denken. Er war weit über zehn Jahre nicht auf diesem alten Stück Stadtmauer gewesen. Nichts hatte sich seither verändert, sie glich noch immer einem verwüsteten Wall aufgestapelter Steine. Oben war noch der gleiche Trampelpfad, den unzählige Füße plattgetreten hatten, standen die gleichen Bäume, die in den mehr als zehn Jahren keinen Zentimeter gewachsen zu sein schienen, breitete sich die gleiche weite Schneelandschaft aus, als sei sie in über zehn Jahren nicht geschmolzen, fand er die gleichen trockengelben Grasnarben vor, die auf den Frühling warteten. Als Kind hatte er Romane gelesen, die in den dreißiger, vierziger Jahren in dieser Stadt spielten, in der Zeit des antijapanischen Widerstands. Eine spannende Lektüre war das gewesen, jede Zeile hatte neue Phantasiebilder in ihm heraufbeschworen, und es war ihm vorgekommen, als sei da von einer anderen Stadt die Rede, weit entfernt und verschwommen. Und doch entsprachen die im Buch beschriebene Stadt und ihre Straßenzüge der Realität. Nur daß dieser Traum von einer Stadtmauer viele Jahre vor Lü Fengs Geburt eingerissen wurde und lediglich ein paar hundert Meter übriggeblieben waren. Weil Mao Zedong in jungen Jahren hier entlangspaziert war, so hieß es, hatte man dieses Stück, das zugleich als Begrenzung zu Park und Sportplatz diente, stehen gelassen. Als Kind war Lü Feng oft zu diesem Stück alter Stadtmauer gelaufen und hatte sich vorgestellt, wie die Heldinnen und Helden der Revolution hier früher Nachrichten austauschten, wie sie einerseits Untergrundarbeit leisteten, andererseits erste Liebeserlebnisse hatten. Und wie Mao Zedong allein dort gestanden hatte und im Herbstwind seinen Blick über die Stadt zu seinen Füßen schweifen ließ.
Manchmal hatte Lü Feng so lange über diese Dinge nachgedacht, daß er ganz traurig wurde und ihm die Tränen in die Augen stiegen. Beihe - was für eine sagenhafte Geschichte diese Stadt hatte! Vor seinem geistigen Auge erschien das Bild einer Stadt unter dem dunklen Mantel der Dämmerung. Unzählige Leben eilten unter den schweren Wolken hin und her, als brächten sie ein großartiges Epos zur Aufführung. Zahllose junge Männer und Frauen lebten ein hingebungsvolles Leben und starben einen großartigen Tod, so daß am Himmel über dieser Stadt eine Wolke intensiven Lebensgefühls zu wogen schien. Die reale Stadt indes war ruhig und friedlich. Deshalb hatte Lü Feng den sehnlichen Wunsch, daß die Zeit sich um einige Jahrzehnte zurückdrehen möge! Da war er selbst Teil des heißen Lebens gewesen, hatte an einer Studentenrevolte teilgenommen, Unterricht geschwänzt und Hand in Hand mit den anderen singend den Wasserwerfern der Polizei getrotzt. Nachmittage lang hatte er so geträumt und auf die Häuser und Straßen zu seinen Füßen gestarrt. Doch eigentlich wollte er an diese lang zurückliegenden Zeiten nicht mehr denken.

Die düstere Gasse, in der er als Kind gelebt hatte, legte mit ihren mächtigen Türen und Portalen Zeugnis ab von einer großartigen Vergangenheit. Doch die Höfe waren längst völlig verwohnt. Über zehn Familien wohnten mit je drei Generationen hier zusammengepfercht, von den verzierten Türrahmen und Balken war nicht mehr viel zu sehen, und die steinernen Löwen am Eingang waren meist zerbrochen und ohne Kopf. Die Menschen gingen daran vorbei und achteten nicht auf die verfallene Schönheit von einst. Als er 1978 auf die Universität kam, wollte Lü Feng mehr über seine Heimatstadt erfahren, und in der Bibliothek fand er ein halbes Regalbrett voller Bücher darüber. Er arbeitete eins nach dem anderen durch und fand heraus, daß diese verfallene Stadt auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurückblickte, daß hier in der Qing-Dynastie der Sitz des Generalgouverneurs gewesen war. Gedichte erzählen davon, daß sich damals ein Wassergraben um die Stadt gezogen hatte. Und das düstere Haus, aus dem Lü Feng als Kind immer hatte fortlaufen wollen, hatte in der Qing-Dynastie einmal zwei Schulen beherbergt. Später war dann der erste Zeitungsverlag der Stadt eingezogen. Inzwischen herrschte in der Gegend lebhafter Verkehr.
Wenn er als Kind von hier aus auf die Stadt blickte, hatte er das undeutliche Gefühl, er blicke auf einen gläsernen Briefbeschwerer, den er in die Hand nehmen könnte, um damit zu spielen. Von der Stadtmauer aus konnte man jeden einzelnen Fußgänger in den Straßen erkennen, jeden Hof und das Hinein und Heraus der Menschen. Nicht so heute. Beihe war in die Höhe gewachsen, überall ragten gerade und gleichförmig aussehende Häuser empor, und das Schachbrettmuster von früher war wie zu einem Klumpen verschmolzen. Die Stadt schien häßlich geworden. Lü Feng dachte, daß diese Häßlichkeit der Beginn einer Umwandlung zu neuer Schönheit sein könnte. So wie sich im Frühjahr die Haut an der Hand verändert: Wenn die Haut sich gerade abschält, sieht die Hand aus, als hätte man die Krätze, doch hinterher erscheint darunter neue Haut.
Damals war es Lü Fengs sehnlichster Wunsch gewesen, dieses Kaff zu verlassen. So klein er auch war, er verstand doch, daß es etwas ganz anderes gewesen wäre, wenn außer ihnen nur noch eine andere Familie in seinem Hof gewohnt hätte. Dann hätte er mit einer Stadtwohnung im Hochhaus nicht tauschen mögen! Er war mit seinen Eltern einmal bei einem hohen Kader gewesen, in einem großzügigen, schönen und ruhigen Hof mit fließendem Wasser, Küche und Toilette. Das hatte ihm sehr gefallen. Er haßte es, im Winter nach draußen aufs Klo zu gehen und Wasser zu holen. Seine größte Sehnsucht war die nach fließendem Wasser und einer Toilette im Hof.
Das Wasserholen war das Mühsamste. Mit zwölf Jahren mußte auch er damit anfangen. In einer Gasse gab es jeweils eine Wasserquelle. Im Winter erstarrte alles um die Wasserleitung herum zu einem einzigen Eisklumpen, und das Wasserbassin fror zwei Zoll dick zu. Im Frühjahr taute alles auf, und an der Wasserstelle entstand eine große Schlammwüste. Im Sommer wurde das Wasser in der Gegend knapp, und damit die Bauern ihre Felder wässern konnten, wurde den Städtern alle zwei bis drei Tage das Wasser abgestellt. Mitten in der Nacht konnte dann der Ruf ertönen »Es gibt Wasser!« Auf den Straßen herrschte dann bis zum Morgengrauen lebhaftes Gedränge wie auf einem Volksfest. Irgendwann gingen die Leute dazu über, ihre Eimer Schlange stehen zu lassen, so daß die halbe Straße voller Wasserkübel stand. Nachts delegierte jede Familie jemanden, der auf den Eimer aufpaßte. Da saßen die Abgeordneten dann auf ihren Tragstangen, warteten auf Wasser und plauderten. Wenn nach einer durchwachten Nacht das Wasser immer noch nicht angestellt worden war, ließen einige ihre Eimer dort stehen und gingen nach Hause. Oft genug passierte es dann, daß jemand den eigenen Eimer dazwischen schummelte, und wenn das bemerkt wurde, regnete es wüste Beschimpfungen, man griff zu den Tragstangen und prügelte sich, daß die Fetzen flogen. Häufig waren Nachbarn nur wegen des Schlangestehens um Wasser auf ewig verfeindet. Die Haushalte mit den meisten Männern waren die Könige, die Herrscher. Lü Feng erinnerte sich an die Familie Li gegenüber, die hatten sieben Töchter, und als das achte Kind auch ein Mädchen war, weinte Tante Li und schämte sich in Grund und Boden. Als ihr Mann wegen der Schlangesteherei in eine Schlägerei geraten war, hatten sie ihn auf dem linken Auge blind geprügelt und der Oma das Haar büschelweise ausgerissen.
(...)



aus "Das Klassentreffen" von Hei Ma
Ein großer Gesellschaftsroman über Chinas betrogene Jugend
Erinnerungen an die verlorene Jugend prägen diesen Roman, eine Jugend in China. Sie ist anders als wir sie kennen, über jeder Existenz hängt wie eine ewige Mahnung der Ruf der Partei. Sie ist dennoch genauso, wie wir sie kennen, angefüllt mit Verliebtheit, Verletzlichkeit und Lebensgier.
Nach 16 Jahren trifft sich die Klasse 95 wieder. Zu bestaunen sind chinesische Lebensläufe: der eine hat es mit dubiosen Geschäften zu Wohlstand gebracht, ist mit einer schönen Frau verheiratet und lädt nun ins beste Lokal am Platz, wo dem Anlaß gemäß europäisches Essen gereicht wird. Die Mitschüler von einst sind andere Wege gegangen, schlagen sich mühsam durchs Leben oder sind als angesehene Wissenschaftler aus dem Ausland zurückgekehrt. Doch noch immer sind ihre Beziehungen von Machtkämpfen geprägt, noch immer gibt es Eifersüchteleien und heimliche, unerfüllte Lieben und manchmal scheint es, als sei die Zeit stehengeblieben. Denn es geht nicht nur um Geld und Liebe. Die Erinnerung an einen alten Lehrer, der sie während der Kulturrevolution "zur Bewährung" aufs Land schickte, zeigt sie als Menschen, die um ihre Jugend betrogen wurden.
Die miteinander verwobenen Lebensgeschichten zeigen ein anderes Land - manchmal ist es fremd, manchmal vertraut, doch auf jeder Seite rückt es etwas näher. Hei Ma schreibt gegen alle China-Klischees. In seinem bilderreichen Gesellschaftsroman zeigt er die Geschichte dieses Landes an Einzelschicksalen. Das Land mag fremd sein, aber die Menschen sind es nicht. (Eichborn)

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