Joe Thorley: "Avril Lavigne - The Unofficial Book"

Wenn Rockmusik Geradlinigkeit, Spaß und Rebellion bedeutet, dann ist Avril Lavigne die Verkörperung dieses Lebensgefühls.


Praktisch über Nacht sagte die kanadische Newcomerin allen durchgestylten Popsternchen den musikalischen Kampf an. Klarer Gitarrensound statt schweißtreibende Tanzperformance, Jeans und Turnschuhe anstelle von Pelzstola und Strapsen. Verletzlichkeit und Sturschädel gegen gehypte Barbies. Ein Wagnis in Zeiten der MTV-Generation.

Risikobereitschaft hat Miss Lavignes Erfolgsgeheimnis immer schon ausgemacht. Als Schülerin wagte Avril einmal den sprichwörtlichen Sprung ins Ungewisse: Gemeinsam mit einer Freundin hüpfte sie von einer Brücke in den Fluss, ohne vorher in Erfahrung gebracht zu haben, ob das Wasser auch tief genug wäre oder ob verdeckte Felsen ihrem Sprung ein böses Ende bereiten könnten. Beim Aufprall am Wasser schrie Avril "Ich lebe!". Ein symbolträchtiger Satz für das knapp 20-jährige Energiebündel. Ähnlich unbekümmert betrieb sie Sport - und zwar Eishockey in der Jungenmannschaft (!). Zwei Jahre hintereinander wurde ihr der Titel "Wertvollster Spieler" verliehen. Als Flügelstürmerin Lavigne mit dem gegnerischen Tormann aneinander geriet, bannte ihr Vater John, seines Zeichens Angestellter bei einer Telefongesellschaft, das Ereignis auf Video. Bis heute ist er Stolz auf Avrils Kampfgeist.

Dabei begann alles so beschaulich, als Avril Lavigne im Zeichen der Waage am 27. September 1984 in Belleville, Provinz Ontario, das Licht der Welt erblickte. Die gläubigen Baptisteneltern sorgten für eine wohlbehütete Kindheit ihres Sprösslings. Als Avril fünf war, übersiedelten die Lavignes nach Napanee. Heute noch ist die Sängerin (und Ehrenbürgerin) stolz auf ihre Wurzeln; sie besingt das Städtchen im Titel "My World". Erste Bühnenerfahrung sammelte Avril im Kirchenchor, danach als Amateurschauspielerin in Musicals des Gemeindetheaters. Zuhause zog sie sich stundenlang in ihr Zimmer zurück, um Gitarrenakkorde zu üben. Jahre später erzählte man ihr von einem Radiowettbewerb, bei dem ein Auftritt mit dem Country-Star Shania Twain zu gewinnen wäre. Avril schickte selbstbewusst ein Demoband an den Sender und zog das große Los. Vor 20.000 Zusehern durfte sie gemeinsam mit Vorbild Shania "What Made You Say That?" zum Besten geben. Immer schon war es ihr Wunsch gewesen, eine "berühmte Sängerin" (O-Ton) zu werden. Nun war der erste Stein zur Sangeskarriere gelegt. Avril: "Es war der größte Kick meines Lebens. Ich trat auf die Bühne und war der glücklichste Mensch der Welt"

Ab dann ging es Schlag auf Schlag. Avril Lavigne schmiss die Schule und übersiedelte mit ihrem älteren Bruder Matt nach New York, ins Künstlerviertel Greenwich Village. Big Boss Antonio "LA" Reid war auf sie aufmerksam geworden, ein Mann, der mit Rockmusik eigentlich nichts am Hut hat, sondern aus dem R’n’B-Genre stammt. Bei einem Privatgig trug Avril ihm den Song "Why" vor und erhielt prompt einen Plattenvertrag über 1,9 Mio. Dollar. Reid plante eine Country-Karriere für das Girl aus der kanadischen Provinz, doch er machte die Rechnung ohne die Sängerin. Miss Lavigne produzierte im Tonstudio auf eigene Gefahr ganz einfach rockige Titel. Reid, dem ein gutes Näschen für erfolgversprechende Künstler nachgesagt wird, ließ sie gewähren. Der Erfolg in Gestalt der Debütsingle "Complicated" gab beiden recht. Avrils Management brach in wahre Euphorie aus, als die Nummer zum meistgespielten Lied der kanadischen Radiostationen avancierte. Alleine innerhalb von sieben Tagen erklang es stattliche 9.205 mal - ein unglaublicher neuer Rekord. Zudem heimste das Video zu "Complicated" eine Reihe von Preisen ein, darunter den begehrten MTV-Award "Best New Artist In A Video". Das war erst der Anfang des Siegeszuges. "I’m With You", "Losing Grip" und die Hymne "Sk8ter Boi", sollten den Erfolg prolongieren. Avril Lavigne schrieb bei allen Texten mit, brachte ihre Persönlichkeit voll ein: "Wenn ich mich über irgend etwas aufregen und es einfach rauslassen muss, dann gehe ich zu meiner Gitarre. Manchmal denke ich, meine Gitarre ersetzt mir den Therapeuten"

Als das Album "Let Go" im Juni 2002 in den USA erschien, stieg es in den Charts gleich von 0 auf 8, in Kanada sogar auf Platz 2. Innerhalb von nur zwei Wochen ging die CD in den Vereinigten Staaten 100.000 mal über die Ladentische. Nach fünf Wochen gab es Platin, in Kanada Doppelplatin. Vier Wochen später lagen die Verkaufszahlen alleine in diesen beiden Staaten bei einer Million verkaufter Tonträger. Bis Weihnachten 2002 kletterte die weltweite Marke auf zehn Mio. Exemplare. "Let Go" war das erfolgreichste Debütalbum des Jahres und das drittstärkste überhaupt. Wieder regnete es Preise von Amerika bis Singapur. Avril Lavigne hatte es geschafft, dem Nimbus des Rock neue Strahlkraft zu verleihen.

Trotz des Erfolges hat die 1,55 Meter große Beauty aus Napanee ihren Grip nicht verloren; die Bodenhaftung blieb. In der Mode wie im Leben setzt Avril bewusst auf Anti-Fashion. Krawatte zum Tank-Top oder schwarzer Nagellack sind das Höchste an Bühnenextravaganz. Avril legt Wert darauf, für ihre Musik gemocht zu werden, nicht für den Schnickschnack rundherum. Wenngleich Springerstiefel und Cargo-Hosen ein Faible fürs Rebellische erkennen lassen. Der an Wände gesprühte rote Stern, in Amerikas Musiksubkultur ein Hinweis darauf, wo illegale Straßenkonzerte abgehalten werden, wurde zu Avril Lavignes Logo. Aufmüpfig dürften auch die Verehrer der attraktiven Chanteuse sein. 2002 legte das Computer-Virus "Lirva" (Avril rückwärts geschrieben) Rechner in 107 Ländern lahm.

Joe Thorley hat den Karrierebeginn von Avril Lavigne knapp und schnörkellos zu Papier gebracht. Zwar erinnert der Schreibstil (zumindest in der deutschen Übersetzung) durch seine Schnoddrigkeit an bravo(u)röse Jugendmagazine, die großzügige Fotoauswahl lässt Fanherzen die Schlagzahl aber wieder erhöhen. Erstaunlich ist alleine schon die Tatsache, dass eine erst Zwanzigjährige bereits über einen Biografen verfügt. Erstaunlich, aber verdient, denn Avril Lavignes Karriere hat die nötige Authentizität, um nachhaltig, sprich "Anything But Ordinary", zu sein und mit den Jahren weitere Biografien folgen zu lassen. Das jüngst erschienene Album "Under My Skin" ist ein Beleg dafür, dass das Talent aus Napanee keine Sternschnuppe, sondern ein aufgehender Star ist.

(lostlobo; 07/2004)


Joe Thorley: "Avril Lavigne - The Unofficial Book"
Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2004. 128 Seiten, etwa 100 Abbildungen.
ISBN 3-89602-604-6.
ca. EUR 15,40.
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