Frankreich, 1866

1.

"Die Kinder! Nicht schießen!"
Es war zu spät. Das Gewehr brüllte auf und schlug gegen die Schulter des Jägers. Es war ein weiter Schuss, hundertfünfzig Meter oder mehr. Beinahe hätte er den Keiler nicht gesehen; durch den Wald war er kaum zu erkennen, denn Schatten und Sonnenlicht tanzten auf dem Laub des fernen Dickichts und verschluckten ihn fast. Alle andern hatten den Blick zum Himmel gerichtet, auf den Falken des Grafen, aber der Jäger hatte eine Bewegung gesehen, und da war er und wühlte nach Bucheckern: ein mächtiger Keiler, ein königlicher Keiler, ein bösartiger Teufel von einem Keiler. Selten in diesem Wald. Er beschloss sofort, ihn zur Strecke zu bringen.

Ein Anderer wäre weiter vorgerückt, um einen besseren Schuss anbringen zu können und das Tier nicht zu verfehlen oder, schlimmer noch, nur zu verwunden. Auf der extremen Entfernung beruhte der Unterschied zwischen einem guten Schuss und einem spektakulären Schuss, einem Schuss, der wegen seiner Ungewissheit desto erregender war, einem Schuss, an dem sich seine Waffe erwies und sein Talent und der ihm das Prahlrecht in der Schenke auf Monate hinaus sicherte. Er wusste, dass er es konnte, denn er kannte seine Waffe. Es war ein neues Repetiergewehr, wie es beim Militär in Gebrauch war. Der lange Lauf verlieh ihm eine bis dahin ungeahnte Treffgenauigkeit. Er hatte die Visiereinrichtung mit tausend Übungsschüssen perfekt justiert.

Er hob die Waffe und nahm sein Ziel aufs Korn. Der Warnruf des Grafen ließ ihn zusammenfahren, aber nur für einen Augenblick. Dann zielte er mit ruhiger Hand und drückte ab. Und schon da, schon bevor die Kugel den Lauf verlassen hatte, wusste er, dass er es geschafft hatte. Er brauchte es nicht zu sehen, um es zu wissen, brauchte den Aufschlag der Kugel nicht zu hören. Er wusste es einfach. Und eine Sekunde später war seine Gewissheit bestätigt: Er hörte ein klatschendes Geräusch und ein wütendes Schmerzquieken. Man sah raschelnde Bewegung, und das Tier verschwand im Unterholz.

Der Jäger jauchzte aufgeregt. Zum Teufel mit dem Grafen! Bei Gott, er hatte getroffen! Einen Keiler! Ein ganz unerwarteter Bonus, sehr viel besser als die vergleichsweise langweilige Jagd mit dem Falken. Er würde seine Trophäe bekommen, und es würde kein mickriger Vogel sein. Ohne sich nach den Anderen umzusehen - vor allem den Grafen wollte er jetzt nicht anschauen -, lief er über die Lichtung.

Graf Henri de Vries war Gastgeber einer Gruppe von Mitgliedern der Société Géographique, die hier die uralte Kunst der Falkenjagd miterleben wollten. Die Familie des Grafen hielt seit Generationen Falken, und sie jagten jetzt in einem Revier, das an sein Anwesen grenzte.
Henri hatte den Keiler schon vor dem Jäger gesichtet, und ungläubig hatte er gesehen, wie der Mann sein Gewehr in Anschlag brachte, denn in der Nähe spielten die Kinder. Als er das Schwein quieken hörte und die jähe Bewegung sah, waren seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Denn jetzt galoppierte der Tod durch den Wald.

Ohne ein Wort zu verlieren, ließ er seine Jagdgesellschaft stehen und lief zu seinem Pferd. Ein wilder Keiler war immer gefährlich, aber ein angeschossener war unberechenbar, ja mörderisch. Niemand war vor ihm sicher, nicht einmal ein bewaffneter Mann zu Pferde. Nicht solange der angeschossene Keiler noch lebte.

Der Graf schwang sich auf sein Pferd. Das Tier kannte seinen Reiter - es spürte die Gefahr und galoppierte los, noch ehe er richtig im Sattel saß. Sie jagten geradewegs auf die Stelle zu, wo der Keiler verschwunden war und einer fernen Lichtung entgegenflüchtete. Pferd und Reiter donnerten durch den Wald, unter den goldenen Eichen und Ulmen des großen Bois de Boulogne hindurch, der einst das Jagdrevier der Valois-Könige gewesen war. Henris Frau Serena saß im Schatten eines großen Baumes. Sie hatte nicht auf ihre Umgebung geachtet, überhaupt nicht. Normalerweise wäre sie mit Henri auf der Jagd gewesen. Aber sie war eine Tuareg, eine Frau der Wüste, und insgeheim lernte sie seit einer Weile Französisch zu lesen, die Muttersprache ihres Mannes. Sie hatte es ihm noch nicht erzählt. Auf eigene Faust hatte sie einen Tutor gefunden, einen Lehrer am Lycée in Paris, mit dem sie verstohlen lange Stunden verbrachte, auf die weitere Stunden einsamen Übens folgten. Nach und nach war eine neugefundene Liebe in ihr erwacht. Jede neue Geschichte hatte den Zauber verstärkt. Auf die Themen kam es gar nicht an. Henris Bibliothek war reich an wissenschaftlichen Zeitschriften.

Bei den meisten konnte sie die Worte und ihre Bedeutungen nicht erfassen, aber es gab auch Romane und Artikel und Essays. Deren Worte waren wie Musik und brachten ihr fast mystische Freuden, weil sie ihr neue Welten eröffneten. Sie hatte eine Inspiration. Bald hatte Henri Geburtstag. Dann würden sie Moussa zu Hause lassen und zusammen in den Wald reiten, zu einem abgelegenen Wasserfall am Rande des Anwesens. Sie würde ein Picknick mitnehmen, ein weiches, sonniges Fleckchen aussuchen und eine Decke auf dem Boden ausbreiten - nein, viele Decken, falls es kühl wäre, und dann würde sie ihm ein Glas Wein einschenken. Er würde den Kopf in ihren Schoß legen, und dann würde sie ihm vorlesen, und sie würde das überraschte Entzücken genießen, das sie in seinen Augen finden würde. Später würden sie dann miteinander schlafen. Es machte ihr großen Spaß, sich diesen Tag bis in die winzigsten Details auszumalen, und sie hatte ihre Bemühungen verdoppelt, um bereit zu sein. So war sie heute von der Lektüre ihres Victor Hugo gefesselt. Der Graf kam unerwartet heran und riss sie aus ihren Tagträumen.

"Die Jungen!" rief er, als er näher kam.
"Wo sind die Jungen?"

Sie hatte keine Ahnung, was geschehen war, aber die Dringlichkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. Verzweifelt sah sie sich um. Als sie die Kinder zuletzt wahrgenommen hatte, hatten sie in der Nähe gespielt ... aber wann? Vor einer Viertelstunde? Oder war es länger her? Sie war nicht sicher. Es war ein ruhiger Herbsttag. Sie waren einfach da gewesen, bei dem umgestürzten Baumstamm, und sie hatte keinen Grund gehabt, sich besondere Sorgen zu machen; sie spielten immer im Wald. Aber in einem schrecklichen Augenblick voll panischem Schuldbewusstsein wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung hatte, wann sie sie zuletzt gesehen hatte oder wohin sie gelaufen sein konnten.


(Aus dem Roman "Ikufar. Sohn der Wüste" von David Ball;
übersetzt von Rainer Schmidt.)

Als Comte Henri de Vries mit einem Heißluftballon über die marokkanische Wüste reist, kostet ihn seine Kühnheit beinahe das Leben: Nach einer Notlandung rettet ihn nur die Liebe der stolzen Tuareg-Prinzessin Serena vor den Wüstenkriegern, die den Eindringling töten wollen. Henri nimmt Serena mit nach Paris.
Einige Jahre später, als die Stadt von den Preußen belagert wird, kommt der Comte auf tragische Weise ums Leben, und seine Witwe kehrt mit ihrem kleinen Sohn Moussa nach Marokko zurück. Aus Moussa wird ein standesgemäßer Tuareg-Krieger, und doch bleibt er ein Leben lang ein Außenseiter: "Ikufar", der Ungläubige.
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